Als im Februar 2014 die Ergreifung des weltweit bekanntesten Drogenhändlers gelang, zog das Ereignis auch außerhalb von Mexiko viel Aufmerksamkeit auf sich. Ungleich mehr internationales Interesse erregte dann allerdings die spektakuläre Flucht von Joaquín El Chapo Guzmán aus dem 60 km westlich der Hauptstadt gelegenen Hochsicherheitsgefängnis Altiplano in den Abendstunden des 11. Juli 2015. Für die mexikanischen Medien handelt es sich um „die Flucht des Jahrhunderts“ (fuga del siglo). Diese Etikettierung erscheint alles andere als gewagt, wenn man die außergewöhnlichen bis geradezu unglaublichen Umstände und Details dieses Gefängnisausbruchs betrachtet. Der von den Komplizen des Anführers des Sinaloa-Kartells konstruierte Tunnel von ca. 1,5 km Länge, der El Chapo in die Freiheit führte, stellt unabhängig von seiner kriminellen Zweckbestimmung ein veritables Meisterwerk der Ingenieurskunst dar. Ohne die jahrzehntelange Erfahrung der Drogenschmuggler aus Sinaloa im Bau von Tunneln unterhalb der Grenze zu den USA wäre der Plan zur Befreiung von El Chapo durch einen unterirdischen Gang wohl kaum realisierbar gewesen.
Vor allem die Art und Weise dieser Flucht sowie die Tatsache, dass der Drogenboss im Jahr 2001 schon einmal aus einem Hochsicherheitsgefängnis entkommen war, erhöhten das Ausmaß der Blamage für die mexikanische Regierung auf ein Maximum. Galt die Festnahme von El Chapo im Februar 2014 als bislang größter Erfolg der Maßnahmen der Regierung Peña Nieto gegen das organisierte Verbrechen, entwickelte sich die Nachricht von dessen erneuter Flucht binnen weniger Stunden zu einem Desaster für das innenpolitische und internationale Prestige des mexikanischen Staatsapparats. Der enorme Ansehensverlust hätte sich nur dann vermindern lassen, wenn es den Sicherheitskräften geglückt wäre, den flüchtigen Kartellchef innerhalb relativ kurzer Zeit nach seiner Befreiung wieder hinter Gitter zu bringen.
Trotz intensiver Such- und Kontrollaktionen durch ein fünfstelliges Aufgebot an Polizisten und Soldaten, der Aussetzung eines hohen Kopfgelds sowie der Verbreitung von Fahndungsfotos und –flyern in Millionenauflage ist dies nicht gelungen. Mit jedem zusätzlichen Tag, den El Chapo seit dem 11. Juli auf freiem Fuß verbringt, scheint sich die Chance auf seine erneute Ergreifung verringert zu haben. Nachdem Guzmán Anfang 2001 aus der Haftanstalt Puente Grande (Bundesstaat Jalisco) entfliehen konnte, sollte es 13 Jahre dauern, bis er seinen staatlichen Häschern schließlich ins Netz ging. Zudem ist sein Kompagnon an der Spitze des Sinaloa-Kartells, El Mayo Zambada, bisher noch niemals gefasst worden. Von daher lässt sich die Wahrscheinlichkeit, dass El Chapo sich einmal mehr für längere Zeit seinen kriminellen Aktivitäten wird widmen können, wohl höher einstufen als die Chance auf einen kurzfristigen Fahndungserfolg der mexikanischen Strafverfolgungsbehörden.
