59,5
Millionen Menschen befinden sich nach Angaben der UN-Flüchtlingsbehörde
(UNHCR) weltweit auf der Flucht. Global gesehen ist heute jeder 122.
Mensch ein Binnen- oder Auslandsflüchtling. Wären alle Flüchtlinge
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger eines einzigen Landes, so wäre dieses
Land das 24-größte der Welt. In Deutschland hat sich ein teilweise
hysterischer Diskurs über die »Flüchtlingskrise« entwickelt, der von
»Willkommenskultur«-Rhetorik und bemerkenswertem zivilgesellschaftlichem
Engagement bis hin zu fremdenfeindlichem »Das-Boot-ist-voll«-Geschrei
und Brandstiftungen in Asylbewerberheimen reicht. Doch die eigentliche
»Flüchtlingskrise« spielt sich ganz woanders ab: Zwar steigt die Zahl
der nach Deutschland kommenden Flüchtlinge; aber nach Angaben des
Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge hat von Januar bis September
2015 nur ein kleiner Bruchteil aller Flüchtlinge weltweit in Deutschland
einen Asylantrag gestellt: 0,51 Prozent oder 303.443 Menschen. Denn die
meisten Flüchtlinge sind Binnenflüchtlinge, und die große Mehrzahl der
Auslandsflüchtlinge wird in benachbarten Staaten untergebracht und
versorgt. Entsprechend wäre bei allen kommunalen Belastungen mehr
pragmatische Sachlichkeit vonnöten.
Politik der USA und des »Westens« als Fluchtursache
Nur wie konnte sich die Zahl der Flüchtlinge von 37,5 Millionen im Jahre 2005 auf die oben genannte Zahl im Jahre 2014 fast verdoppeln? Der Vorsitzende des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung in München, Conrad Schuhler, argumentierte im neues deutschland vom 6. Oktober, dass »hauptsächlich die USA und ihre Verbündeten für die weltweiten Flüchtlingsströme verantwortlich« seien. Schuhler schreibt: Die Flüchtlinge seien »auf der Flucht vor Krieg, Vertreibung, politischer Verfolgung, unerträglicher Armut und den verheerenden Folgen des Klimawandels«. Bei allen diesen Fluchtursachen spiele »die Politik des ›Westens‹, angeführt von den USA, die herausragend negative Rolle«. Die USA und ihre Verbündeten hätten in drei der »vier Länder mit dem höchsten ›Kriegsstatus‹« – in Syrien, Afghanistan und Irak (das vierte ist der Süd-Sudan) – militärisch eingegriffen, »um von ihnen abgelehnte politische Regimes zu stürzen und auszutauschen«.
Tatsächlich kommen die meisten Flüchtlinge aus diesen Ländern. Allein von Syriens 22 Millionen Einwohnern sind knapp zwölf Millionen auf der Flucht – 7,6 Millionen innerhalb des Landes und 4,2 Millionen ins Ausland. Dabei tragen, worauf Knut Mellenthin in der jungen Welt (7.10.2015) hingewiesen hat, die Entwicklungsländer die größte Last bei der Unterbringung und Versorgung. So befinden sich nach Angaben des UNHCR 1,9 Millionen syrische Auslandsflüchtlinge in der benachbarten Türkei, 1,4 Millionen in Jordanien (einem Land mit nur rund acht Millionen Einwohnern), 1,2 Millionen im Libanon (einem Land mit nur 5,9 Millionen Einwohnern) sowie rund 250.000 im Irak und 134.000 in Ägypten.
Gegen Schuhlers These ist in ihrer allgemeinen Stoßrichtung nichts einzuwenden; und auch seine Kritik an der Neuorientierung der westlichen Politik in Syrien trifft im Wesentlichen zu. Deshalb lassen sich auch die Forderungen der neuen Fraktionsspitze der Linken im Bundestag oder Oskar Lafontaines, der am 23. September auf seiner Website schrieb, die Bundesregierung müsse die USA, die »den Nahen Osten in Brand gesetzt« hätten, dazu drängen, endlich mehr Verantwortung für die flüchtenden Menschen aus Syrien zu übernehmen, schlecht als »populistisch« oder gar »antiamerikanisch« abtun – wie von der bürgerlichen Presse teilweise versucht. Dass die Zunahme der weltweiten Flüchtlingszahlen in einem engen Zusammenhang mit den Kriegen und Konflikten im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika steht, liegt auf der Hand. Und man ist auch kein Freund der Regimes von Saddam Hussein, Baschar al-Assad oder Gaddafi, wenn man nüchtern feststellt, dass das Leben der Menschen in diesen Ländern sich durch die westlichen Kriege dramatisch verschlechtert.
Es gibt viele Arten zu töten
Statt Frieden und (relativer) Sicherheit herrschen in den genannten Ländern heute Krieg und Gewalt, denen fortwährend Menschen zum Opfer fallen: bis zu 249.000 im NATO-besetzten Afghanistan, bis zu 1,3 Millionen während der US-Besatzung im Irak, bis zu 30.000 in Folge des NATO-Bombardements, anschließenden Zerfalls und neuen Bürgerkriegs in Libyen und bis zu 330.080 in Syrien, wo inzwischen die halbe Welt an den täglichen Bombenangriffen beteiligt ist (neben den NATO-Ländern USA, Kanada, Frankreich, Großbritannien und Türkei auch Russland, Katar, Saudi-Arabien, Bahrain, Jordanien und die Vereinigten Arabischen Emirate). Die soziale Versorgung und die letzten Reste der alten arabisch-nationalistischen Wohlfahrtsstaaten sind weitgehend zusammengebrochen. Nach Angaben des United Nations Development Report, der die globale Entwicklung der Lebensqualität misst, sind heute – um nur ein Beispiel zu nennen – nur noch 44 Prozent aller Iraker Teil des Arbeitsmarktes, sehen 75 Prozent aller Iraker in der »Bekämpfung der Armut die wichtigste Notwendigkeit«, halten in einem der energiereichsten Länder der Erde mit einer täglichen Ölproduktion von 2,6 Millionen Barrel pro Tag 35 Prozent aller Haushalte die Gewährleistung der Elektrizitätsversorgung für das dringendste Problem öffentlicher Versorgung und leben 1,6 Millionen der 33,8 Millionen Iraker mit Verletzungen und Beeinträchtigungen in Folge von Landminen und Blindgängern.
Wie schon Brecht wusste, gibt es jedoch »viele Arten zu töten« und Menschen zur Flucht zu zwingen. Der Hebel der Kritik muss deshalb tiefer ansetzen– nämlich bei der (wirtschaftlichen und politischen) Integration und dem politischen Management des globalen Kapitalismus durch die Staaten des American Empire (zu dem Deutschland und die EU gehören). Zwar ist dieses Management tatsächlich immer wieder militärisch-gewaltförmig und spielen NATO-Kriege und Waffenexporte (nun durch Deutschlands außenpolitische Grundsatzentscheidung von 2014 auch ganz legal in Krisengebiete) zweifellos eine große Rolle, wenn Menschen flüchten müssen. Vorgeordnete Fluchtursachen sind jedoch Dinge wie die Durchsetzung von WTO-Klauseln zur Gleichbehandlung von inländischem und ausländischem Kapital, die die alten Entwicklungsstrategien des globalen Südens zunichtemachten; oder die – oft schuldenimperialistisch mit Weltbank- oder IWF-Strukturanpassungsprogrammen erzwungenen – »Freihandelsabkommen«, welche die Länder des globalen Südens im Interesse transnationaler Konzerne etwa mit hochsubventionierten Agrarprodukten überfluten. Die Folgen sind Landflucht-Binnenmigration, chaotische Urbanisierung, Massenarbeitslosigkeit und oft Staatszerfall bis hin zum (Ressourcen-)Bürgerkrieg. Im Hinblick auf die Flüchtlingszahlen ist es dann egal, ob man es hierbei mit faktischen Bürgerkriegen zu tun hat – wie etwa in der Demokratischen Republik Kongo, die Mitte der 1990er Jahre von Weltbank und IWF mit dem Schuldenhebel zu einem harschen Privatisierungs- und Austeritätsprogramm (Halbierung der Löhne und Massenentlassungen im öffentlichen Sektor) gezwungen wurde, sich 1997 dann den Handelsliberalisierungsbeitrittskriterien der WTO unterwarf und wo ein Jahr später der Staatszerfall in einen Ressourcenkrieg zur Kontrolle von essentiellen Handy- und Videospiel-Mineralien mündete, der nach Schätzungen der Hilfsorganisation International Rescue Committee 5,4 Millionen Menschenleben forderte. Oder ob die Bürgerkriege nur latent stattfinden – wie etwa in den Drogenkriegsgebieten, die im Zuge der »Freihandelsabkommen« NAFTA (1994) und CAFTA (2005) sich wie bösartige Krebsgeschwüre mit Metastasen von Mexiko über Guatemala bis Honduras verbreiteten, die seither die höchsten Mordraten der Welt aufweisen und von wo heute entsprechend die meisten neuen Flüchtlinge in den USA stammen. Zu Recht schrieb die Wirtschaftsredakteurin Ulrike Herrmann: »Wer künftige Flüchtlingskrisen vermeiden will, muss [›Freihandelsabkommen‹ wie] TTIP verhindern« (taz, 26.9.2015).