Warum Joaquín Guzmán die Flucht gelang: eine fatale Mischung aus Korruption und Inkompetenz
Für die Professionalität der Tunnelbauer spricht insbesondere die Tatsache, dass der am Ende des Geheimgangs senkrecht nach oben getriebene 10 m hohe und mit einer Leiter ausgestattete Schacht exakt unter der engen Duschstelle in El Chapos Zelle ankommt – der einzige Bereich in dem kleinen Raum, der von der ununterbrochen sendenden Überwachungskamera (aus Gründen der Intimsphäre) nur partiell erfasst wird. Weil die Konstrukteure des Fluchttunnels die Baupläne des Gefängnisses gekannt haben müssen, stellt die Realisierung des Projekts nicht nur in technischer Hinsicht, sondern auch in punkto Informationsbeschaffung eine Meisterleistung dar. Die völlig außergewöhnlichen Umstände der Befreiung El Chapos legen den Schluss nahe, dass hier Korruption oder auch Androhung von Gewalt in einem erheblichen Umfang und auf verschiedenen Ebenen im Spiel war. Welche Ausmaße die Bestechung im konkreten Fall besaß und wie weit nach oben sie in der staatlichen Hierarchie vorgedrungen war, wird wahrscheinlich nie vollständig ans Licht kommen.Weil Korruption ein integraler Bestandteil des Geschäfts mit illegalen Rauschmitteln darstellt und weil Bestechung und Bestechlichkeit in Staat und Gesellschaft Mexikos traditionell weit verbreitet sind, besteht die Neigung, korrumpierende Praktiken auch dann zu vermuten, wenn das eigentliche Problem auf Inkompetenz und Ineffektivität beruht. Auch wenn letztere häufig nur scheinbar vorliegen, weil in Wirklichkeit Korruption dahintersteckt, treten diese Missstände durchaus auch in Reinform auf. Als Beispiel lässt sich die höchst professionelle Arbeit der Spurensicherung an Tatorten mit Todesopfern des gnadenlosen Konkurrenzkampfs der Drogenkartelle anführen, die im Regelfall völlig folgenlos bleibt, so dass die Geschichte der notorischen impunidad (Straflosigkeit) kontinuierlich fortgeschrieben wird.
Nüchtern betrachtet war El Chapo beim jüngsten Gefängnisausbruch in deutlich geringerem Maße auf Helfer innerhalb der Anstalt angewiesen als beim Entweichen aus Puente Grande im Jahre 2001. Damals hatte er sich in einem Transportkarren versteckt, der schmutzige Wäsche zur Abholung durch eine externe Wäscherei aus der Haftanstalt beförderte. Mehrere Dutzend Bedienstete der Einrichtung wurden der Beihilfe angeklagt und erhielten Haftstrafen.
Die mexikanische Regierung: Bis auf die Knochen blamiert
Zu den vielen Gerüchten, die seit der Flucht El Chapos in der mexikanischen Öffentlichkeit zirkulieren, gehört auch die Vermutung, die Befreiungsaktion sei von höchster Stelle wenn schon nicht initiiert, dann zumindest geduldet worden, weil der Drogenboss vor Gericht Informationen über sein Unterstützernetzwerk hätte preisgeben können, was zahlreiche Politiker und staatliche Amtsträger in arge Bedrängnis gebracht hätte. Der Logik dieser These folgend, ginge von einem El Chapo auf freiem Fuß eine geringere (politische) Gefahr aus als von einem inhaftierten. Verweist man diese Deutung in die Sphäre abwegiger Spekulationen, kann das Unheil, das der in sein kriminelles Metier zurückgekehrte Kartellchef anzurichten vermag, kaum die Dimension des politischen Imageschadens erreichen, den seine spektakuläre Flucht für die Regierung ausgelöst hat. Vor allem der Präsident selbst zog in dieser Angelegenheit viel Hohn und Spott auf sich. Er hatte nach der Verhaftung Guzmáns im Februar 2014 in einem Interview auf die Frage, ob eine neuerliche Flucht El Chapos denkbar sei, geantwortet, dies wäre, falls es geschehen sollte, ein „unverzeihlicher Fehler“, um im nächsten Satz zu versichern, dass von staatlicher Seite alles Mögliche getan werde, um eine Wiederholung der Geschehnisse von 2001 zu verhindern.Wenige Monate später hatte der damalige Generalstaatsanwalt, von Reportern auf die Möglichkeit einer Auslieferung des prominenten Kriminellen an die USA angesprochen, sich dahingehend geäußert, dass eine solche Option sich nur dann aufdrängen würde, wenn das Risiko einer Flucht aus dem Gefängnis bestünde. Der Botschafter Mexikos in den USA, Eduardo Medina Mora, der unter Peña Nietos Vorgänger das Amt des Generalstaatsanwalts bekleidet hatte, kommentierte die Frage eines neuerlichen Fluchtrisikos mit dem Sprichwort „Once bitten, twice shy“ (sinngemäß: einmal und nie wieder) und begründete seine Überzeugung mit dem Verweis auf Fortschritte, welche die Justiz seit dem Entweichen des Capos aus der Haftanstalt Puente Grande gemacht habe. Es war alles andere als verwunderlich, dass die politisch Verantwortlichen nach dem 11. Juli 2015 von den Medien bei jeder sich bietenden Gelegenheit an diese Aussagen erinnert wurden.