Kapitalismus als Fluchtursache
Ein Essential der Friedensforschung ist, dass Frieden weit mehr ist als bloß die Abwesenheit von Krieg. Und dass der Krieg schon längst gärt, wenn die Waffen noch kalt sind. Die Engführung der Debatte über Krieg als Fluchtursache verwischt den Zusammenhang zwischen Wirtschaftspolitik und Konflikt, zwischen Kapitalismus und Krieg. Und sie begünstigt die politische Unterscheidung zwischen Kriegsflüchtlingen mit verfassungsmäßigem Asylrechtsanspruch und »Wirtschaftsflüchtlingen«.
Sauber argumentieren heißt aber, klar zu erkennen, dass Syrien zwar stellvertreterkriegsmäßig von der halben Welt destabilisiert wird, die jetzt hier zwischenimperiale Auseinandersetzungen führt. Und doch ist der Bürgerkrieg selbst schließlich nicht unmittelbar vom Westen produziert, sondern letztlich ein Ergebnis des Arabischen Frühlings, das heißt eines zunächst einmal »inneren« politischen Prozesses, so wie es etwa auch der »Euromaidan« war. Ein innerer Prozess, der im Zusammenhang mit der gewachsenen Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Umbau des syrischen Staates unter Assad zu verstehen ist (so wie dieser zum Beispiel in den Arbeiten der Mittel- und Nahost-Forscherin Angela Joya von der Universität Oregon beschrieben ist). Der Imperialismus des »Westens« befeuert und nutzt lokale Konflikte und Bürgerkriege zu seinen Gunsten und investiert gemäß seiner »nationalen Interessen« finanziell, militärisch et cetera in die kämpfenden Kräfte; die Konflikte aber selber (und allein) aus eigener Kraft schaffen, das kann er nicht.
Globaler Kapitalismus und seine Krisen
Selbstverständlich hängen auch diese Bürgerkriegskonflikte letztlich mit der Verfasstheit des globalen Kapitalismus und seiner Krise zusammen: Die globale Krise vernichtete nach Angaben der International Labor Organisation (ILO) der Vereinten Nationen weltweit mehr als 50 Millionen Arbeitsplätze und steigerte die globale Massenarbeitslosigkeit 2009, auf ihrem bisherigen Höhepunkt, auf 239 Millionen Erwerbslose. Diese Entwicklung ließ aufgrund des daraus resultierenden Lohndrucks – mit Ausnahme einiger Schwellenländer – global die Lohnquoten, das heißt den Anteil der Löhne an allen in einem Land neu geschaffenen Werten (im Verhältnis zum Kapital), sinken. Nach seinem Besuch Libyens kurz nach der NATO-Bombardierung 2011 urteilte der damalige IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn, dass allein in der MENA-Region, das heißt im Nahen Osten und in Nordafrika, 80 Millionen Arbeitsplätze entstehen müssten, um diesen Krisenherd, wo aus den Hoffnungen des Arabischen Frühlings der blutige Arabische Winter wurde, langfristig befrieden zu können. Solange aber die WTO-Welthandelsordnung und das System der Investitionsschutzabkommen keine alternativen Entwicklungspfade jenseits der neoliberalen Weltmarktintegration (geschweige denn des Kapitalismus) erlauben, bleibt dies eine Utopie, die wohl weniger realistisch ist als die kommunistische Weltrevolution in den nächsten zehn Jahren. Realität ist hingegen die Dystopie des gegenwärtigen und zukünftigen Geringwachstumskapitalismus unter Austeritätsbedingungen und die hundertmillionenfache Perspektivlosigkeit vor allem von jungen Arbeiterinnen und Arbeitern. Es wäre deshalb ein fataler Fehler, sich für die »innere« Klassenkampf-Dynamik, die legitime Unzufriedenheit hinter Arabischer Frühling, »Euromaidan« et cetera, die im Zusammenhang mit den neoliberalen Politiken lokaler Regierungen und den Strukturzwängen des eisernen Käfigs neoliberaler Weltwirtschaftsordnung steht, blind zu machen. Zu oft führen eigene subjektive Ohnmacht angesichts der WeltUNordnungsverhältnisse und die Suche nach Gegenkräften zum westlichen Imperialismus zu einem bornierten Antiimperialismus, welcher der »Der-Feind-meines-Feindes-ist-mein-Freund«-Logik verfällt und sich Illusionen macht etwa über die Herrschaftssysteme der Assads, Husseins, Gaddafis – oder Putins, der jetzt leidenschaftlich in Syrien mitbombt. Die Alternative kann nur von unten und im Bündnis mit den internationalen Arbeiterbewegungen kommen.
Mit Brecht gesprochen besteht eben die »Schwierigkeit« darin, »Gewalt zu erkennen« – direkte und strukturelle Gewalt zu unterscheiden. Die historische Spezifik des Kapitalismus ist, dass in ihm (und im Gegensatz zu allen vorkapitalistischen Gesellschaften) Herrschaft abstrakt ausgeübt wird durch das, was Karl Marx im Ersten Band des »Kapitals« einmal den »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« genannt hat. Im Regelfall dominiert im Kapitalismus die anonyme Macht der Herrschaft des Gesetzes, das die kapitalistische Marktordnung aufrechterhält. Gewalt bleibt unsichtbar, weil sie – wie bei den »Freihandelsabkommen« – strukturell und indirekt ausgeübt wird. Die NATO-Kriege sind deshalb nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt; sie sind die direkte Gewalt, die die auf indirekter, auf struktureller Gewalt beruhende Eigentums- und Wirtschaftsordnung durchzusetzen oder – häufiger noch – wiederherzustellen versucht. Sie sind, wie zum Beispiel in Libyen, oft genug keine »Kriege ums Öl (oder Gas)«, sondern zerstörerische Feuerlöschaktionen zur temporären Bearbeitung der Systemwidersprüche und Eindämmung der (Ölpreis-, Flüchtlings- etc.)Konsequenzen von lokalen Verheerungen der kapitalistischen »Globalisierung«. Entscheidend wäre es deshalb in der Argumentation, die Arabischen Frühlinge mit all ihren komplexen, lokalen Unterschieden und dahinterstehenden spezifischen Klassenkämpfen konkret zu analysieren und selbst als einen Ausdruck und als die politische Artikulation der globalen Krise in der MENA-Region nach der globalen austeritätspolitischen Wende vom Frühling/Sommer 2010 zu entschlüsseln. Kurzum, nötig ist ein kluger Antiimperialismus, der auf einer Kapitalismus- und Imperialismustheorie auf der Höhe der Zeit fußt.
Politik der USA und des »Westens« als Fluchtursache
Nur wie konnte sich die Zahl der Flüchtlinge von 37,5 Millionen im Jahre 2005 auf die oben genannte Zahl im Jahre 2014 fast verdoppeln? Der Vorsitzende des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung in München, Conrad Schuhler, argumentierte im neues deutschland vom 6. Oktober, dass »hauptsächlich die USA und ihre Verbündeten für die weltweiten Flüchtlingsströme verantwortlich« seien. Schuhler schreibt: Die Flüchtlinge seien »auf der Flucht vor Krieg, Vertreibung, politischer Verfolgung, unerträglicher Armut und den verheerenden Folgen des Klimawandels«. Bei allen diesen Fluchtursachen spiele »die Politik des ›Westens‹, angeführt von den USA, die herausragend negative Rolle«. Die USA und ihre Verbündeten hätten in drei der »vier Länder mit dem höchsten ›Kriegsstatus‹« – in Syrien, Afghanistan und Irak (das vierte ist der Süd-Sudan) – militärisch eingegriffen, »um von ihnen abgelehnte politische Regimes zu stürzen und auszutauschen«.