Im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger Calderón praktizierte Mexiko unter Präsident Peña Nieto bislang eine zurückhaltende Ausweisungspolitik. Unabhängig davon kam der Causa El Chapo ein ganz besonderer Symbolgehalt zu. Aus Sicht der PRI-Regierung hätte sich das Land vor der internationalen Öffentlichkeit eine Blöße gegeben, wenn der bekannteste aller mexikanischen Kriminellen an die USA überstellt worden wäre. Indem Guzmán in Mexiko selbst vor Gericht gestellt und abgeurteilt würde, wollte man nach innen und außen ein Zeichen der Souveränität setzen und gleichzeitig demonstrieren, dass der heimische Rechtsstaat an Leistungsfähigkeit gewonnen habe. Die Flucht El Chapos machte dieses Kalkül mit einem Schlag zunichte. Auch hierbei wirkten sich die außergewöhnlichen Umstände des Gefängnisausbruchs nicht unwesentlich auf die Dimension des Schadens für das Ansehen des gesamten staatlichen Systems der Strafverfolgung aus.
Das eklatante Versagen des Staatsapparats beschränkt sich indes nicht auf die Unfähigkeit, den Drogenboss hinter Gittern zu halten. Kurze Zeit nachdem er entwichen war, wurde bekannt, dass die Justiz während der Zeit seiner jüngsten Haft keine nennenswerten Erfolge bei der Erfassung und Beschlagnahmung der ungeheuren materiellen und monetären Reichtümer verzeichnen konnte, die er im Laufe seiner kriminellen Laufbahn angehäuft hat. Lediglich die in Culiacán im Frühjahr 2014 als dessen Eigentum identifizierten Immobilien sowie die dort befindlichen Wertgegenstände (Kraftfahrzeuge u.a.) wurden konfisziert. Unter Berufung auf Geheimdienstermittlungen bezifferte das investigative Wochenmagazin Proceso die Zahl der legalen Unternehmen, die von Strohmännern Guzmáns gemanagt und zumeist zur Geldwäsche genutzt werden, allein für Mexiko auf 242. Das US-Schatzamt, das seit 2007 Indizien und Informationen über das ausgedehnte finanzielle Imperium und die operativen Netzwerke El Chapos sammelt, kommt (bislang) auf insgesamt 288 Firmen, die in den unterschiedlichsten Branchen (Immobilien, Restaurants, Hotels, Agrarbetriebe, Fluglinien u.a.) aktiv und z.T. im lateinamerikanischen Ausland (u.a. Kolumbien, Ecuador, Guatemala) angesiedelt sind. Der bekannteste Drogenhändler der Welt dürfte daher auch der finanziell am besten ausgestattete flüchtige Straftäter auf dem Globus sein.
Die erfolgreiche Aktion zur Befreiung Guzmáns stellt den Kulminationspunkt in einer Reihe von medienträchtigen Ereignissen dar, die geradezu zwangsläufig eine Korrektur der innenpolitischen Agenda der Regierung Peña Nieto herbeiführen mussten. Der PRI-Präsident hatte seit Beginn seiner Amtszeit die Taktik verfolgt, der durch den blutigen Konflikt zwischen den Drogenkartellen hervorgerufenen Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit weniger offizielle Beachtung zu schenken als sein Vorgänger Calderón. Dadurch sollte die Bedrohlichkeit des Problems in der Wahrnehmung durch die Bevölkerung relativiert werden. Stattdessen propagierte Peña Nieto die Bekämpfung der Alltagskriminalität sowie vor allem Maßnahmen zur Verbesserung der Wirtschaftslage als prioritäre Anliegen seiner Amtszeit. Allmählich fallende Mordraten begünstigten diese politische Linie. Mit dem Skandal um den fragwürdigen Erwerb einer Villa durch seine Ehefrau begannen seine Popularitätswerte zu sinken.
Dieser Trend beschleunigte sich infolge der zögerlichen und hilflos anmutenden Reaktion der Regierung im Fall der 43 vermissten Lehramtsstudenten von Ayotzinapa (Bundesstaat Guerrero) im September 2014, der auch international für Aufsehen sorgte. Diese wurden von Mitgliedern eines regionalen Drogensyndikats verschleppt und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ermordet. Drei Monate zuvor waren in Tlatlaya (Bundesstaat Mexico) 22 angebliche Delinquenten durch das Militär getötet worden. Dazu kamen in der Folgezeit weitere Ereignisse, wie die Verschleppung von mindestens 17 Zivilisten in Chilapa (Guerrero) durch eine in der Region aktive Bande unter den Augen der lokalen Sicherheitskräfte im Mai 2015. Solche Vorfälle offenbarten die prekäre Situation der öffentlichen Sicherheit in vielen Landesteilen, die engen Verbindungen zwischen lokalen Amtsträgern und Gruppen des organisierten Verbrechens und mithin die immensen rechtsstaatlichen Defizite.
Wohl um zu demonstrieren, dass er sich den Problemen, die der Bevölkerung besonders am Herzen liegen, fortan ernsthafter widmen will, stellte der Präsident in seinem dritten Rechenschaftsbericht (1.9.2015) die Flucht Joaquín Guzmáns sowie den Fall Ayotzinapa ganz an den Anfang seiner Ausführungen. Ob die Ende September erfolgte Überstellung einer 13-köpfigen Gruppe ehemals hochrangiger Mitglieder diverser Drogensyndikate (darunter „El Coss“, früherer Chef des Golf-Kartells, sowie der in Texas geborene „La Barbie“, bis 2010 Anführer der Killertrupps der Beltrán Leyva-Bande) an die US-Justiz eine wirkliche Wende in der Auslieferungspraxis einleitet, bleibt vorerst unklar – kaum zu bezweifeln ist allerdings, dass Form und Zeitpunkt dieser Maßnahme wesentlich durch den fuga del siglo-Skandal beeinflusst wurden: Weniger den USA als primär der eigenen Bevölkerung sollte Handlungsfähigkeit signalisiert werden.
Peña Nieto deutet den Rückgang der Mordraten seit 2012 als Ergebnis diverser staatlicher Initiativen und Programme. Die spürbare Verminderung der Gewaltkriminalität in den Bundesstaaten entlang der Grenze zu den USA geht aber vor allem auf die relative Beruhigung einiger Konfliktherde im Kartellkrieg zurück, zu der die Maßnahmen der Regierung nur wenig beigetragen haben.
Die Reaktionen in der mexikanischen Gesellschaft
Wenige Stunden nachdem Radio- und TV-Stationen die ersten Meldungen über den Gefängnisausbruchs Guzmáns verbreitet hatten, tauchten im Internet die ersten narcocorridos (Musikstücke, in denen die Taten von bekannten Drogenhändlern bzw. –gangs besungen werden) auf, die das verblüffende Ganovenstück thematisierten. In den Tagen nach der Flucht fanden im online-Handel angebotene T-Shirts und Kappen mit dem Konterfei des flüchtigen Kartellchefs (nicht nur in Mexiko, sondern auch in den USA) reißenden Absatz. Dies sind wohl die skurrilsten Beispiele aus dem breiten Spektrum der Reaktionen auf das die mexikanischen Medien tagelang beschäftigende Ereignis.Auffällig war, dass in den dokumentierten Äußerungen und Kommentaren der breiten Öffentlichkeit und in diversen Internetportalen keineswegs Empörung, sondern eher Sarkasmus und schwarzer Humor vorherrschten. Dies lässt sich wohl als nachvollziehbare Reaktion einer Bevölkerung deuten, die das Vertrauen in die Funktionstüchtigkeit der politischen Institutionen längst verloren hat. Viele Menschen zeigten sich in Befragungen wenig überrascht, dass El Chapo ein zweites Mal aus staatlicher Obhut entwischen konnte. Schon nach dessen Ergreifung im Februar des Vorjahres hatte in Umfragen mehr als die Hälfte der Interviewten diese Möglichkeit als sehr wahrscheinlich bezeichnet. In einer Anfang August 2015 durchgeführten Befragung äußerten mehr als drei Viertel der interviewten Personen die Ansicht, Helfer aus dem Staatsapparat hätten Guzmáns Flucht möglich gemacht. Über die Hälfte schätzte die Chance, den flüchtigen Kriminellen erneut zu fassen, als äußerst gering ein.
Die öffentlichen Reaktionen bestätigten zudem, dass eine nicht unbedeutende Minderheit der Mexikaner eine gewisse Bewunderung für den Drogenboss hegt. Dies hängt zweifelsfrei mit dem mythischen Status zusammen, der El Chapo bereits vor seinem zweiten spektakulären Gefängnisausbruch anhaftete; während dieser Zeit soll der meistgesuchte Verbrecher des Landes lt. Medienberichten mehrfach seinen Verfolgern nur knapp entwischt sein. Ob die vielen über ihn kursierenden Geschichten allesamt der Wahrheit entsprechen, ist für die Legendenbildung relativ unerheblich. Aufgrund des ausgeprägten Mangels an Helden in der realen Politik ergötzt man sich auf makabre Weise an einem „Anti-Helden“. In seiner Heimatregion im Hochland Sinaloas gilt er u.a. aufgrund diverser wohltätiger Aktionen für die lokale Bevölkerung als eine Art Robin Hood. Dort verfügt er über ein zuverlässiges Netz an Vertrauten, Unterstützern und Informanten. In Culiacán hatten nach seiner letzten Verhaftung mehr als 1.000 Personen für seine Freilassung demonstriert. El Chapos öffentliches Image wird auch dadurch geprägt, dass er – zu Recht oder zu Unrecht – nicht persönlich mit Mordtaten in Verbindung gebracht wird und die von ihm angeführte kriminelle Vereinigung weniger stark in Alltagsdelikte (v.a. Entführung und Erpressung) verstrickt zu sein scheint als andere große Banden.
In Kombination mit der nicht enden wollenden Serie von Korruptionskandalen sind es einmal mehr die irreal erscheinenden Umstände von Guzmáns Flucht, die verständlich machen, dass ein nicht unbedeutender Teil der Bevölkerung bereit ist, allen möglichen abstrusen Thesen Glauben zu schenken, deren Logik den gesunden Menschenverstand Lügen straft. Dazu gehört z.B. die Behauptung, der im Februar 2014 Festgenommene und im Juli 2015 Geflohene sei nicht der wirkliche El Chapo, sondern ein Doppelgänger gewesen. In der bereits erwähnten Umfrage von Anfang August bezweifelten 40% der Befragten die offizielle Fluchttunnelversion und zeigten sich überzeugt, dass der Drogenboss die Haftanstalt durch den Haupteingang verlassen habe. Es wäre verfehlt, derartige Standpunkte schlicht als Ausdruck von Ignoranz abzutun, diese ist zwar fraglos präsent, vermischt sich hier allerdings mit einem indirekten Misstrauensvotum für die politisch Verantwortlichen.
Auswirkungen auf die Beziehungen zu den USA
Die Verärgerung in Washington über die schlechte Nachricht aus Mexiko war zweifellos sehr groß, nicht zuletzt deshalb, weil diverse staatliche Stellen der USA im Februar 2014 (insbesondere vermittels Geheimdienstinformationen) maßgeblich zur Ergreifung Guzmáns beigetragen hatten. Im Gegensatz zu vielen kritischen Stimmen aus dem Kongress oder von Seiten der Drogenbekämpfungsbehörde DEA (Drug Enforcement Administration) verzichtete die Administration Obama in ihrer offiziellen Reaktion auf negative Äußerungen und bot der mexikanischen Regierung stattdessen jede gewünschte Unterstützung bei der Suche nach dem geflohenen Drogenboss an. Von US-Seite war nach der Verhaftung El Chapos mehrfach Interesse an einer Auslieferung des Kartellchefs bekundet worden; nachdem aber mehrere hochrangige Repräsentanten der mexikanischen Exekutive und Judikative solchen Bestrebungen eine eindeutige Absage erteilt hatten, zögerte Washington die Übermittlung eines formalen Auslieferungsantrags hinaus. Als das Gesuch Ende Juni 2015 in Mexiko-Stadt einging, stand der Fluchttunnel kurz vor seiner Fertigstellung. Damals lehnte der zuständige mexikanische Richter den Antrag aus formalen Gründen ab. Drei Wochen nach der Flucht wurde das Gesuch erneut der Justiz vorgelegt; diesmal machte das Gericht den Weg für eine Auslieferung frei – für den Fall, dass der Capo des Sinaloa-Kartells erneut in Staatsgewahrsam geraten sollte.Der wesentliche Grund, warum die mexikanische Regierung das Angebot der USA ignorierte, umfangreiche Hilfe bei der Fahndung nach dem flüchtigen Drogenboss zu leisten (u.a. durch den Einsatz von Drohnen), entspringt wohl demselben politischen Kalkül, das der Erfüllung des US-Auslieferungsbegehrens entgegenstand: Hätte man das Unterstützungsangebot angenommen und El Chapo wenig später erneut stellen können, würde dies wahrscheinlich im In- und Ausland so wahrgenommen, als sei Mexiko alleine nicht in der Lage, eine solche Aufgabe zu meistern. Dabei schwang zweifelsfrei die Hoffnung auf einen baldigen Erfolg der eigenen Fahndungsmaßnahmen mit. Jenseits dieses aus mexikanischer Sicht besonders sensiblen Falls dürfte die bislang praktizierte Form der bilateralen drogenpolitischen Zusammenarbeit kaum Veränderungen erfahren - bis auf die erwähnte mögliche Neuorientierung in der Handhabung des Auslieferungsabkommens. Trotz des sich durch eine unendliche Serie von negativen Erfahrungen aufdrängenden Verdachts, dass bei der Flucht El Chapos im großen Maße Korruption im Spiel war, betonte DEA-Chef Rosenberg, dass es auf mexikanischer Seite genügend staatliche Institutionen gebe, mit denen man vertrauensvoll kooperieren könne – was könnte er öffentlich auch anderes sagen?
Neben der zwischenstaatlichen Relevanz hat die Figur des entflohenen Drogenbosses aus Sinaloa noch eine weitere Dimension für das Verhältnis der beiden so ungleichen Nachbarländer. Zumindest für den politisch konservativ eingestellten Teil der US-Bevölkerung und mithin für den Großteil der Wählerklientel der Republikaner – aber in einem unbekannten Maß wohl auch darüber hinaus - erscheint El Chapo als nahezu ideale Verkörperung all dessen, was man mit Mexiko an negativen Eigenschaften in Verbindung bringt: rückständig, gewalttätig, schlitzohrig, durch und durch korrupt, als Staat weitgehend funktionsuntüchtig. Nur kurze Zeit nachdem der republikanische Präsidentschaftsanwärter Donald Trump mexikanische Arbeitsimmigranten pauschal als Drogenhändler, Vergewaltiger und Kriminelle diffamiert hatte, bot der Skandal um die Flucht des Drogenbosses eine geeignete Folie, um diese Invektiven zu bestätigen. In letzter Konsequenz personifiziert er die vermeintliche Berechtigung der Furcht vieler weißer US-Amerikaner vor einer großen „braunen“ Invasion aus dem Süden. Der Gedanke, dass El Chapo in nicht unbedeutendem Maße auch ein Geschöpf der verfehlten Drogenpolitik der USA darstellt, vermag in das starre Gehäuse solcher Vorurteile, Simplifizierungen und Bedrohungsvorstellungen nicht vorzudringen.
El Chapo ist zurück: Was bedeutet dies für den mexikanischen Drogenkrieg?
In US-Medien kamen nach dem 11. Juli mehrfach frühere Mitarbeiter der DEA zu Wort, die auf die Frage nach den Konsequenzen von El Chapos Flucht einen Anstieg der Gewalt im Konflikt zwischen den Drogenbanden prognostizierten. Diese These lässt sich kaum dadurch in Frage stellen, dass es in den ersten beiden Monaten nach dem Vorfall keinerlei Anzeichen für einen solchen Trend gibt. Vielmehr liegt dieser Einschätzung eine massive Überbewertung der Machtfülle und des Handlungsspielraums eines einzelnen Drogenbosses zugrunde, auch wenn es sich bei El Chapo fraglos um den prominentesten und vielleicht auch den relativ wirkungsmächtigsten Repräsentanten des organisierten Verbrechens in Mexiko handelt. Die Triebkräfte, welche die Dynamik des Drogenhandelsgeschäfts und des rücksichtslosen Konkurrenzkampfs der Kartelle bestimmen, sind viel zu stark, träge und komplex, als dass sie vom Einfluss einer einzelnen kriminellen Führungsfigur nennenswert beeinflusst werden könnten.Nach der Verhaftung und während des 16-monatigen Aufenthalts von El Chapo gab es keine Indizien dafür, dass die Geschäfte des Sinaloa-Kartells schlechter liefen als zuvor – ganz im Gegenteil: Viele professionelle Beobachter der Szene schätzen die Organisation heute eher stärker ein als vor zwei Jahren. Die mexikanische Kartelllandschaft hat sich in den letzten zehn Jahren beträchtlich verändert. Dazu trug maßgeblich die durch massiven Gewalteinsatz ermöglichte Übernahme der ehedem von den Kartellen von Tijuana und Ciudad Juárez kontrollierten Grenzregionen durch das Sinaloa-Kartell bei. Sah es vor einigen Jahren noch so aus, dass allein die Los Zetas-Bande die Bastionen der Sinaloa-Organisation ernsthaft bedrohen könnte, hat erstere zwischenzeitlich deutlich an Einfluss und para-militärischer Schlagkraft verloren.
Heute gilt das Sinaloa-Kartell als die relativ stärkste unter den mexikanischen Drogenhandelsorganisationen. Keine andere kriminelle Gruppe schmuggelt mehr Marihuana, Kokain, Heroin und Methamphetamin über die Grenze zu den USA. Der Wettbewerbsvorteil gegenüber rivalisierenden Banden dürfte zumindest partiell in der besonderen Organisationsstruktur begründet sein, handelt es sich dabei doch um einen eher losen und flexiblen Zusammenschluss mehrerer Syndikate, weshalb auch oft die Bezeichnung „Föderation“ benutzt wird. Dieses Charakteristikum vermag wohl auch zu erklären, warum es im Gegensatz zu anderen Drogenbanden, deren Anführer verhaftet oder getötet wurden, im Sinaloa-Kartell nach dem Ausfall Guzmáns nicht zu einem Streit über die Nachfolge an der Spitze der Hierarchie kam. Dieser Umstand verleiht auch der Annahme, dass es sich bei El Chapo und El Mayo Zambada um zwei mehr oder weniger gleichberechtigte Führungsfiguren der Föderation handelt, zusätzliche Überzeugungskraft.
Insbesondere während der Amtszeit von Präsident Calderón (2006-2012) ließen rivalisierende Drogensyndikate immer wieder verlauten, dass El Chapo und das Sinaloa-Kartell über wichtige Unterstützer in der Regierung verfügen würden und deshalb in ungleich geringerem Maße als konkurrierende Gruppen von den staatlichen Gegenmaßnahmen betroffen seien. Die Tatsache, dass sich unter den Festnahmen im Drogenhandelsmilieu relativ wenige Angehörige der Sinaloa-Föderation befanden, fiel auch neutralen Chronisten des Drogenkrieges auf. Wenngleich die Ergreifung El Chapos nicht recht in dieses konspirative Deutungsschema passen will, hat seine Flucht am 11. Juli dem Generalverdacht einer engen Liaison zwischen dem Syndikat aus Sinaloa und staatlichen Stellen neue Nahrung zugeführt.
Laut einem umfangreichen Report der renommierten mexikanischen Tagesszeitung El Universal (6.1.2014) soll es in den vergangenen Jahren zahlreiche Kontakte zwischen Agenten der US-Drogenpolizei DEA und Führungsfiguren des Sinaloa-Kartells gegeben haben. Es ging dabei vordringlich um die Beschaffung von Informationen über konkurrierende Drogenbanden, die von den Sicherheitsbehörden beider Länder als weitaus gefährlicher als das Sinaloa-Kartell eingestuft wurden. Eine solche Vorgehensweise entspricht der vielfach geübten Praxis in der internationalen Terrorismusbekämpfung: man kooperiert mit Gruppen oder Regierungen, die als das vermeintlich kleinere Übel gelten. Würde man mehr über solche sinistren Kontakte, Absprachen und (temporären) Allianzen wissen, müsste ein Teil der Geschichte des mexikanischen war on drugs wohl neu geschrieben werden. Möglicherweise verlaufen die Fronten in diesem blutigen Konflikt gar nicht so, wie man es gemeinhin wahrnimmt, und vielleicht würde dann auch der jüngste Gefängnisausbruch El Chapos in einem anderen Licht erscheinen.
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