Tatsächlich kommen die meisten Flüchtlinge aus diesen Ländern. Allein von Syriens 22 Millionen Einwohnern sind knapp zwölf Millionen auf der Flucht – 7,6 Millionen innerhalb des Landes und 4,2 Millionen ins Ausland. Dabei tragen, worauf Knut Mellenthin in der jungen Welt (7.10.2015) hingewiesen hat, die Entwicklungsländer die größte Last bei der Unterbringung und Versorgung. So befinden sich nach Angaben des UNHCR 1,9 Millionen syrische Auslandsflüchtlinge in der benachbarten Türkei, 1,4 Millionen in Jordanien (einem Land mit nur rund acht Millionen Einwohnern), 1,2 Millionen im Libanon (einem Land mit nur 5,9 Millionen Einwohnern) sowie rund 250.000 im Irak und 134.000 in Ägypten.
Gegen Schuhlers These ist in ihrer allgemeinen Stoßrichtung nichts einzuwenden; und auch seine Kritik an der Neuorientierung der westlichen Politik in Syrien trifft im Wesentlichen zu. Deshalb lassen sich auch die Forderungen der neuen Fraktionsspitze der Linken im Bundestag oder Oskar Lafontaines, der am 23. September auf seiner Website schrieb, die Bundesregierung müsse die USA, die »den Nahen Osten in Brand gesetzt« hätten, dazu drängen, endlich mehr Verantwortung für die flüchtenden Menschen aus Syrien zu übernehmen, schlecht als »populistisch« oder gar »antiamerikanisch« abtun – wie von der bürgerlichen Presse teilweise versucht. Dass die Zunahme der weltweiten Flüchtlingszahlen in einem engen Zusammenhang mit den Kriegen und Konflikten im Nahen und Mittleren Osten und Nordafrika steht, liegt auf der Hand. Und man ist auch kein Freund der Regimes von Saddam Hussein, Baschar al-Assad oder Gaddafi, wenn man nüchtern feststellt, dass das Leben der Menschen in diesen Ländern sich durch die westlichen Kriege dramatisch verschlechtert.
Es gibt viele Arten zu töten
Statt Frieden und (relativer) Sicherheit herrschen in den genannten Ländern heute Krieg und Gewalt, denen fortwährend Menschen zum Opfer fallen: bis zu 249.000 im NATO-besetzten Afghanistan, bis zu 1,3 Millionen während der US-Besatzung im Irak, bis zu 30.000 in Folge des NATO-Bombardements, anschließenden Zerfalls und neuen Bürgerkriegs in Libyen und bis zu 330.080 in Syrien, wo inzwischen die halbe Welt an den täglichen Bombenangriffen beteiligt ist (neben den NATO-Ländern USA, Kanada, Frankreich, Großbritannien und Türkei auch Russland, Katar, Saudi-Arabien, Bahrain, Jordanien und die Vereinigten Arabischen Emirate). Die soziale Versorgung und die letzten Reste der alten arabisch-nationalistischen Wohlfahrtsstaaten sind weitgehend zusammengebrochen. Nach Angaben des United Nations Development Report, der die globale Entwicklung der Lebensqualität misst, sind heute – um nur ein Beispiel zu nennen – nur noch 44 Prozent aller Iraker Teil des Arbeitsmarktes, sehen 75 Prozent aller Iraker in der »Bekämpfung der Armut die wichtigste Notwendigkeit«, halten in einem der energiereichsten Länder der Erde mit einer täglichen Ölproduktion von 2,6 Millionen Barrel pro Tag 35 Prozent aller Haushalte die Gewährleistung der Elektrizitätsversorgung für das dringendste Problem öffentlicher Versorgung und leben 1,6 Millionen der 33,8 Millionen Iraker mit Verletzungen und Beeinträchtigungen in Folge von Landminen und Blindgängern.
Wie schon Brecht wusste, gibt es jedoch »viele Arten zu töten« und Menschen zur Flucht zu zwingen. Der Hebel der Kritik muss deshalb tiefer ansetzen– nämlich bei der (wirtschaftlichen und politischen) Integration und dem politischen Management des globalen Kapitalismus durch die Staaten des American Empire (zu dem Deutschland und die EU gehören). Zwar ist dieses Management tatsächlich immer wieder militärisch-gewaltförmig und spielen NATO-Kriege und Waffenexporte (nun durch Deutschlands außenpolitische Grundsatzentscheidung von 2014 auch ganz legal in Krisengebiete) zweifellos eine große Rolle, wenn Menschen flüchten müssen. Vorgeordnete Fluchtursachen sind jedoch Dinge wie die Durchsetzung von WTO-Klauseln zur Gleichbehandlung von inländischem und ausländischem Kapital, die die alten Entwicklungsstrategien des globalen Südens zunichtemachten; oder die – oft schuldenimperialistisch mit Weltbank- oder IWF-Strukturanpassungsprogrammen erzwungenen – »Freihandelsabkommen«, welche die Länder des globalen Südens im Interesse transnationaler Konzerne etwa mit hochsubventionierten Agrarprodukten überfluten. Die Folgen sind Landflucht-Binnenmigration, chaotische Urbanisierung, Massenarbeitslosigkeit und oft Staatszerfall bis hin zum (Ressourcen-)Bürgerkrieg. Im Hinblick auf die Flüchtlingszahlen ist es dann egal, ob man es hierbei mit faktischen Bürgerkriegen zu tun hat – wie etwa in der Demokratischen Republik Kongo, die Mitte der 1990er Jahre von Weltbank und IWF mit dem Schuldenhebel zu einem harschen Privatisierungs- und Austeritätsprogramm (Halbierung der Löhne und Massenentlassungen im öffentlichen Sektor) gezwungen wurde, sich 1997 dann den Handelsliberalisierungsbeitrittskriterien der WTO unterwarf und wo ein Jahr später der Staatszerfall in einen Ressourcenkrieg zur Kontrolle von essentiellen Handy- und Videospiel-Mineralien mündete, der nach Schätzungen der Hilfsorganisation International Rescue Committee 5,4 Millionen Menschenleben forderte. Oder ob die Bürgerkriege nur latent stattfinden – wie etwa in den Drogenkriegsgebieten, die im Zuge der »Freihandelsabkommen« NAFTA (1994) und CAFTA (2005) sich wie bösartige Krebsgeschwüre mit Metastasen von Mexiko über Guatemala bis Honduras verbreiteten, die seither die höchsten Mordraten der Welt aufweisen und von wo heute entsprechend die meisten neuen Flüchtlinge in den USA stammen. Zu Recht schrieb die Wirtschaftsredakteurin Ulrike Herrmann: »Wer künftige Flüchtlingskrisen vermeiden will, muss [›Freihandelsabkommen‹ wie] TTIP verhindern« (taz, 26.9.2015).
Kapitalismus als Fluchtursache
Ein Essential der Friedensforschung ist, dass Frieden weit mehr ist als bloß die Abwesenheit von Krieg. Und dass der Krieg schon längst gärt, wenn die Waffen noch kalt sind. Die Engführung der Debatte über Krieg als Fluchtursache verwischt den Zusammenhang zwischen Wirtschaftspolitik und Konflikt, zwischen Kapitalismus und Krieg. Und sie begünstigt die politische Unterscheidung zwischen Kriegsflüchtlingen mit verfassungsmäßigem Asylrechtsanspruch und »Wirtschaftsflüchtlingen«.
Sauber argumentieren heißt aber, klar zu erkennen, dass Syrien zwar stellvertreterkriegsmäßig von der halben Welt destabilisiert wird, die jetzt hier zwischenimperiale Auseinandersetzungen führt. Und doch ist der Bürgerkrieg selbst schließlich nicht unmittelbar vom Westen produziert, sondern letztlich ein Ergebnis des Arabischen Frühlings, das heißt eines zunächst einmal »inneren« politischen Prozesses, so wie es etwa auch der »Euromaidan« war. Ein innerer Prozess, der im Zusammenhang mit der gewachsenen Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Umbau des syrischen Staates unter Assad zu verstehen ist (so wie dieser zum Beispiel in den Arbeiten der Mittel- und Nahost-Forscherin Angela Joya von der Universität Oregon beschrieben ist). Der Imperialismus des »Westens« befeuert und nutzt lokale Konflikte und Bürgerkriege zu seinen Gunsten und investiert gemäß seiner »nationalen Interessen« finanziell, militärisch et cetera in die kämpfenden Kräfte; die Konflikte aber selber (und allein) aus eigener Kraft schaffen, das kann er nicht.
Globaler Kapitalismus und seine Krisen
Selbstverständlich hängen auch diese Bürgerkriegskonflikte letztlich mit der Verfasstheit des globalen Kapitalismus und seiner Krise zusammen: Die globale Krise vernichtete nach Angaben der International Labor Organisation (ILO) der Vereinten Nationen weltweit mehr als 50 Millionen Arbeitsplätze und steigerte die globale Massenarbeitslosigkeit 2009, auf ihrem bisherigen Höhepunkt, auf 239 Millionen Erwerbslose. Diese Entwicklung ließ aufgrund des daraus resultierenden Lohndrucks – mit Ausnahme einiger Schwellenländer – global die Lohnquoten, das heißt den Anteil der Löhne an allen in einem Land neu geschaffenen Werten (im Verhältnis zum Kapital), sinken. Nach seinem Besuch Libyens kurz nach der NATO-Bombardierung 2011 urteilte der damalige IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn, dass allein in der MENA-Region, das heißt im Nahen Osten und in Nordafrika, 80 Millionen Arbeitsplätze entstehen müssten, um diesen Krisenherd, wo aus den Hoffnungen des Arabischen Frühlings der blutige Arabische Winter wurde, langfristig befrieden zu können. Solange aber die WTO-Welthandelsordnung und das System der Investitionsschutzabkommen keine alternativen Entwicklungspfade jenseits der neoliberalen Weltmarktintegration (geschweige denn des Kapitalismus) erlauben, bleibt dies eine Utopie, die wohl weniger realistisch ist als die kommunistische Weltrevolution in den nächsten zehn Jahren. Realität ist hingegen die Dystopie des gegenwärtigen und zukünftigen Geringwachstumskapitalismus unter Austeritätsbedingungen und die hundertmillionenfache Perspektivlosigkeit vor allem von jungen Arbeiterinnen und Arbeitern. Es wäre deshalb ein fataler Fehler, sich für die »innere« Klassenkampf-Dynamik, die legitime Unzufriedenheit hinter Arabischer Frühling, »Euromaidan« et cetera, die im Zusammenhang mit den neoliberalen Politiken lokaler Regierungen und den Strukturzwängen des eisernen Käfigs neoliberaler Weltwirtschaftsordnung steht, blind zu machen. Zu oft führen eigene subjektive Ohnmacht angesichts der WeltUNordnungsverhältnisse und die Suche nach Gegenkräften zum westlichen Imperialismus zu einem bornierten Antiimperialismus, welcher der »Der-Feind-meines-Feindes-ist-mein-Freund«-Logik verfällt und sich Illusionen macht etwa über die Herrschaftssysteme der Assads, Husseins, Gaddafis – oder Putins, der jetzt leidenschaftlich in Syrien mitbombt. Die Alternative kann nur von unten und im Bündnis mit den internationalen Arbeiterbewegungen kommen.
Mit Brecht gesprochen besteht eben die »Schwierigkeit« darin, »Gewalt zu erkennen« – direkte und strukturelle Gewalt zu unterscheiden. Die historische Spezifik des Kapitalismus ist, dass in ihm (und im Gegensatz zu allen vorkapitalistischen Gesellschaften) Herrschaft abstrakt ausgeübt wird durch das, was Karl Marx im Ersten Band des »Kapitals« einmal den »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« genannt hat. Im Regelfall dominiert im Kapitalismus die anonyme Macht der Herrschaft des Gesetzes, das die kapitalistische Marktordnung aufrechterhält. Gewalt bleibt unsichtbar, weil sie – wie bei den »Freihandelsabkommen« – strukturell und indirekt ausgeübt wird. Die NATO-Kriege sind deshalb nur die Ausnahme, die die Regel bestätigt; sie sind die direkte Gewalt, die die auf indirekter, auf struktureller Gewalt beruhende Eigentums- und Wirtschaftsordnung durchzusetzen oder – häufiger noch – wiederherzustellen versucht. Sie sind, wie zum Beispiel in Libyen, oft genug keine »Kriege ums Öl (oder Gas)«, sondern zerstörerische Feuerlöschaktionen zur temporären Bearbeitung der Systemwidersprüche und Eindämmung der (Ölpreis-, Flüchtlings- etc.)Konsequenzen von lokalen Verheerungen der kapitalistischen »Globalisierung«. Entscheidend wäre es deshalb in der Argumentation, die Arabischen Frühlinge mit all ihren komplexen, lokalen Unterschieden und dahinterstehenden spezifischen Klassenkämpfen konkret zu analysieren und selbst als einen Ausdruck und als die politische Artikulation der globalen Krise in der MENA-Region nach der globalen austeritätspolitischen Wende vom Frühling/Sommer 2010 zu entschlüsseln. Kurzum, nötig ist ein kluger Antiimperialismus, der auf einer Kapitalismus- und Imperialismustheorie auf der Höhe der Zeit fußt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen