Donnerstag, 28. Mai 2015

Faschismustheorien

Erklärungen des NS vorgestellt – Die Bonapartismustheorie Dieser Artikel bildet den Auftakt zu einer Reihe, welche die wesentlichen Faschismustheorien und Erklärungsansätze über den historischen Nationalsozialismus vorstellt und einordnet. In diesem ersten Beitrag stellen wir die Bonapartismustheorie vor. Fabian Kunow Rund um den 8. Mai 1995, den fünfzigsten Jahrestag der totalen Kapitulation Nazi-Deutschlands, war die antifaschistische Öffentlichkeit besorgt, dass mit diesem Datum der viel geforderte »Schlussstrich« unter die deutsche NS-Vergangenheit gezogen würde. Dieses Szenario trat allerdings nicht ein. Vielmehr beschäftigte sich die ambitionierte Öffentlichkeit weiterhin, wenn nicht sogar vermehrt mit der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945. Zeugnis legen davon das in Deutschland breit rezipierte Buch »Hitlers willige Vollstrecker« von Daniel Goldhagen, die sehr gut besuchte Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« I und II, die Diskussionen um das Holocaust-Mahnmal und eventuell andere zentrale nationale Mahnmale für die anderen NS-Opfergruppen. Zu nennen wären hier natürlich auch die weniger schönen Momente des Interesses an der deutschen Geschichte wie »der Brand« von Jörg Friedrich, der das deutsche Leid ins Zentrum rückte. Oder Guido Knopps seichte Unterhaltungssendungen wie »Hitlers Frauen« usw., welche mit leichtem Nazi-Gruselfaktor inklusive eine beachtliche Anzahl an Fernsehzuschauern nicht den Kanal wechseln lassen. Fest steht: NS sells! Allen diesen wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Arbeiten ist eines gemeinsam. Sie picken sich nur einzelne Aspekte der NS-Herrschaft und der breiten Verstrickungen mit dieser heraus und dokumentieren ihre Ergebnisse einem breitem Publikum auch jenseits der Historikerzunft. Keiner der oben genannten Historiker versucht hingegen allgemeiner den Nationalsozialismus als Gesellschaftsform und seine Entstehung bzw. seine Massenbasis zu erklären oder eine universelle Faschismustheorie als Möglichkeit des Vergleichs der verschiedenen Faschismen zu entwerfen. Dabei gibt es bekanntlich deutlich mehr als eine Faschismustheorie oder einen Erklärungsansatz des NS. In den verschiedenen Faschismustheorien spiegeln sich die unterschiedlichen politischen Standpunkte der urhebenden Wissenschaftler und ihrer Schulen wieder. Warum jetzt? Dabei hat die Auseinandersetzung mit einer Theorie des Faschismus – neben der Notwendigkeit des Interesses am Gegenstand an sich für jeden politisch bewussten Antifaschisten – wieder an Konjunktur zu gewinnen. Allein durch die Tatsache, dass wieder vermehrt Parallelen zwischen dem historischen Faschismus und der NS-Ideologie und aktuellen Regimes und Bewegungen gezogen werden. Gerade die aktuelle Renaissance der Kategorie Faschismus, welche nicht unbedingt aus der klassischen Linken kommt, stellt Antifaschisten vor neue theoretische Hürden. Nun gilt es zu prüfen, ob der Begriff des Faschismus/Nationalsozialismus überhaupt tauglich ist zur Kategorisierung heutiger (neuer) politischer Phänomene. Hierfür muss – oder besser gesagt müsste – jeder politisch aktive Antifaschist überhaupt erstmal ein überblickhaftes Bild von den verschiedenen relevanten Faschismustheorien/ Erklärungen des NS besitzen. Um dann den Vergleich anstellen zu können, egal, mit welchem Ergebnis dieser dann endet. Die Bonapartismustheorie und ihre Anwendung auf den Faschismus Als erster Schritt in diese Richtung soll hier die »Bonapartismustheorie« als Versuch einer marxistischen Faschismusdeutung vorgestellt werden. Mit Hilfe dieser versuchten u. a. der österreichische Sozialdemokrat Otto Bauer und der Kommunist August Thalheimer unabhängig voneinander, noch vor der Machtübernahme der Nazis in Deutschland das damals neue Phänomen der faschistischen Bewegung und ihrer Machtergreifung theoretisch zu fassen. Der Vordenker der österreichischen Sozialdemokratie und Mitbegründer des sogenannten Austromarxismus Otto Bauer griff ebenso wie der intellektuelle KPD-Dissident August Thalheimer auf die gesellschaftsanalytischen Beobachtungen von Karl Marx in dessen Werk »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« von 1851/52 und anderer Schriften von Marx und Engels zurück. Wann kann von bonapartistischer Herrschaft gesprochen werden? Für eine bonapartistische Machtübernahme ist zunächst eine existente bürgerliche Gesellschaft nötig, welche sich in der politischen Sphäre durch eine Gewaltenteilung in eine Exekutive (Exekutivgewalt), eine Legislative (eigenständiges Parlament) und eine Judikative (unabhängige Justiz) auszeichnet. Als ökonomische Basis besitzt die bürgerliche Gesellschaft die Marktwirtschaft. Die politische und die soziale Macht besitzen denselben Träger, die Bourgeoisie. Bonapartismus wird in der (marxistischen) Wissenschaft allgemein verstanden als die Ausschaltung der Legislative zu Gunsten einer starken Exekutivgewalt, womit sich das Bürgertum politisch selbst entmachtet zu Gunsten einer autoritären antidemokratischen Herrschaft, um ihre soziale Macht, in Form der Herrschaft über die Produktionsmittel, gegenüber einer starken sozialistischen Bewegung abzusichern. Aus diesem Grund lehnt beispielsweise der Historiker Wolfgang Wippermann richtigerweise den Begriff »Bonapartismus« für die Herrschaft Bismarcks ab, da es vor seiner autoritären Herrschaft keine eigenständige parlamentarische Legislative gab, die ihre Macht zu Gunsten Bismarcks verlor. Für die Weimarer Republik sind hingegen alle Vorausetzungen gegeben, die Machtübergabe an die NSDAP als bonapartistisch zu kennzeichnen – wenn denn so gewollt. Marx feines Soziologenauge In »Der 18te Brumaire des Louis Bonaparte« betreibt Karl Marx eine historische und vor allem soziologische Abhandlung der Ereignisse von 1848 – 1851 und des Beginns der despotischen Herrschaft Louis Bonapartes (Napoleon III.) in Frankreich. In seinem Text beschreibt Marx mittels des von ihm geschaffenen methodischen Zugangs, dem »historischen Materialismus«, warum sich welche gesellschaftlichen Akteure wie verhielten in dieser politischen Krisenzeit in Frankreich. Marx war dabei teilweise selbst Zeitzeuge dieser politisch sehr turbulenten, aber kurzen Zeitspanne. Marx teilt diese in drei Perioden ein – die Februarrevolution, die Periode der Konstituierung der Republik oder der konstituierenden Nationalversammlung und die Periode der konstitutionellen Republik und der legislativen Nationalversammlung. Diese drei aufeinander folgenden Perioden wurden abgelöst und beendet durch den »coup d` ètat« Bonapartes. Die Herrschaft Bonapartes wird im »achtzehnten Brumaire« nur zu ihrem Anfang bzw. während der Transformation in diese beleuchtet. In späteren Texten von Marx und Engels werden immer wieder Versatzstücke der Bonapartismustheorie aufgenommen und angewandt auf die Situation in anderen Nationen. Marx entwirft im »achtzehnten Brumaire« eine Staatstheorie, welche sich klar abhebt von der im Kommunistischen Manifest getätigten Aussage, »die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der Bourgeoisklasse verwaltet«. Im »18ten Brumaire« hingegen wird der moderne (französische) Staat in Form seiner Exekutive als »eine ungeheure bürokratische und militärische Organisation« beschrieben, in welche alle gesellschaftlichen Interessensgruppen drängen, als ein immer größer werdender Apparat, je ausdifferenzierter das gesellschaftliche Gefüge wird. Dieser aufgeblähte Apparat entwickelt ein Eigenleben und wird selbst zum gesellschaftlichen Akteur. Bei einem »Gleichgewicht der Klassenkräfte« kann sich der gesellschaftliche Akteur Staat von der bürgerlich-republikanisch verfassten Gesellschaft verselbständigen, um mit den Mitteln seines Gewaltapparates selbst diktatorisch zu herrschen. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik Louis Bonapartes würde heute wohl am ehesten mit dem Begriff des »Populismus« charakterisiert werden. Anwendung der Bonapartismustheorie auf das faschistische Italien Verschiedene sozialistische AutorInnen bemühten die Analyse von Karl Marx, welche er im »achtzehnten Brumaire« niederschrieb, in der ersten Hälfte der 1920er Jahre zur Erklärung des neuen gesellschaftlichen Phänomens »Faschismus«, welches in Italien ab 1922 an die Schalthebel der politischen Macht gelangt war. So schrieb die Sozialistin Oda Olberg schon 1923, dass es im italienischen Faschismus zu einer Verselbständigung der Exekutive gekommen sei und der Faschismus nicht nur als »Handlanger der regierenden Clique« angesehen werden könne, da er über eine eigene soziale Basis verfüge. So stelle der Sieg des italienischen Faschismus für das Bürgertum keinen Sieg da, »obwohl er eine Niederlage des Proletariats« gewesen sei. Gerade die Überlegungen zur Verselbständigung der Exekutivgewalt fanden bei vielen sozialistischen Intellektuellen in den zwanziger Jahren Anklang. Der meist diskutierte Aufsatz dürfte der des österreichischen Linksintellektuellen und Vordenkers und Vorsitzenden der SPÖ Otto Bauer, »das Gleichgewicht der Klassenkräfte« aus dem Jahre 1924 sein. Bauer sah in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg in fast allen europäischen Ländern ein »Gleichgewicht der Klassenkräfte«. Die Bourgeoisie herrschte zwar noch sozial-ökonomisch, konnte ihre Macht aber nicht auch überall politisch gegen die starke Arbeiterbewegung komplett durchsetzen. Dieses Gleichgewicht, das in den einzelnen Ländern sich verschieden zusammensetzt, führe aber zu verschiedenen Zuständen in der Sphäre der Politik. Bauer sah einige Staaten in einer Übergangsphase zu einem Arbeiterstaat, in anderen Ländern kam es zu einer Teilung oder Koalisierung der Macht zwischen den Arbeiter- und Bourgeoisieparteien. In Italien sei mit dem Faschismus »das Gegenstück des französischen Bonapartismus« an die Macht gekommen und habe »eine Diktatur über alle Klassen« errichtet. Der Aufsatz Otto Bauers besitzt eine solche Relevanz, da er nicht nur in der Sozialistischen Internationale breit diskutiert wurde. Auch war er die einzige Überlegung zur Erklärung des Faschismus auf Grundlage der Bonapartimustheorie, welche von ihrem Gegner Georgi Dimitroff namentlich erwähnt wurde. Für Dimitroff, wie für die meisten an der Sowjetunion orientierten Kommunisten, war der Faschismus bekanntlich die »offene, terroristische Diktatur der am meisten chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« (Dimitroff) und nicht die sich verselbständigende Exekutive. Bauer änderte 12 Jahre später in seinem im Exil erschienenen Buch »Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus« teilweise seine von der Bonapartismustheorie geprägte Faschismusanalyse. Bauer wurde soziologisch und historisch genauer bei der Betrachtung des italienischen Faschismus, der damals schon weit über zehn Jahre herrschte, und des deutschen Faschismus, welcher sich inzwischen fest etabliert hatte. Den Prozess des an die Machtkommens des italienischen, wie des deutschen Faschismus zeichnete er nach wie Karl Marx den Werdegangs Louis Bonapartes. Bauer legte im Gegensatz zu Marx im »18ten Brumaire« mehr Wert auf die prozesshafte Entwicklung der faschistischen Basis und ihrer ideologischen Versatzstücke, zum Beispiel ihres Antikapitalismus. Zudem weicht Bauer bei der Analyse des Faschismus nach dessen »Bewegungsphase« von den Überlegungen Marx' zum Bonapartismus ab. Hier kommt er der Analyse der Komintern deutlich entgegen, wenn er für den fest im Sattel sitzenden Faschismus, welcher sich teilweise seines Antikapitalismus entledigt hatte, in Deutschland nach der blutigen Beseitigung des nationalrevolutionären SA-Flügels am 30. Juni 1934, zu dem Schluss kommt: »Unter der faschistischen Diktatur üben Großkapital und Großgrundbesitz ihre Diktatur aus, indem sie sich der regierenden Kaste bedienen, die durch den Sieg des Faschismus zur Macht gelangt ist.« August Thalheimer Der Vorsitzende der KPD und spätere KPD-Dissident August Thalheimer veröffentlichte mehrere Artikel zum Theoriekomplex »Faschismus« in der Zeitschrift »Gegen den Strom«. Diese Zeitschrift wurde von der KPD-Abspaltung KPD-Opposition, welcher auch Thalheimer angehörte, herausgegeben. Die KP-O, von ihren Spöttern KP-Null genannt, war im Gegensatz zur KPD nicht Moskau-hörig. Ihre deutlich kleinere Basis, sie lag im Bereich einiger Tausend Mitglieder, bestand vor allem aus mit dem offiziellen KPD-Kurs unzufriedenen Intellektuellen. Sie besaß nur einige regionale Hochburgen. Thalheimer schrieb 1930 die Artikelreihenfolge »Über den Faschismus« in der Zeitschrift »Gegen den Strom«. Gleich zu Beginn macht Thalheimer deutlich, dass um die Überlegungen und Beobachtungen von Marx zur Machtergreifung und Herrschaft Louis Bonapartes auf den italienischen Faschismus und eine potenzielle faschistische Bedrohung in anderen bürgerlichen Staaten anzuwenden, die Unterschiede zwischen Faschismus und Bonapartismus herausgearbeitet werden müssen. Faschismus und Bonapartismus seien nicht genau analog, aber beide seien verwandte Erscheinungen. Ihre Verwandtschaft bestehe neben den gleichen Wesenmerkmalen in ihrer internationalen Dimension. Faschismus und Bonapartismus seien internationale gesellschaftsanalytische Kategorien, mit denen jeder bürgerliche Staat untersucht werden könne. Faschismus war für Thalheimer keine nationale Besonderheit. Der Faschismus sei aber nicht die »schließende Form« bürgerlicher Herrschaft, da die viel weiter entwickelten kapitalistischen Ländern wie die USA oder England keinen Faschismus ausgebildet hatten. Faschismus trete in den Ländern auf, in der die Bourgeoisie existenziell durch eine proletarische Revolution bedroht sei, so dass eine offene Form der kapitalistischen Diktatur zu deren Rettung nötig sei. Hier würden sich Bonapartismus und Faschismus treffen. Statt als die offene Form der Diktatur der Bourgeoisie sei der Faschismus nur als eine mögliche Form zu beschreiben. Der Faschismus sei die zeitgemäße Form einer kapitalistischen Diktatur auf dem Stand der kapitalistischen Entwicklung in seiner Zeit. Die Form der Staatsmacht unterscheide den Faschismus von anderen Formen bürgerlicher Herrschaft in seiner Epoche, genauso wie Bonapartismus sich von anderen Formen bürgerlicher Herrschaft in seiner Zeit unterschied. Offene Formen bürgerlicher Diktatur kehren für Thalheimer periodisch wieder, sie sind also keine einmaligen Erscheinungen. Sie kehren wieder, wenn es zu einem bestimmten Gesamtverhältnis der Klassen kommt, dem »Gleichgewicht der Klassenkräfte«. In anderen Ländern, wo es zu keiner offenen Form bürgerlicher Diktatur kommt, sei die Bourgeoisie einfach sozial und politisch zu stark. In diesen Staaten brauche die Bourgeoisie niemanden, der für sie für Ruhe und Ordnung sorgt. Thalheimer verglich empirisch die Wesenmerkmale, in denen sich Bonapartismus und Faschismus gleichen. Bei beiden werden politisch alle unter die diktatorische Staatsmacht unterworfen. Gleichzeitig versucht der Faschismus wie der Bonapartismus als Wohltäter aller Klassen aufzutreten, was zu Widersprüchen im Inneren führt. Der faschistische wie der bonapartistische Staat versuchen sich als Vermittler zwischen Bourgeoisie und Proletariat bei gleichzeitigem politischen Unterdrücken von beiden und sozialer Herrschaft der Großbourgeoisie. Geführt wird der Staat jeweils von einem »Emporkömmling«. Die faschistische Partei in Italien sei wie die Organisation der »Dezemberbande« Bonapartes ein Sammelbecken für Deklassierte aller Klassen. Die faschis tische Partei sei aber im Gegensatz zur »Dezemberbande« eine echte Massenbewegung. Zudem müsse der Faschismus immer einen imperialistischen Charakter haben aufgrund der Weiterentwicklung der Produktivkräfte zum Frankreich Bonapartes. Thalheimer geht im gleichen Text auf die Situation in anderen Ländern ein. Er macht deutlich, dass nicht jede Diktatur oder Staatsstreich der Bourgeoisie bonapartistische oder faschistische Züge trage. Viel mehr wäre der Faschismus eine bestimmte Form der Staatsmacht, welche es nicht in allen Diktaturen gebe. Er setzt sich also für eine klare, fest umrissene Faschismuskategorie ein. Dieses ist Thalheimer auch in anderen Texten wichtig. So tritt er dem unsäglichen Begriff des »Sozialfaschismus« entgegen, welchen die Moskauhörige KPD bis zu dessen Widerruf durch die Komintern 1935 für die Sozialdemokratische Partei verwendete entgegen. Er war gegen einen inflationär benutzten Faschismusbegriff, wie die KPD ihn zum Ende der Weimarer Republik gegen alle ihre politischen Gegner in Stellung brachte. August Thalheimer war neben einem Faschismustheoretiker auch ein guter Chronist seiner Zeit, der neben dem frühen Erkennen der Gefahr, welche von der in den 1920er Jahren noch mickrigen NSDAP ausgehen könnte, auch erkannte, was für eine Gefährdung von der Stärkung des Reichspräsidenten für die Weimarer Republik ausging. Hier erkannte Thalheimer gut das prozesshafte »Verselbständigen der Exekutivgewalt«. Die Mehrheit seiner Prognose, wie die Weimarer Republik enden würde, trat so auch ein. Er wusste durch seinen klaren Faschismusbegriff auch, was für eine Zäsur für Kommunisten und andere Sozialisten eine Herrschaft der NSDAP werden würde. Die KPD dachte hingegen, dass Hitler nur eine kurze Zwischenetappe auf dem Weg zur proletarischen Revolution unter ihrer Führung sei. Thalheimer wie auch Dimitroff und mit ihm die Sowjetunion irrten aber mit der Annahme, dass die faschistischen Parteien an ihren eigenen inneren Widersprüchen zerbrechen würden. Der Faschismus in Deutschland wie in Italien zerbrach bekanntlich nicht, sondern hielt sich sehr gut bis zu seiner militärischen Niederlage, welche ihm von außen beigebracht werden musste. Thalheimers Erben Mit Thalheimers Analyse des Faschismus setzen sich ab den 1960er Jahren antifaschistische Intellektuelle aus Westdeutschland auseinander. Seine Gedanken finden sich wieder in der »Marburger Schule« Wolfgang Abendroths und seiner Schüler. Die »Marburger Schule« prägt das Faschismusbild der westdeutschen Linken und später der gesamten Antifabewegung. Gerade die prozesshafte Entwicklung der Selbstentmachtung der bürgerlichen Demokratie hin zu einer starken Exekutive in Form des Reichspräsidenten fand in der Neuen Linken Westdeutschlands eine starke Rezeption. Sie drückte sich in der Angst vor einer »Faschisierung« der BRD aus. Der Begriff der »Faschisierung« ging einher mit einer Trennung des Faschismus in einen »Faschismus von Oben« und einen »Faschismus von Unten«. Mit »Faschismus von Unten« waren Bewegungen, Parteien, »Banden«, welche auf der Straße aktiv waren, gemeint. Als »Faschismus von Oben« galt die Etablierung einer autoritären Ordnung auf parlamentarischen Wege durch ein ständiges Stärken der Exekutive, die nicht mehr von der Gesellschaft kontrolliert würde bzw. werden könne. Dieses führte zu einer Angst, die in jeder Verschärfung beispielsweise eines Polizeirechts einen neuen Faschismus aufziehen sah und mit dieser alarmistischen Befürchtung agitierte, statt solche Gesetzverschärfungen an sich zu kritisieren bzw. festzustellen, dass sich gleichzeitig bestimmte gesellschaftliche Bereiche liberalisierten und zum Besseren änderten. Kritik Mit dem der Bonapartismus-These von Marx und ihren Anwendern auf den historischen Faschismus entnommenen Konstrukt der »Verselbständigung der Exekutivgewalt« und ihrer Kaperung durch eine Partei bzw. Bewegung konnte und kann heute noch viel über das Wesen der Herrschaft des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus erklärt werden. Die im NS herrschenden Ideologien wie der eliminatorische Antisemitismus werden leider nicht genug berücksichtigt. Hier muss aber zur Verteidigung Bauers und Thalheimers, die den Antisemitismus falscherweise nur als taktisches Ablenkungsmanöver gesehen haben, der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichungen angeführt werden. Ihre Anwendung der Bonpartismus-Theorie erfolgte in den 1920 und 1930er Jahren. Der Vernichtungsantisemitismus als wesentlicher Teil des NS-Staatsprogramms war in dieser Form damals noch nicht absehbar. Leicht gerät bei der bonapartistischen Lesart des historischen Faschismus aus dem Blickwinkel, dass der Faschismus und im Besonderen der NS über eine Massenbasis und Verankerung in der Bevölkerung verfügten. Selbst noch im Angesicht der absehbaren totalen militärischen Niederlage reichte die Begeisterung für das faschistische Gesellschaftsprojekt weit über den engen Kreis der Nazi-Funktionäre hinaus. Die Wahrnehmung der Deutschen als relativ funktionierende Volksgemeinschaft war nicht nur ein ideologisches Hirngespinst einiger Parteimitglieder. Der NS war einfach mehr als nur die Diktatur der »verselbständigten Exekutivgewalt«. Fabian Kunow widmet sich dem Vergnügen, dem Sport und dem Studium der Sozialwissenschaften in Berlin Literatur · Bauer; Otto (1924): »Das Gleichgewicht der Klassenkräfte«. In: »Otto Bauer Werksausgabe« Band 9. (Hrsg.) Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. Wien. Europaverlag. S. 55 – 71 · Bauer, Otto (1936): »Zwischen zwei Weltkriege? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus«. Bratislava. Eugen Prager Das Kapitel über den Faschismus ist auch im Web erhältlich: http://www.otto-bauer.net/otto_bauer_faschismus.html · Griepenburg, Rüdiger/Tjaden, K. H. (1966): »Faschismus und Bonapartismus«. In: Das Argument 41. 5. Auflage. Berlin. Argument-Verlag. S. 461 – 473 · Gruppe Arbeiterpolitik (1973): »Der Faschismus in Deutschland. Analyse der KPD-Opposition aus den Jahren 1928 – 1933«. Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt/Main · Mackenbach, Werner (1995): »Bonapartismus«. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. (Hrsg.) Wolfgang Fritz Haug. Hamburg. Argument-Verlag. S. 283 – 290 · Marx, Karl (1851/52): »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«. In: MEW, Bd. 8 · Thalheimer, August (1972): »Über den Faschismus«. In: Faschismus und Kapitalismus. Theorie über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus. (Hrsg.) Wolfgang Abendroth u. a. Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt/Main. S. 19 – 39 · Wippermann, Wolfgang (1983): »Bonapartismustheorie von Marx und Engels«. Stuttgart. Klett-Cotta · Wipperman; Wolfgang (1997): »Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von Anfängen bis Heute«. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Drohnenopfer unterliegen vor Gericht

Die Angehörigen von US-Drohnenopfern im Jemen haben einen Prozess gegen die Bundesrepublik verloren. Sie wollten, dass Deutschland den USA verbietet, Ramstein für den Einsatz von Kampfdrohnen im Jemen zu nutzen. Die Bundesregierung muss den USA die Nutzung des US-Stützpunktes Ramstein für Drohnenangriffe im Jemen nicht verbieten. Das hat das Verwaltungsgericht Köln am Mittwoch entschieden. Geklagt hatten drei Jemeniten, die bei einem Drohnenangriff 2012 zwei Verwandte verloren hatten und sich selbst in Lebensgefahr sehen. Ihrer Überzeugung nach leiten die USA die Daten für die Steuerung von Kampfdrohnen über Ramstein weiter. Das Gericht wies die Klage ab. Die Kläger wollen nach Angaben ihres Anwalts in Berufung gehen. Zwar könnten sich die Kläger auf die Pflicht des Staates zum Schutz von Leib und Leben nach dem Grundgesetz berufen, erläuterte die Vorsitzende Richterin. Daraus leite sich aber nicht zwingend eine Handlungspflicht des Staates ab. Vielmehr stehe der Bundesregierung - gerade wenn es um außenpolitische Angelegenheiten gehe - ein weiter Ermessensspielraum zu. Dieser umfasse auch die völkerrechtliche Bewertung der Drohnenangriffe.

Willkür-Datei des BKA

Gestörtes Verhältnis zur Versammlungsfreiheit: Bundeskriminalamt speicherte linke Demonstranten jahrelang pauschal als »linksextreme Gewalttäter«. Von Ulla Jelpke Das Bundeskriminalamt hat über Jahre hinweg Hunderte, wahrscheinlich sogar Tausende Personen rechtswidrig in einer Datei über gewalttätige »Linksextremisten« gespeichert. Das ergibt sich aus einem Bericht des früheren Bundesdatenschutzbeauftragten und auf Anfragen der Linksfraktion an die Bundesregierung. Die schon vor sieben Jahren eingerichtete Zentraldatei »Politisch Motivierte Kriminalität – links« soll der Bekämpfung »linksextremistischer Straftäter« dienen. Angaben zu einzelnen Personen sowie zu Gruppierungen, Institutionen und Objekten können miteinander abgeglichen werden, um Zusammenhänge herzustellen. Im März 2012 hatte der damalige Datenschutzbeauftragte Peter Schaar stichprobenartig einzelne Fälle der Datei unter die Lupe genommen. Der bis vor wenigen Wochen geheime, nun aber veröffentlichte Prüfbericht stellt gravierende Verstöße gegen datenschutzrechtliche Vorschriften fest. Voraussetzung für die Speicherung ist eine »Negativprognose«, aus der hervorgeht, dass die betreffende Person in der Zukunft voraussichtlich eine Straftat begehen wird. Häufig fehle aber jeder Hinweis, der eine solche Prognose stützen könnte. Die Datei enthält Kategorien wie »Beschuldigte«, »Prüffälle« und »sonstige Personen«. Daran gibt es in dem Bericht Kritik: »Einige Personen waren wegen der Teilnahme oder Anmeldung einer Versammlung gespeichert«, ohne dass Tatsachen vorgelegen hätten, »die einen konkreten Zusammenhang mit Straftaten oder von der Versammlung ausgehenden Gefahren belegten.« Ein Anmelder wurde sogar gespeichert, obwohl aus den Polizeiakten hervorging, dass bisher von ihm angemeldete Demonstrationen friedlich geblieben waren. Die Speicherpraxis berge die »Gefahr, dass Personen gespeichert werden oder in den Fokus von Ermittlungen geraten, die an der Begehung von Straftaten nicht beteiligt oder gegebenenfalls nur zufällig an bestimmten Orten anwesend sind«, so der Bericht. Besonders bei Sitzblockaden bleibe oft unklar, »welche Straftat dem Betroffenen genau vorgeworfen wird«. Schaar nennt den Fall einer Demonstration in einem Bahnhof: Die Hälfte der Teilnehmer sei in einem Gleisbett »oder auf der Bahnsteigkante« gewesen – als »Linksextremisten« gespeichert wurden aber alle, egal an welcher Stelle des Bahnhofs sie waren. Schaar verweist auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Sitzblockaden grundsätzlich unter den Schutz des Versammlungsrechts gestellt hatte. Der Bericht enthält keine konkreten Angaben zum Umfang der Datei. Die lieferte jetzt aber die Bundesregierung auf Anfrage der Linksfraktion: Im März 2012 waren 3.819 Personen gespeichert, davon 1.231 in den von Schaar besonders kritisierten Kategorien »sonstige Personen« und »Prüffälle«. Erst zwei Jahre nach der Prüfung begann das BKA eine Revision und löschte diese Kategorien größtenteils. Heute sind in der gesamten Datei noch 331 Personen gespeichert. Zwar könne man nicht genau sagen, wie viele Datensätze wegen abgelaufener Fristen entfernt wurden und wie viele, weil die juristische Speicherberechtigung fehlte, aber die Reduzierung um über 90 Prozent deute darauf hin, dass Tausende der Datensätze rechtswidrig angelegt worden sind. Vom BKA überholt wurden noch 32 andere Dateien in den Bereichen Organisierte Kriminalität und Staatsschutz, dabei wurden 15.000, bzw. 2.500 Datensätze gelöscht, die zu Unrecht Gespeicherten aber nicht informiert. Für die Linksfraktion deutet die BKA-Kategorisierung linker Demonstranten auf ein grundsätzliches Problem hin: Im Polizeiapparat fehle offenbar bis in die oberste Spitze jede Sensibilität für den Stellenwert der Versammlungsfreiheit.

Bernhard Falk Vom Linksterroristen zum deutschen Gesicht al-Qaidas

Früher beging Bernhard Falk linksextreme Anschläge, heute betreut er islamistische Straftäter. Mit Blick auf mögliche Terrorakte in Deutschland sagt der Al-Qaida-Anhänger: "Unschuldige gibt es nicht." Der Islamist isst Käsespätzle mit Beilagensalat und trinkt Wasser dazu. Sein Gegenüber nippt an einem Glas Bier und spießt Currywurst auf seine Gabel, an einem Restauranttisch im Düsseldorfer Hauptbahnhof. Alkohol und Schweinefleisch: Beides ist für gläubige Muslime "haram", also verboten. Aber das stört den Islamisten nicht. "Ich weiß ja, wen ich hier treffe", sagt der Mann mit dem dichten, grauen Bart. Dabei ist die Verbreitung des Glaubens zu seiner Mission geworden, seit er zur Lehre Allahs übergetreten ist. Der Mann nennt sich Muntasir bi-llah, besser bekannt ist er aber unter seinem Geburtsnamen Bernhard Falk. Am Ärmel seines Militärparkas ist ein Aufnäher, darauf eingestickt die Schahada, das muslimische Glaubensbekenntnis: Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Gesandter. Auch Bernhard Falk begreift sich als Vorkämpfer für die gute Sache. Er hat nur über die Jahre seine Meinung geändert, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Der heute 48-Jährige war früher Mitglied der linksextremen Antiimperialistischen Zellen (AIZ), die mehrere Bombenanschläge in der Bundesrepublik verübten. Falk saß wegen vierfachen Mordversuchs 13 Jahre lang im Gefängnis. Noch bevor er seine Haft antrat, konvertierte er zum Islam. Seit 2008 ist er wieder auf freiem Fuß – und führt seither ein "gottgefälliges" Leben, das ist ihm wichtig zu betonen. Die Meinungen darüber gehen allerdings auseinander. Die deutschen Sicherheitsbehörden sehen in Falk eine "relevante Person der islamistischen Szene". Seine Reisebewegungen quer durchs Land werden verfolgt. Hilfsorganisationen, die Familien mit Mitgliedern im radikal-islamistischen Umfeld betreuen, warnen vor ihm. Er indoktriniere, sei ein "sehr gefährlicher Multiplikator". Was Behörden wie die Familien besorgt, ist Bernhard Falks Präsenz: Er kümmert sich, er ist überall. "Der Islam ist die beste und schönste Religion", sagt der Ex-Terrorist und schaufelt die letzten Spätzle auf seine Gabel. Fünf Mal am Tag beten, das gebe ihm spirituelle Kraft. Der Attentäter von einst gilt heute als graue Eminenz der salafistischen Szene in Deutschland. Radikal ist der einstige Physikstudent geblieben, der heute vornehmlich von Spenden aus der Szene lebt. Sein Markenzeichen ist eine skurrile Mischung aus Dschihad, Scharia und einem altlinken Antiimperialismus. "Ich bin ein Kind meiner Zeit, das kann man nicht leugnen", sagt Falk dazu. Aus seiner Vorliebe für die Terrorgruppe al-Qaida macht er keinen Hehl. "Das hat einfach Hand und Fuß bei denen", sagt er. Terroristen? Nein, "politische Gefangene des BRD-Apparats" Falk ist nicht der Mann großer, öffentlicher Auftritte. Das überlässt er anderen. Falk arbeitet lieber hinter den Kulissen, wie er sagt, er "informiert". Die Aushängeschilder der deutschen Salafistenszene sind "Hassprediger" wie Sven Lau und Pierre Vogel. Auch Ibrahim Abou-Nagie, der mit dem "Lies"-Projekt Korane in deutschen Innenstädten verteilt, gehört dazu. "Die freuen sich über jede Seele, die sie zum Islam bekehren können, aber viel mehr ist da nicht", sagt Falk spöttisch. Es sei gut, dass diese Leute das Interesse für den Islam weckten – nur den jungen Leuten reiche das meist irgendwann nicht mehr. "Und dann bin ich da", sagt Falk, der auf islamistischen Veranstaltungen seine Flugblätter über Antiimperialismus und den Dschihad verteilt. "Aufrufe zu Gewalt oder Straftaten gibt es bei mir grundsätzlich nicht", betont er. Der Ex-Terrorist widmet einen Großteil seiner Zeit der "Gefangenenhilfe": Er besucht islamistische Straftäter, gibt ihnen Ratschläge, sucht einen Anwalt für sie oder hilft bei persönlichen Problemen. Zu seinen Schützlingen gehören auch die vier Mitglieder der Düsseldorfer Al-Qaida-Zelle, die in Deutschland einen aufsehenerregenden Terroranschlag planten. Auch Marco Gäbel ist darunter, der sich vor Gericht wegen seiner Beteiligung am gescheiterten Bombenattentat auf dem Bonner Hauptbahnhof verantworten muss. Für Falk sind diese Leute "politische Gefangene des BRD-Apparats" – die Wortwahl erinnert nicht zufällig an die linksradikale Rhetorik von einst. Doch Falk ist wählerisch: Er kümmere sich nicht um alle inhaftierten Islamisten. Jene, die mit den Behörden kooperieren und "umfassende Aussagen machen", wie er verächtlich sagt, hätten seine Hilfe nicht verdient. Aber was will er eigentlich erreichen? Al-Qaidas Morde an Frauen und Kindern blendet er aus Falk bezeichnet sich selbst als Salafisten. Seine Arbeit sei "irgendwie pastoral", sagt er. Welche Lehren aber verbreitet er? Die Menschen sollten verstehen, dass der Islam der einzige Weg sei, um Frieden und Gerechtigkeit auf der Welt zu erreichen. Seine Begeisterung für al-Qaida empfindet er nicht als Widerspruch. Die Kämpfer seien gar nicht der blutrünstige Haufen, als der sie im Westen immer dargestellt würden. "Einen Moment, bitte", sagt Falk und kramt in einer seiner Stofftragetaschen, mit denen er ständig unterwegs ist. Er zieht die "Allgemeinen Richtlinien für den Dschihad" heraus, ein 21 Punkte umfassendes Programm. Verfasser ist Al-Qaida-Chef Aiman al-Sawahiri. "Hier steht, man soll keine Frauen und Kinder töten und auch keine Moscheen und Märkte angreifen." Dabei gibt es keine Zweifel daran, dass al-Qaida für genau solche Verbrechen verantwortlich ist. Wer also hat es verdient zu sterben? "Unschuldige gibt es nicht", sagt Falk. "Die Deutschen haben Angela Merkel gewählt, die für Verbrechen an Muslimen verantwortlich ist." Die Mehrheit sehe tatenlos zu, sagt er und blickt dabei auf die vorbeieilenden Passanten im Hauptbahnhof. "Wen kann es da wundern, dass Islamisten diese Ungerechtigkeiten mit Anschlägen bestrafen?" Für ihn selbst ist sein Weltbild stimmig: einerseits das Gebot, Frauen und Kinder zu schützen – und andererseits die Sippenhaft und der angeblich verdiente Tod für all jene, die nicht an die islamistische Weltrevolution glauben wollen. Auch wenn Falk nicht als Militanter in der deutschen Islamistenszene gilt, so sorgt er doch dafür, dass sie weiter gedeihen kann. Seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs zählt das Bundesamt für Verfassungsschutz 7000 Salafisten. Die Behörden vermuten weiter, dass seit 2011 rund 700 Extremisten aus Deutschland nach Syrien und in den Irak gereist sind; die Mehrheit hat sich der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) angeschlossen. Bekanntestes Gesicht unter ihnen ist der Berliner Rapper Deso Dogg. Er und andere Salafisten mit deutschem Pass tauchen in Videos auf, die grausame Hinrichtungen zeigen. Es gibt auch Botschaften, in denen die deutschen Salafisten "verheerende Anschläge" in der Bundesrepublik ankündigen. Drohungen, die die Behörden hierzulande durchaus ernst nehmen. "Unser Problem besteht darin, dass es immer wieder Personen gibt, die in Syrien und im Irak auftauchen, die wir vorher gar nicht kannten", sagt der Präsident des Bundesverfassungsschutzes, Hans-Georg Maaßen. Al-Qaida gilt bei vielen deutschen Extremisten als überholt Bernhard Falk wiederum kennt einige der Export-Salafisten noch aus Deutschland. Nur über sie sprechen, das will er nicht. "So was gibt nur Ärger mit den Behörden", sagt er kopfschüttelnd und schiebt die ihm vorgelegte Liste mit den Namen deutscher IS-Kämpfer von sich. Ärger mit Polizei und Geheimdienst ist genau das, was der Ex-Terrorist nach 13 Jahren Haft unbedingt vermeiden möchte. Jedes seiner Flugblätter, jede einzelne Videoansprache lässt Falk deshalb vom Anwalt prüfen, bevor er sie öffentlich macht. "Ich will denen doch keinen Anlass geben, mich wieder wegzusperren", sagt er. Falk verfolgt genau, was in Syrien und im Irak vor sich geht. Mit dem IS aber will der deutsche Islamist nicht in Verbindung gebracht werden – auch wenn sich beide auf die Lehren des Korans berufen. "Ich bin doch nicht verrückt, uns trennen inhaltlich Welten", sagt er entschieden und wiederholt es mehrfach. "Köpfe am Fließband abschneiden, wie das der IS tut, ist doch völlig absurd." Die Helden des Bernhard Falk kämpfen für die Al-Nusra-Front; die Brigade tritt als offizieller Stellvertreter al-Qaidas in Syrien auf. "Das ist ein langfristiges Projekt, bodenständig und von der Bevölkerung unterstützt", sagt Falk und bestellt noch ein Wasser. Unter radikalen Islamisten in Deutschland ist Kritik am IS nicht beliebt. Zu überraschend war dessen Vorstoß, zu euphorisierend die anfänglichen Erfolge des Kalifats. Al-Qaida hingegen gilt den IS-Anhängern als überholter, altbackener Verein, der den wahren Islam verunglimpfe. Wegen seiner Unterstützung für al-Qaida wird Bernhard Falk beschimpft und bedroht. "Möge Allah dich erleuchten oder vernichten", wünschte ihm Mohammed Mahmoud, ein bekannter österreichischer Dschihadist, aus Syrien per Twitter. Nach Syrien reisen? Eine "Sackgasse" Die zwischenzeitliche Formschwäche des IS registrierte Bernhard Falk mit tiefer Zufriedenheit; er werde deswegen seither als Al-Qaida-Sympathisant weniger häufig beschimpft. Zusätzliche Genugtuung bringt ihm der Siegeszug "seiner" Nusra-Front, die im Norden Syriens auf dem Vormarsch ist. Sie hat rivalisierende Rebellen, aber auch Regimetruppen von Präsident Baschar al-Assad weitflächig vertrieben. Will er nun selbst in die Region reisen, um dort zu kämpfen? "Syrien ist doch eine Sackgasse", sagt Falk. "Ich kann nie mehr zurückkommen, wenn ich dorthin fahre." Er befürchtet wohl zu Recht, dass die deutschen Behörden ihm die Wiedereinreise verweigern würden. Ganz auswandern aber, wie einst der Prophet Mohammed, das würde Falk nur unter einer Bedingung. "Es müsste eine echte Zukunftsperspektive geben", sagt er. Er denkt an einen islamischen Staat, in dem "die Scharia nicht nach Lust und Laune ausgeübt wird". Ein gerechter Staat, in dem die Regeln Allahs gelten – und nicht die Regeln des Stärksten. Die jüngsten Eroberungen der IS-Milizen im Irak und Syrien dürften seinen Träumen einen Dämpfer verpassen – und ihm selbst mehr Arbeit verschaffen. Das Erstarken des Islamischen Staates wird neue Kämpfer aus dem Ausland anlocken. Und wenn diese dann eines Tages nach Deutschland zurückkehren sollten, dann besteht die Chance, dass sie Bernhard Falks Hilfe brauchen können. Für ein paar Briefe oder die Vermittlung eines Anwalts. Von Alfred Hackensberger Korrespondent Welt 25.05.15

[Chiapas98] San Quintín: Unverantwortliche Trägheit (Poonal Nr. 1143 v. 17.5.2015)

San Quintín: Unverantwortliche Trägheit Sonntag, den 17. Mai 2015 von Luis Hernández Navarro (Mexico-Stadt, 12. Mai 2015, la jornada).- Von der Zermürbung zur Repression, von der Trägheit zum Hohn. So kann die Regierungsstrategie für die „Lösung“ des Landarbeiterkonfliktes von San Quintín zusammengefasst werden. Fast zwei Monate sind vergangen, seit am 17. März tausende Landarbeiter*innen dieser Enklave für den Agrarexport einen Generalstreik ausriefen, um die von ihnen erlittene brutale Arbeitsausbeutung an den Pranger zu stellen und eine würdige Lohnerhöhung einzufordern. Statt auf die Forderungen der Bewegung einzugehen hat die Regierung von Enrique Peña Nieto zuerst auf deren Schwächung und Entmutigung und dann auf ihre gewaltsame Eindämmung gesetzt. Aber weder das eine noch das andere Manöver hat gewirkt, um den Protest der Landarbeiter*innen zu zerschlagen. Obwohl bereits acht Wochen des Streikkampfes herum sind, wird dieser aufrecht erhalten. Grund dafür sind der moralische Überdruss angesichts dieser brutalen Arbeitsausbeutung und ein Organisationsnetzwerk auf gemeinschaftlicher Grundlage, das geeint und kräftig ist. Dies zeigte sich bei den repressiven Maßnahmen vom 9. Mai. An diesem Tag schlug die Präventivpolizei des Bundesstaates Baja California unter dem Vorwand, dass ein Feld in Brand gesteckt werden sollte, auf die Bewohner*innen der Triqui-Siedlung von Nuevo San Juan Copala ein. Letztere waren dabei, die Landarbeiter*innen aufzufordern, den Streik fortzusetzen. Die Bewohner*innen reagierten mit Wut und boten den Uniformierten die Stirn. Bewohner*innen verbinden Tradition mit Moderne Nuevo San Juan Copala ist eine Siedlung im Tal von San Quintín. 2010 zählte sie etwas mehr als 1.600 Einwohner*innen, mehrheitlich von der Ethnie der Triquis. Der Name bezieht sich auf die Herkunftsgemeinde ihrer Gründer*innen aus Oaxaca. Formal entstand die Siedlung 1997 auf einem von den Landarbeiter*innen besetzten Gelände. Diese waren auf der Suche nach würdigen Unterkünften gewesen und aus den bedrückenden Tagelöhner-Lagern geflüchtet. Seitdem setzten die Bewohner*innen mit ihrem kollektive Vorgehen grundlegende Dienstleistungen und Infrastruktur durch: eine geordnete Grundstücksverteilung, Straßenbeleuchtung, Trinkwasser, Schulen und Straßenverbesserungen. Gleichzeitig gaben sich die Triquis eine politische Vertretungsstruktur. Die Siedler*innen, so erklärt es Abbdel Camargo in der Veröffentlichung „Siedlung und gemeinschaftliche Organisation“, haben eine politische und gemeinschaftsorientierte Organisationsform entwickelt, die traditionelle Organe der Autoritäten in ihren Herkunftsorten mit neu geschaffenen Einrichtungen verbindet. Diese Neuerfindung der Tradition hat ihnen erlaubt, sich neue Niederlassungsräume anzueignen und kollektive Praktiken zu entwickeln. So schaffen sie nicht nur eine starke kulturelle Identität, sondern stärken auch die (Ver-)Handlungsfähigkeit. Das normative Leben der Siedlung, erläutert Camargo, richtet sich an drei traditionellen Figuren der Herkunftsgemeinden aus. Es gibt die traditionelle Autorität als politische Vertretung und Vermittlungsinstanz der Gemeinde. Dazu kommt der Ältestenrat, der bei wichtigen Angelegenheiten der Siedlung orientiert und seine Meinung äußert. Schließlich existiert das System der „Mayordomías“, die mit der Organisation und Ausrichtung der Feste zu Ehren des Schutzheiligen beauftragt sind. Polizeigewalt als gescheiterte Strategie Die Polizei des Bundesstaates Baja California attackierte die Bewohner*innen von Nuevo San Juan Copala, um ihr Engagement zu schwächen und ein Signal an die streikenden Landarbeiter*innen von San Quintín zu senden. Doch vor dem geschilderten Hintergrund stieß sie auf eine starke gemeinschaftliche Organisation, die im Laufe von fast zwei Jahrzehnten geschmiedet wurde und kampferprobt war. Das Ergebnis des Polizeieinsatzes war kontraproduktiv. Die Gewalt gegen die Siedler*innen von Nuevo San Juan Copala war das letzte Glied einer gescheiterten Strategie. In einem ersten Moment vertraute die Bundesregierung darauf, den Konflikt auf die Länderebene eingrenzen zu können und wartete darauf, dass er an Kraft verlöre. Als er jedoch bundesweite und internationale Ausmaße erreichte, musste sie der Einrichtung einer Verhandlungskommission zustimmen, die von Luis Miranda, Staatssekretär im Innenministerium, angeführt wird. Weit davon entfernt, Lösungen zu suchen, richtete sich die Gesprächsrunde zwischen Landarbeiter*innen und Regierungsbehörden vom 24. März darauf, Zeit zu schinden. Die offizielle Delegation, zu der Baja Californias Gouverneur Francisco Vega de la Madrid sowie die Direktoren der mexikanischen Sozialversicherungsbehörde IMSS, Vertreter*innen des Bundesarbeitsministeriums sowie Senator*innen und Abgeordnete gehörten, kam ohne irgendeinen Vorschlag zu dem Treffen. Zuerst verhinderte sie den Zugang der Presse zu der Sitzung. Dann tat sie so, als ob sie nichts vom Ursprung des Konfliktes wüsste. Spöttisch, so berichtet Arturo Alcalde, wandte sich der Gouverneur an die Landarbeiter*innen: „Sie haben das Wort. Wir sind schon hier. Teilen Sie uns ihre Bittgesuche mit.“ Staatssekretär setzt auf Repression Die öffentlichen Funktionsträger widmeten sich der Aufgabe, die Arbeiten nicht vorankommen zu lassen. Am Ende leitete Staatsekretär Miranda die „Operation Tiefschlag“ ein: ohne dass die Parteien dies vereinbart hätten, kündigte er weiteres Treffen für den 8. Mai an. Bei diesem würde er eine integrale Lösung für die Forderungen präsentieren. Miranda erfand eine entsprechende Vereinbarung, erklärte das Treffen einseitig für beendet und ließ die Journalist*innen ein. Die Landarbeiter*innen dementierten, dass bei der Verhandlung etwas paktiert worden sei. Die offizielle Entourage verließ San Quintín hastig. Selbst die Parlamentarier*innen, die vorgeblich auf Einladung der Streikenden dem Treffen beiwohnten, agierten wie die Angestellten der Regierung und gesellten sich beschämenderweise dem Regierungsgefolge zu. Der 8. Mai kam und Staatssekretär Luis Miranda versetzte die Landarbeiter*innen. Mehr als viertausend von ihnen harrten aus, um die Antwort auf ihre Forderungen zu hören. Als Fidel Sánchez Gabriel, Führungspersönlichkeit des Bündnisses für Soziale Gerechtigkeit, ankündigte, die Landarbeiter*innen würden vor den Büros der Regierung des Bundesstaates bleiben, war die Antwort des Funktionärs: „Du kennst mich nicht.“ Am Folgetag sprachen die Schlagstöcke und Gummikugeln der Polizei. Obwohl fast zwei Monate vergangen sind und trotz der Repression zeigt die Bewegung der Landarbeiter*innen von San Quintín keine Anzeichen physischer Erschöpfung oder nachlassender Kampfbereitschaft. Sie widersteht, genährt von Jahrzehnten gemeinschaftlicher Kämpfe und der Überzeugung, dass dieses barbarische Ausbeutungsmodell ein Ende finden muss. Unterdessen bietet sie der offiziellen Trägheit die Stirn, indem sie einen internationalen Boykott der Gemüse- und Obstproduktion im Tal von San Quintín organisiert. URL: http://www.npla.de/de/poonal/5115-2015-05-17-15-56-41 _______________________________________________ Chiapas98 Mailingliste JPBerlin - Mailbox und Politischer Provider Chiapas98@listi.jpberlin.de https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/chiapas98

[Chiapas98] Denuncia der JBG La Garrucha zu paramilitärischen Aktivitäten

Anzeige des Rats der Guten Regierung Der Weg der Zukunft, Carcol III, La Garrucha Caracol des Widerstands Hin zu einem neuen Tagesanbruch Rat der Guten Regierung Der Weg der Zukunft La Garrucha, Chiapas, Mexiko 11. Mai 2015 Wir zeigen öffentlich an: An die allgemeine Öffentlichkeit: An die alternativen, freien Medien, oder wie auch immer sie sich nennen mögen: An die Anhänger_innen der Sexta Nacional und Internacional: An die ehrlichen Organisationen für Menschenrechte: Brüder und Schwestern in Mexiko und in der ganzen Welt: Wir machen hiermit entschlossen öffentlich, was die paramilitärischen Gruppen aus Rosario - bestehend aus 21 Paramilitärs - und die 28 Paramilitärs des Barrio Chikinival aus dem Ejido Pojkol, im Bezirk Chilón, Chiapas, uns zufügen. In Rosario leben unsere Compañeros der Unterstützungsbasis, da es zurückgewonnenes Land ist, das zum Autonomen Bezirk San Manuel des Caracol III, La Garrucha gehört. Dort in Rosario leben (auch) diese 21 Paramilitärs, die unterstützt werden von den 28 Paramilitärs des Barrio Chikinival, die gemeinsam in unser zurückgewonnenes Land eindringen. Dieses Problem besteht - seit dem August 2014, als sie uns einen Zuchtstier töteten, einige Häuser und unsere kollektive Kooperative zerstörten, unsere Sachen raubten, einen Hektar Weide mit Herbiziden verbrannten, als sie schossen und aus leer geschossenen Patronenhülsen gebildete Zeilen auf der Erde hinterließen: Territorium Pojkol. WAS GESCHEHEN IST: Am Morgen des 10. Mai diesen Jahres, um 9:35, kamen 28 Personen des Barrio Chikinival, zugehörig zum Ejido Pojkol, im offiziellen Bezirk Chilón. Mit dem Auto braucht man 40 Minuten, um von dort das Dorf Rosario zu erreichen. Sie kamen auf acht Motorrädern in das zurückgewonnene Dorf ROSARIO, wo die Compas der Unterstützungsbasis leben. Sie kamen an, um uns mit Gewalt unser Land wegzunehmen. Diese Paramilitärs aus Rosario, begleitet von den Paramilitärs des Barrio Chikinival des Ejido Pojkol, begannen die Orte, wo die Compañeros der Unterstützungsbasis leben, zu vermessen. Während des ganzen Tages waren sie dort am Arbeiten. Nachmittags, um 15:15, zogen sich einige von ihnen von der Arbeit zurück, eine andere Gruppe blieb am gleichen Ort zurück. Jedoch 5 Minuten später gingen drei von ihnen zum Haus eines Compañeros der Unterstützungsbasis. Die größere Anzahl verblieb 30 Meter vom Haus des Compañeros entfernt auf der Straße. Im Haus des Compañeros der Unterstützungsbasis befand sich nur seine dreizehnjährige Tochter, die ihr Zimmer fegte. Ihr Vater war nicht da und ihre Mutter befand sich an einer Seite außerhalb des Hauses. Zwei der paramilitärischen Angreifer gehören zum Barrio Chikinival, Ejido Pojkol, einer kommt aus dem gleichen Ort Rosario, sein Name ANDRES LOPEZ VAZQUEZ. Die zwei aus Chikinival gingen in das Haus hinein, während Andrés, Paramilitär aus Rosario, an der Haustür blieb. Als er sah, dass das Mädchen, die Tochter des Compañeros der Unterstützungsbasis, durch die Tür hinauslief, gab ANDRES vier Schüsse aus seiner Pistole, Kaliber 22, auf das Mädchen ab. Im Moment der Schüsse kam ihr Vater an und verteidigte seine Tochter, einen Stein auf den Aggressor werfend, der diesen am Kopf traf. Das Mädchen trafen aus Zufall nicht all diese Schüsse. Der Verletzte (Paramilitär) wurde dann von seinen Genossen, die 30 Meter entfernt waren, weggebracht. Gestern, am Nachmittag des 11. Mai, kehrte der Verletzte zurück, er und die Angreifer-Familie, d.h., seine Frau und drei Söhne, gingen zum Haus des Compañero, um ihm zu sagen, dass sie die 7.000 Pesos für seine Behandlung zahlen müssen. Klar, dass der Compañero diese nicht bezahlen wird, weil nicht er das, was geschah, gesucht oder provoziert hat. Am 10. Mai, dem Tag des Geschehens, erreichten um 18:50 auf acht Motorrädern 16 Personen das Dorf Nuevo Paraíso im autonomen Bezirk Francisco Villa. Drei der Leute waren bewaffnet mit zwei Pistolen, Kaliber 22 und einem Gewehr, Kaliber 22. Diese Personen gehören zum Barrio Chikinival, Ejido Pojkol. Sie kamen an, um einen Brief auf die Straße zu werfen, in dem sie die Compañeros der Unterstützungsbasis beschuldigen als Erste diese Probleme provoziert zu haben. Aber in Wirklichkeit provozieren wir nicht ein einziges Problem, weil wir nach Alternativen auf friedlichem Weg gesucht haben, um diese Angelegenheit zu lösen. Aber sie haben uns nie verstanden. Wir haben sogar jedem der 21 Personen, die provozieren, einen Hektar Land übergeben, aber trotzdem haben sie uns weiterhin bedroht. Seit Februar bis heute, den 11. Mai, bedrohen uns die aus Chikinival, Ejido Pojkol, tagtäglich. Denn so fordern es die aus Rosario, dass jene aus Pojkol bewaffnet patrouillieren, - jeden Tag, immerzu bewaffnet. Darum widersprechen wir dem, was sie uns zufügen und dessen, wessen sie uns beschuldigen. Es ist klar, wer zuerst provoziert. Wir luden die Autoritäten des Ejido Pojkol ein, und sie kamen und sagten, dass sie nichts machen können, da diese Gruppe des Ejidos bereits nicht anerkannt ist, da sie vollkommene Gauner sind, und sie keinen Respekt haben und im Ejido nicht gehorchen. Dass man sie schon der Regierung (in Chiapas) des Manuel Velasco Coello angezeigt habe, der auch nichts macht, weil es ja seine Paramilitärs sind. Compañeros und Compañeras, Brüder und Schwestern in der ganzen Welt, Das sind die Strategien, mit denen uns die drei Ebenen der schlechten Regierung (Bundes-, Staats-, Bezirksebene) provozieren, inden sie Leute benutzen, die unsere gerechte Sache nicht verstehen, damit wir ihnen in ihre Fallen gehen sollen. Aber wir sind uns klar darüber, was diese schlechte Regierung macht, wenn sie Organisationen, Leute, die sich kaufen lassen oder sich selbst verkaufen, organisiert, ausbildet und finanziert. Wir, wir sagen diesen Hirnlosen dort oben: Niemals werden wir aufhören, Widerstand zu leisten, noch werden wir ihnen in ihre Fallen gehen. Wir werden hier weiterhin im Widerstand unser Land bearbeiten und unsere Autonomie aufbauen. Für jedes Geschehen, das folgen mag, machen wir die Bundes-, die Landes- und Bezirksregierungen und die Paramilitärs aus dem Barrio Chikinival im Ejido Pojkol und aus Rosario direkt verantwortlich. Schwestern und Brüder, wir werden Euch weiterhin informieren, was mit unseren Gemeinden passiert und wir möchten, dass Ihr aufmerksam seid, was weiterhin passiert. Hochachtungsvoll Rat der Guten Regierung Jacobo Silvano Hernández Lucio Ruiz Pérez ________________________________________________________________________________ Text im Original: http://enlacezapatista.ezln.org.mx/2015/05/11/denuncia-de-la-jbg-el-camino-del-futuro-caracol-iii-la-garrucha/ Weitere Informationen in Spanisch: http://radiozapatista.org/?p=13351&lang=en Übersetzung: colectivo malíntzin _______________________________________________ Chiapas98 Mailingliste JPBerlin - Mailbox und Politischer Provider Chiapas98@listi.jpberlin.de https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/chiapas98

26 mai 1967 : Mé 67 en Gwadloup !

Le 20 mars 1967, à Basse-Terre, en Guadeloupe, un riche marchand blanc lance son chien sur un artisan noir. Révolté par cet acte, le peuple de Basse-Terre laisse libre cour à la colère accumulée depuis longtemps. Durant trois jours, les 20, 21 et 22 mars 1967, Basse-Terre est en émeute. Deux mois plus tard, à Pointe à Pitre, le 26 mai 1967, 5000 ouvriers du bâtiment sont en grève pour une augmentation de salaire de 2%. Le délégué patronal aurait lancé aux grévistes : « Quand les nègres auront faim, ils reprendront leur travail ». Une manifestation s’organise. Face aux CRS rassemblés devant la chambre de commerce, les manifestants lancent des pierres et des bouteilles. La police tire immédiatement tuant Jacques Nestor, militant du Groupe d’Organisation Nationale de la Guadeloupe (GONG). Des émeutes vont suivre pendant trois jours, faisant de nombreuses victimes du côté des manifestants. Plusieurs centaines de Guadeloupéens furent traqués, blessés ou tués par balles. L’armée Française tirait sur les ambulances et même dans la veillée mortuaire d’une des premières victimes. L’hôpital était débordé. Des exécutions sommaires ont été perpétrées aussi bien à la gendarmerie du Morne Miquel qu’à la Sous-préfecture de Pointe-à-Pitre où des dizaines de corps jonchaient le sol. L’État français a reconnu 87 morts, nous prenons bien entendu ce chiffre avec prudence. Le 30 mai 1967, les autorités et le patronat sont obligés de faire de grosses concessions face à la tournure que prennent les événements en raison de la mobilisation et de la pression populaire. Les ouvriers obtiennent une augmentation de 25% des salaires alors qu’ils ne demandaient que 2,5% initialement. C'est événements sont appelés "Mé 67". Le mouvement indépendantiste trouve son origine dans les années 60 au sein de la communauté estudiantine guadeloupéenne en métropole. L'AGEG (Association Générale des Etudiants Guadeloupéens), basée en métropole, rejette l'idée d'autonomie en vigueur jusque là et lance le mot d'ordre d'indépendance nationale. En Guadeloupe, les idées d'indépendance sont propagées par le GONG (Groupe d'Organisation Nationale de la Guadeloupe). Tout comme l'AGEG, le GONG rejette l'autonomie prônée par d'autres, les stratégies électoralistes, milite pour l'indépendance nationale et dénonce les liens colonialistes et de domination qui caractérisent les rapports entre la France et la Guadeloupe. Les militants et militantes du GONG étaient en première ligne dans les événements de Mé 67. Les autorités coloniales françaises ont réprimé l'organisation dans le but de faire taire toute volonté politique d'indépendance de l'île. 18 leaders indépendantistes du G.O.N.G sont arrêtés lors des événements, ils seront emprisonnés puis jugés à Paris à partir du 19 février 1968 pour atteinte à la sûreté de l’État et à l’intégrité du territoire. En Guadeloupe 70 autres guadeloupéens sont encore sous le coup de poursuites judiciaires. Certains prisonniers écoperont de plusieurs mois de prison ferme. Les événements de Mé 67 et la répression coloniale qui suivit fait partie de l'histoire du mouvement indépendantiste guadeloupéen et de la mémoire de ce peuple toujours soumis à la domination coloniale de l’État français.

Jugendlicher Exodus in Richtung USA – Flucht vor Perspektivlosigkeit und Gewalt

(Berlin, 24. März 2015, npl).- Die Migration aus Zentralamerika Richtung USA ist ein Milliarden Geschäft. Schlepper kassieren bis zu 9.000 Dollar für ihre Dienste, das organisierte Verbrechen verdient Millionen durch Erpressung und Menschenhandel, korrupte Beamt*innen halten die Hand auf und die USA lassen sich die Abschottung der Grenze und den Rücktransport von Migrant*innen Unsummen kosten. Dennoch fliehen immer mehr Menschen vor der Perspektivlosigkeit und der Gewalt in ihren Herkunftsländern. Ein Armenviertel irgendwo in Guatemala. Nicht asphaltierte, enge, dreckige Straßen - Bretterbuden. Sara schneidet sich die Haare kurz, bindet sich die Brüste ab, zieht sich als Junge an, nimmt eine Pille zur Empfängnisverhütung. Sara will in die USA, den Tausende Kilometer weiten, gefährlichen Weg durch Mexiko. Und sie weiß, was ihr als Mädchen passieren kann... So beginnt „La Jaula de Oro“, “Der Goldene Käfig”. Der in Cannes und Zürich preisgekrönte Film des spanisch-mexikanischen Regisseurs Diego Quemada-Díez ist bisher in Deutschland kaum gelaufen, einen Verleih hat er nur in der Schweiz gefunden. In dem sehenswerten Film machen sich Sara und Juan auf die Reise von Guatemala-Stadt in Richtung USA. Mit dem Bus, zu Fuß, auf Güterzügen. Die Jugendlichen im Film, Brandón López als Juan und Karen Noemí Martínez als Sara, sie stammen aus den Armenvierteln Zentralamerikas und haben selber versucht, die USA zu erreichen. Hunderte Jugendliche hat Quemada-Díez bei seinen mehrjährigen Recherchen kennengelernt. Ihre Geschichten sind ins Drehbuch ebenso eingeflossen, wie die Erlebnisse des Regisseurs selbst: „In all diesen Barrios gibt es täglich Schießereien und Tote, allein seit wir Brandón kennen gelernt haben sind sieben seiner Freunde ermordet worden, alle um die 15 Jahre alt.“ Der Film will diesen Jugendlichen eine Stimme geben. Junge Menschen, die heute in Guatemala, Honduras oder El Salvador kaum eine Möglichkeit haben, sich zu entwickeln. Jugendliche fliehen vor Gewalt in den Barrios Kindermingration La Jaula de Oro1Raus aus dem Film, rein in die Realität: Ein anderes Armenviertel, diesmal in Honduras, in der Industriestadt San Pedro Sula. Elisa Sánchez ist hier die Sprecherin einer lokalen Müttervereinigung. Sie erklärt, warum immer mehr Jugendliche ihre Heimat verlassen: „Viele Jugendliche fliehen vor den Maras, den gefährlichen Jugendbanden, die sie zwingen, für die Drogenkartelle zu arbeiten und Auftragsmorde zu begehen. So sieht die Realität hier aus. Und all die Leute, die hier ein kleines Geschäft haben, zum Beispiel einen Kiosk, müssen eine sogenannte Kriegssteuer an die Banden zahlen. Und wenn man das nicht kann, dann kommen sie und töten die ganze Familie, sogar die Babies. Deshalb denken diese Leute, es ist besser zu fliehen, auch wenn das lebensgefährlich ist, denn wenn sie hier bleiben, werden sie auf jeden Fall getötet.“ Hier im Barrio in San Pedro Sula ist auch José aufgewachsen. Der heute Zwanzigjährige mit dem Cowboyhemd und den kurz geschnittenen Haaren hat schon mit sieben Jahren versucht, in die USA zu gelangen. „Die Reise wurde für uns zum schlimmsten Alptraum unseres Lebens. 20 Tage und Nächte waren wir auf der Bestie, dem Güterzug unterwegs. Es ist nachts so kalt, dass Du dich mit den anderen Migranten zusammen hockst, Dich umarmst, um nicht zu erfrieren. Du leidest unbeschreiblich. Und du siehst, wie die Mädchen vergewaltigt werden, Jugendliche vom Zug fallen und wie andere entführt werden, um deren Familie zu erpressen.“ Im Film, der Goldene Käfig, überqueren Juan und Sara den Grenzfluss zwischen Guatemala und Mexiko und springen schließlich auf die Bestie. Der Güterzug fordert immer wieder Tote und Schwerverletzte – weil völlig erschöpfte Menschen unter die Räder kommen oder weil Mitfahrende, die kein Wegegeld zahlen können, bei voller Fahrt rausgeschmissen werden. Drangsaliert, ausgeraubt, misshandelt Die Reisenden werden von der Polizei, von Soldaten und bewaffneten, erpresserischen Banden drangsaliert, ausgeraubt, misshandelt. Verbrecher und sogenannte “Sicherheitskräfte”, das macht hier keinen Unterschied. Sara fällt schließlich Menschenhändlern in die Hände, wie so viele Mädchen, die statt in die USA zu gelangen, in irgendeinem Bordell zur Prostitution gezwungen werden. Immerhin gibt es ein paar Zufluchtsorte auf dem Weg. Einer ist zum Beispiel die Unterkunft “Hermanos en el Camino”, sie bietet auf halben Weg zwischen der guatemaltekischen Grenze und Mexiko-City den Migrant*innen auf ihrem Weg ein Dach über dem Kopf an. Gegründet wurde die kirchliche Einrichtung von Pater Solalinde, der auch kurz im Film zu sehen ist. Bis zu 4.000 Migrant*innen im Monat suchen bei ihm Zuflucht. Pater Solalinde klagt an: Dass alle Geschäfte mit den Migrant*innen machen, die Polizei, die Migrationsbehörden, die organisierte Kriminalität, die Zugführer: „In ihren Herkunftsländern haben die Menschen immer weniger Perspektiven und wenn sie nach Mexiko kommen, werden sie ausgebeutet und misshandelt. Allein 10.000 Migranten sind verschwunden. Der Weg der Migranten durch Mexiko ist ein einziger Friedhof.“ Menschenrechtskommission kritisiert USA und Mexiko Die Sicherheitsbehörden hätten keinen Plan und wenig Interesse, das organisierte Verbrechen zu bekämpfen. Stattdessen bekämpften sie die Migrant*innen: „Die USA versuchen, mit allen Mitteln ihre Grenze dicht zu bekommen. Sie verhaften die Menschen und schicken sie zurück, aber die Menschenrechte der Migranten interessieren überhaupt nicht.“ Die Interamerikanische Menschenrechtskommission CIDH hatte die USA im Oktober 2014 für den unmenschlichen Umgang mit jugendlichen Migrant*innen scharf kritisiert. In den ersten fünf Monaten des Jahres 2015 sind an der US-Mexikanischen Grenze fast 9.000 weniger Jugendliche aufgegriffen worden, als im Vorjahreszeitraum. Das bedeutet aber keineswegs, dass nun weniger Migrant*innen unterwegs wären: Mexiko hat im selben Zeitraum mehr als doppelt so viele zentralamerikanische Minderjährige in ihre Heimatländer deportiert, den USA scheint es also zunehmend zu gelingen, Migrant*innen von ihrer Grenze fernzuhalten. Allerdings nannte die CIDH schon in ihrem Bericht vom August 2014 „die Situation extremer Verwundbarkeit der Migranten in Mexiko [...] eine der schlimmsten humanitären Tragödien in der Region“. Migrant*innen würden eben nicht nur Opfer der organisierten Kriminalität, sondern in der Folge des Antidrogenkrieges auch immer öfter zu Opfern von brutalen Übergriffen durch staatliche Behörden. Mexiko beschränke sich zudem auf die Verfolgung von irregulärer Migration - Fälle von Erpressung, Entführungen, Menschenhandel und Mord an Migrant*innen blieben dagegen weitestgehend straffrei. Das Recht, nicht migrieren zu müssen In Mexiko Stadt setzt sich die Scalabrini-Missionarin Schwester Leticia Gutiérrez seit fast zwanzig Jahren für mexikanische und zentralamerikanische Migrant*innen ein, vor allem für diejenigen die Opfer von Gewalt und Behördenwillkür geworden sind. Sie fordert entschlossene und umfangreiche Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte, nicht nur von Migrant*innen, sondern von allen Menschen in den Herkunftsländern: „Wir müssen die Ursachen der Migration bekämpfen. Sie ist Folge der weltweiten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Ungerechtigkeit. Deswegen müssen wir nach einem neuen System suchen, eines, das allen Menschen die Möglichkeit gibt, ein würdevolles Leben zu führen. Sonst werden immer mehr Menschen ihre Heimat verlassen müssen. Aber die immer schärferen Einwanderungsgesetze sprechen den Menschen das Recht auf ein würdevolles Leben ab. Solange es in den ärmsten Ländern keine Entwicklungschancen gibt, solange wird den Menschen ein Menschenrecht verwehrt: Das Recht nämlich, NICHT migrieren zu MÜSSEN.“ Den Audiobeitrag zu diesem Artikel findet ihr hier. Links: zum Filmverleih: http://www.xenixfilm.ch/de/film_info.php?ID=6712 Trailer: https://www.youtube.com/watch?v=GBBNmC2JWGU Interamerikanische Menschenrechtskommission: Lage der Migrant*innen in Mexiko: http://www.oas.org/es/cidh/prensa/comunicados/2014/088.asp URL: http://www.npla.de/de/poonal/5123-jugendlicher-exodus-in-richtung-usa-flucht-vor-perspektivlosigkeit-und-gewalt _______________________________________________ Chiapas98 Mailingliste JPBerlin - Mailbox und Politischer Provider Chiapas98@listi.jpberlin.de https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/chiapas98

[Chiapas98] Erste Aufzeichnungen über die zapatistische Methode - SupGaleano

4. Mai 2015 Die Mauer und der Riss. Erste Aufzeichnungen über die zapatistische Methode. Worte des SupGaleano anlässlich der Eröffnung des Seminars »Das kritischeDenken angesichts der kapitalistischen Hydra« Die Mauer und der Riss. Erste Aufzeichnungen über die zapatistische Methode. 3. Mai 2015. Guten Abend, guten Tag, gute Nacht, allen die uns hören und lesen, egal auf welchem Kalender und Geographie. Mein Name ist Galeano, Subcomandante Insurgente Galeano. Geboren im Morgengrauen des 25. Mai 2014, im Kollektiv, so leid es mir tut, gut, aber auch anderen Männer und Frauen und AnderEr tut das leid. Wie meine anderen zapatistischen Compañeras und Compañeros bedecke ich mein Gesicht, wenn es notwendig ist, dass ich mich zeige und ich mache es frei, wenn ich mich verbergen muss. Obwohl ich noch nicht einmal ein Jahr alt bin, hat die Führung mir die Stelle des Wachpostens, Wächters oder der Wache zugeteilt, auf einem der Beobachtungsstationen dieser rebellischen Erde.Nachdem ich es nicht gewohnt bin, öffentlich zu sprechen und noch weniger vor solch feiii (ach – Entschuldigung, das ist wohl der Schluckauf vor lauter Lampenfieber), wollte sagen feinen Leuten, bedanke ich mich schon im vorhinein für Ihr Verständnis wenn ich stottere und immer wieder stolpere, bei der schwierigen und komplizierten Kunst der Rede. Den Namen Galeano habe ich von einem indigenen zapatistischen Compañero, Lehrer und Organisator, üebernommen, der angegriffen, gekidnappt, gefoltert und ermordet wurde und zwar von einer paramiltärischen Gruppe, die unter dem Deckmantel einer sogenannten Sozialorganisation, der CIOAC-Histórica agieren. Der Alptraum, der dem Leben des Maestro Galeano ein Ende setzte, begann im Morgentrauen des 2. Mai 2014. Von diesem Moment an begannen wir Zapatistinnen und Zapatisten mit der Rekonstruktion seines Lebens. Damals beschloss die kollektive Führung der EZLN den Tod der Person, die sich selbst den Namen SupMarcos gegeben hatte, und damals Stimmführer der zapatistischen Männer, Frauen, Kinder und Alten war. Von jenem Moment an war der Stimmführer der nationalen zapatistischen Befreiungsarmee der Subcomandante Insurgente Moisés. Mit seiner Stimme sprechen wir, mit seinen Augen schauen wir, in seinem Schritt schreiten wir voran, er sind wird. Monate nach diesem 2. Mai breitete sich wieder die Nacht über das Mexiko von unten aus und gab ihm einen neuen Namen in der bereits langen Liste der Nennungen des Entsetzens: »Ayotzinapa«. Wie so oft auf dieser Welt, wurde auf diese Weise eine Geographie von unten Zeichen und Name für eine vorausgeplante und dann genau ausgeführte Tragödie, will heissen, ein Verbrechen. Durch die Stimme des Subcomandante Insurgente Moisés haben wir bereits gesagt, was für uns Zapatistinnen und Zapatisten Ayotzinapa bedeutete und bedeutet. Mit Ihrer Erlaubnis und der meiner zapatistischen Compañeras und Compañeros Chefs führe ich seine Worte weiter aus. Ayotzinapa sind der Schmerz und die Wut, ja, aber nicht nur das. Auch und vor allem die hartnäckige Anstrengung der Familienangehörigen und Compañeros der Abwesenden. Einige dieser Familienangehörigen, die das Andenken nicht fallen liessen, haben uns die Ehre erwiesen, und sind heute an unserer Seite, hier auf zapatistischem Boden. Wir hören die Worte von Doña Hilda und Don Mario, Mutter und Vater von César Manuel González Hernández, weiters sind Anwesenheit und Wort von Doña Bertha und Don Tomás, Mutter und Vater von Julio César Ramírez Nava präsent. Mit ihnen zusammen protestieren wir wegen des Fehlens der 46. Wir bitten Doña Bertha und Don Tomás darum, dass sie diese Worte den anderen Familienangehörigen von Ayotzinapa überbringen. Denn ihr Kampf war es, den wir im Kopf hatten, als wir dieses Samenbeet vorbereiteten. Ich glaube, dass mehr als eine, mehr als einer mehr als einEr, der Sexta und der EZLN mit mir übereinstimmen wenn ich sage, dass es uns lieber gewesen wäre, wenn sie nicht hier sein müssten. Das heisst, dass sie wohl hier wären, aber nicht mit Schmerz und Wut sondern als Umarmung wie es sich unter Compañeros geziemt. Wenn doch dieser 26. September nie geschehen wäre. Wenn doch der Kalender verständnisvoll gewesen wäre wie ein Compañero und dieses Datum ausgelassen hätte. Wenn doch die Geographie sich verlaufen hätte und niemals in Iguala, Guerrero, Mexiko halt gemacht hätte. Aber wenn nach dieser Nacht des Schreckens die Geographie sich ausdehnte und vertiefte und bis in die am weitesten entfernten Winkel der Welt gelangte und wenn der Kalender weiterhin an diesem Datum hängt, dann geschah das alles auf Grund eurer Anstrengung, auf Grund der Grösse eurer Einfachheit, auf Grund eurer bedingungslosen Hingabe. Wir haben eure Söhne nicht gekannt. Aber wir kennen euch. Und wir haben keine andere Absicht als euch zu versichern, dass wir euch bewundern und respektieren, selbst in den einsamsten und traurigsten Momenten, die ihr durchmacht. Es stimmt, wir können keine Strassen und Plätze in den grossen Städten füllen. Jede Mobilisierung, und wenn sie auch noch so klein ist, bedeutet für unsere Comunidades eine grosse Ausgabe, da unsere ökonomischen Verhältnisse ohnehin schwierig sind - so wie die von Millionen von Menschen - und die bis zum Limit durch Rebellion und Resistenz von mehr als 20 Jahren aufrecht erhalten wird. Ich spreche von unseren Comunidades, denn unsere Unterstützung besteht nicht aus der Summe von Einzelhandlungen, sondern es handelt sich um eine kollektive Aktion, die zuerst durchdacht und dann organisiert wird. Dies ist ein Teil unseres Kampfes. Wir brillieren nicht in den Social Media, wir können euer Wort nicht weiter hinaus tragen, als bis in unsere Herzen. Wir können euch auch nicht ökonomisch unterstützen, obwohl wir sehr genau wissen, dass diese Monate des Kampfes an eurer Gesundheit und an euren Lebensbedingungen genagt haben. Es ist so, dass auch unsere Rebellion und unser Widerstand sehr oft mit Misstrauen und Abneigung betrachtet werden. Bewegungen und Mobilisationen, die sich in den unterschiedlichsten Gegenden formieren, möchten oft nicht, dass wir ihnen unsere Sympathie erklären. Sie sind noch empfänglich für das mediengültige »was werden sie denn über uns denken…« und wollen vermeiden, dass ihre Causa in irgendeiner Weise mit den »Vermummten in Chiapas« in Zusammenhang gebracht wird. Wir verstehen sie, wir richten sie nicht. Unsere Achtung für alle Rebellionen die in der Welt erblühen enthält auch die Achtung vor ihrer Bewertung, ihrem Schritt, ihren Entscheidungen. Wir respektieren sie, aber wir ignorieren sie nicht. Wir beachten alle und jede Bewegung, die sich dem System entgegenstellt. Wir versuchen, sie zu verstehen, das heisst, sie zu kennen. Wir wissen, dass die Achtung aus dem Wissen geboren wird, und dass Angst und Hass, diese beiden Gesichter der Verachtung nicht selten aus der Unkenntnis heraus entstehen. Auch wenn unser Kampf klein ist, etwas haben wir in diesen Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten gelernt. Und das möchten wir euch sagen: Glaubt denen nicht, die sagen, dass Sensibilität und Sympathie und Unterstützung sich an vollen Strassen, überfüllten Plätzen, grossen Tribünen, der Anzahl der Kameras und Mikrofone, Headlines in Zeitungen, Tendenzen in den Social Media messen lassen. Die meisten Menschen auf der ganzen Welt, nicht nur in unserem Land, sind wie ihr, Schwestern und Brüder Familienangehörige der Fehlenden von Ayozinapa. Menschen, die Tag und Nacht ums Überleben kämpfen müssen. Menschen die kämpfen müssen, um der Realität etwas für das tägliche Überleben herauszureissen. Jeder, jede, jedeRe, von unten, Mann oder Frau oder Trans, der/die Geschichte kennt die schmerzt, sympathisiert mit eurem Kampf, der Wahrheit und Gerechtigkeit fordert. Er/sie teilt das mit euch, denn in euren Worten sehen sie die Wiederholung ihrer Geschichten, sie erkennen sich wieder in eurem Schmerz, denn sie identifizieren sich mit eurer Wut. Die Mehrheit hat nicht protestiert, sie haben sich nicht geäussert, sie haben keine Topics in den Social Media kreiirt, sie haben keine Scheiben eingeschlagen, keine Autos angezündet, keine Parolen gerufen, keine Tribünen besetzt, sie haben zu euch nicht gesagt, dass ihr nicht alleine seid. Sie haben das einfach deshalb nicht getan, weil sie es nicht konnten. Aber sie haben zugehört und achten eure Bewegung. Werdet nicht schwach. Nur weil die, die vorher an eurer Seite gestanden sind und jetzt verschwunden sind, nachdem sie abkassiert haben oder weil sie gesehen haben, dass es nichts zu kassieren gibt, sollt ihr nicht denken, dass eure Angelegenheit weniger schmerzlich ist, weniger edel, weniger gerecht. Der Weg, den ihr bisher gegangen seid, war stark, war richtig Aber ihr wisst, das noch viel des Weges fehlt. Wisst ihr was? Eine der Täuschungen derer von oben besteht darin, die von unten zu überzeugen, dass alles, was nicht leicht erreicht wird, nie erreicht wird. Sie wollen uns davon überzeugen, dass die langen und schwierigen Kämpfe nur ermüden und nichts erreichen. Sie manipulieren den Kalender von unten, indem sie uns den Kalender von oben auferlegen: Wahlen, Auftritte, Meetings, Treffen mit der Geschichte, Erinnerungsfeiern die nur Schmerz und Wut verschleiern. Das System fürchtet die wilden Ausbrüche nicht, ganz egal wie massiv und grell sie sind. Wenn eine Regierung gestürzt wird, haben sie sofort eine andere auf Lager zum austauschen und aufnötigen. Wovor es sich dagegen fürchtet wie der Teufel vor dem Weihwasser, ist die Unbeirrbarkeit der Rebellion und des Widerstandes von unten. Denn der Kalender von unten ist ein anderer. Der Schritt ist ein anderer. Die Geschichte ist eine andere. Schmerz und Wut sind anders. Und jetzt, nach einer gewissen Zeit ist dieses verstreute und vielfache Unten das wir sind nicht mehr nur auf euren Schmerz und eure Wut konzentriert. Wir konzentrieren uns auch auf eure Beharrlichkeit, auf euer Weiterschreiten, auf euer nicht aufgeben. Glaubt uns. Euer Kampf hängt nicht von der Anzahl derer ab, die protestieren, von der Anzahl der Zeitungsmeldungen, der Anzahl der Einschaltungen in den Social Media, der Anzahl der Tourneen, auf die man euch einlädt. Euer Kampf, unser Kampf, die Kämpfe von unten im allgemeinen hängen vom Widerstand ab. Vom nicht aufgeben, vom sich nicht verkaufen, vom nicht schlapp machen. Gut, gut, klar, dass ist unsere Meinung, die der Zapatistinnen und Zapatisten. Es gibt sicher Menschen, die sagen euch etwas ganz anderes. Zum Beispiel dass es wichtiger sei, diese oder jene Partei zu wählen, denn so würden die Fehlenden gefunden werden. Und wenn ihr diese oder jene Partei nicht wählt, dann habt ihr nicht nur DIE Gelegenheit verpasst, die wiederzufinden, die euch fehlen, mehr noch, ihr würdet auch mit daran schuld sein, dass das Entsetzen in unserem Land weiter fortgesetzt werden würde. Seht ihr wie es Parteien gibt, die die materielle Not der Menschen ausnützen? Die Lebensmittelpakete, Schulmaterial, Karten, Kinoeintrittskarten, Kübel, Schirmkappen, Sandwiches und farbiges Zuckerwasser im Tetra Pack anbieten? Gut und dann gibt es auch die, die den Gefühlsnotstand der Menschen ausnützen. Die Hoffnung, Freunde und Feinde, ist die Notwendigkeit, die da oben am höchsten gehandelt wird. Die Hoffnung, dass alles anders werden wird, dass es jetzt endlich Wohlfahrt, Demokratie, Gerechtigkeit, Freiheit geben wird. Die Hoffnung, die die Erleuchteten von oben den armen Teufeln von unten wegnehmen und dann wieder verkaufen. Die Hoffnung, dass die Einlösung der Forderungen von der Farbe eines der Produkte im Warenlager des Systems abhänge. Vielleicht verstehen jene Menschen mehr als wir Zapatistinnen und Zapatisten. Sie sind weise. Noch mehr, sie kassieren für ihr Wissen. Das Wissen ist ihr Beruf, davon leben sie… oder damit betrügen sie. Ihr seht schon, sie wissen mehr und wenn sie sich auf uns beziehen sagen sie, dass wir »dort in den Bergen, weiss der Teufel wo, verloren sind« und sie sagen, wir fordern zum Nichtwählen auf und dass wir Sektierer seien (vielleicht deshalb, weil wir zum Unterschied von ihnen unsere Toten ehren). Ach! Es ist so praktisch, Dummheiten und Lügen zu sagen und zu wiederholen! So billig, zu verleumden und zu diffamieren und dann die Einheit zu predigen, der Hauptfeind, die Unfehlbarkeit des Hirten, die Unfähigkeit der Herde. Vor vielen Jahren haben die Zapatistinnen und Zapatisten keine Protestmärsche veranstaltet, wir haben keine Parolen gerufen und keine Transparente getragen und auch die Faust nicht erhoben. Bis wir dann einmal marschiert sind. Das Datum: der 12. Oktober 1992, als sie oben die 500 Jahre des »Zusammentreffens der zwei Welten« feierten. Der Ort: San Cristóbal de Las Casas, Chiapas, Mexiko. Statt Transparente trugen wir Pfeil und Bogen und ein stummes Schweigen war unsere Parole. Ohne viel Radau ist die Statue des Eroberers gefallen. Ob sie sie wieder aufgestellt haben, ist nicht wichtig. Die Angst, die er darstellte, konnten sie nie mehr wieder aufrichten. Einige Monate nachher gingen wir wieder in die Städte. Auch dieses Mal trugen wir weder Parolen noch Transparente, und wir trugen auch keine Pfeile und Bögen. An jenem Morgen roch es nach Feuer und Pulver und es waren unsere Gesichter die sich erhoben hatten. Einige Monate nachher kamen einige aus der Stadt. Sie erzählten uns von den grossen Protestmärschen, den Parolen, den Transparenten, den erhobenen Fäusten. Klar, dem fügten sie natürlich immer bei, dass diese Armutscherl von Indianern und Indianerinnen, die wir sind - die Gleichheit des Geschlechts haben sie natürlich beachtet – nur deshalb überlebt haben, weil sie in der Stadt dem Völkermord der ersten Tage des Jahres 1994 Einhalt geboten hätten. Wir Zapatistinnen und Zapatisten fragten nicht, ob es vor 1994 keinen Völkermord gegeben habe, noch ob sie ihn schon aufgehalten hatten, noch ob die aus der Stadt über etwas sprachen was passiert war oder ob sie uns die Rechnung präsentierten. Die Zapatistinnen und Zapatisten haben verstanden, dass es andere Kampfformen gibt. Später haben wir dann unsere Demonstrationen gemacht, unsere Parolen, unsere Transparente und wir erhoben unsere Fäuste. Seit damals sind unsere Märsche ein blasses Abbild jenes Marsches, der das Morgengrauen des Jahres 1994 entzündete. Unsere Parolen haben den ungeordneten Rhythmus der Lieder aus den Guerrilla-Camps in den Bergen. Unsere Transparente sind mühsam erarbeitet um ein Äquivalent für das zu finden, was in unserer Sprache mit einem Wort ausgedrückt wird, in anderen Sprachen braucht man dafür 3 Bände des Kapitals. Unsere erhobenen Fäuste sind nicht so sehr da um zu drohen sondern um zu grüssen. So als ob sie sich ans Morgen richten würden, nicht an die Gegenwart. Aber etwas hat sich nicht geändert: unsere Gesichter sind weiterhin erhoben. Jahre später haben unsere selbsternannten Gläubiger aus der Stadt gefordert, dass wir an den Wahlen teilnehmen. Wir verstanden nicht, denn wir hier, Männer und Frauen, haben nie gefordert, dass sie die Waffen ergreifen sollten, noch dass sie widerstehen müssen, noch dass sie gegen die schlechte Regierung rebellieren sollen, noch dass sie ihre im Kampf gefallenen Toten ehren sollen. Wir forderten nicht, dass sie ihr Gesicht verdecken sollen, dass sie ihren Namen verweigern sollen, dass sie ihre Familie, ihren Beruf, ihre Freunde verlassen sollen, nichts von alledem. Aber die modernen Eroberer, verkleidet als progressive Linke, drohten uns: wenn wir ihnen nicht folgen würden, würden sie uns alleine lassen und wir wären daran schuld, dass die reaktionäre Rechte an die Regierung käme. Sie sagten, das seien wir ihnen schuldig und sie präsentierten uns die Rechnung, aufgedruckt auf einen Stimmzettel. Wir Zapatistinnen und Zapatisten haben nichts verstanden. Wir haben uns erhoben, um uns selbst zu regieren, nicht, damit uns andere befehlen. Sie wurden zornig. Wieder einige Zeit später und die aus der Stadt marschieren weiter, schreien Parolen, erheben Fäuste und Transparente und jetzt fügen sie dem Ganzen noch tuits, hashtags, likes, trending topics, followers, hinzu. In ihren politischen Parteien sind dieselben, die noch gestern der reaktionären Rechten angehörten, sie sitzen gemeinsam an einem Tisch, die Mörder und die Familienangehörigen der Ermordeten, lachen und stossen an, auf das, was sie kassiert haben, sie jammern und weinen gemeinsam um die verlorenen Posten. Währenddessen marschieren wir Zapatist*innen manchmal auch, wir rufen unmögliche Parolen oder wir schweigen, manchmal erheben wir Transparente oder Fäuste, immer den Blick. Wir sagen, dass wir nicht protestieren um den Tyrannen herauszufordern sondern um die zu grüssen, die in anderen Geographien und Kalendern ihm gegenübertreten. Um ihn herauszufordern, bauen wir. Um ihn herauszufordern, errichten wir. Um ihn herauszufordern, wenden wir unsere Phantasie an. Um ihn herauszufordern wachsen und vervielfältigen wir uns. Um ihn herauszuforderen, leben wir. Um ihn herauszufordern, sterben wir. Statt tuits machen wir Schulen und Spitäler, statt trending topicsFeiern, um das Leben zu feiern und den Tod zu besiegen. Auf der Erde der Gläubiger der Stadt befiehlt weiterhin der Herrscher, mit einem anderen Gesicht, einem anderen Namen, einer anderen Farbe. Im zapatistischen Land befiehlt das Volk und die Regierung gehorcht. Vielleicht kommt es daher, dass die Zapatistinnen und Zapatisten nicht verstanden haben, dass wir die sind, die folgen und die Leader der Stadt die, denen man folgt. Und wir verstehen es noch immer nicht. Aber es kann ja sein, dass Wahrheit und Gerechtigkeit, die ihr und wir, alle Männer, Frauen und AnderEr suchen, dank der Gaben eines Leaders erreicht werden, der von Menschen umgeben ist, die genauso intelligent sind wie er, sozusagen ein Retter, ein Herrscher, ein Chef, ein Anführer, ein Hirte, ein Regierungschef und all das nur mit der geringen Anstrengung eines Wahlzettels in einer Urne, mit einem tuit, mit einer Anwesenheit an einer Manifestation, einem Meeting, in der Liste der Mitglieder…..oder durch das Maul halten angesichts der Komödie, die patriotisches Interesse simuliert, wo aber nur Machtgier vorhanden ist. Ob dem so ist oder nicht, das werden uns vielleicht andere Gedanken in diesem Saatbeet sagen. Was wir Zapatistinnen und Zapatisten gelernt haben ist, dass es nicht so ist. Dass von oben nur Ausbeutung, Raub, Unterdrückung und Geringschätzung kommen. Das heisst, von oben kommt nur der Schmerz. Und von oben fordern sie von euch, und sie verlangen, dass ihr ihnen folgt. Ihr schuldet ihnen, dass euer Schmerz weltweit bekannt wurde, dass die Plätze voller Menschen sind, die Strassen voller Menschen, Farben und Ideen, habt ihr ihnen zu verdanken. Ihr seid ihnen zu Dank verpflichtet für ihre Arbeit als Stadtpolizei, die »eingeschleuste-anarchische-grausliche-Pfui Teufel- Typen« erkannte, verfolgte und verteufelte. Ihr seid ihnen zu Dank verpflichtet für die wohlerzogenen Demonstrationen, die Berichte in den Zeitungen, die Farbfotos, die positiven Notizen in den Illustrierten. Wir Zapatistinnen und Zapatisten sagen nur: Fürchtet euch nicht davor allein zu bleiben, wegen derer, die nie wirklich auf eurer Seite gestanden sind. Die verdienen das nicht. Die zu euch kommen, euren Schmerz wie ein ihnen fremdes Schauspiel betrachten, welches gefällt oder missfällt, aber an dem sie nie wirklich echt teilhaben werden. Fürchtet euch nicht, von denen verlassen zu werden, die euch nicht begleiten und unterstützen wollen, sondern euch verwalten, bezwingen, gebrauchen, in die Knie zwingen und dann wegwerfen möchten. Fürchtet euch vielmehr davor, eure Sache zu vergessen, euren Kampf zu verlassen. Aber solange ihr fest bleibt, solange ihr widersteht, werdet ihr die Achtung und Bewunderung vieler Menschen in Mexiko und auf der ganzen Welt haben. Menschen wie die, die heute hier bei uns sind. Wie Adolfo Gilly. Was ich jetzt sage, wollte ich gar nicht sagen. Warum? Weil ursprünglich sowohl Adolfo Gilly als auch Pablo González Casanova gesagt hatten, dass sie vielleicht aus Gesundheitsgründen nicht kommen könnten. Aber hier ist Adolfo und wir bitten ihn jetzt darum, dass er Don Pablo das hier erzählen möge. Der dahingeschiedene SupMarcos erzählte, dass einmal jemand rügte, warum die EZLN Don Luis Villoro, Don Pablo González Casanova und Don Adolfo Gilly so viel Aufmerksamkeit schenkten. Der Vorwurf basierte auf den Differenzen, welche diese drei Personen zu den Zapatist*innen unterhielten, dagegen würden Intellektuelle, die hundertprozentige Zapatist*innen seien, nicht mit derselben Hochachtung behandelt. Ich nehme an, dass der Sup seine Pfeife anzündete und dann erklärte: »Erstens sagte er, die Differenzen die bestehen, beziehen sich nicht auf den Zapatismus, sondern auf die Bewertungen, Analysen und Positionen die der Zapatismus zu den verschiedenen Vorkommnissen einnimmt. Zweitens, setzte er fort, habe ich persönlich diese drei Personen gesehen, wenn sie meinen Compañeras und Compañeros Chefs gegenüberstanden. Hierher sind Intellektuelle gekommen, mit grossem Prestige und andere, nun gut, die nicht so viel Prestige haben. Sie sind gekommen und haben ihr Wort gesprochen. Wenige, sehr wenige haben mit den Comandantes und Commandantas gesprochen. Nur bei diesen drei Personen habe ich gesehen, dass meine Chefs und Chefinnen von gleich zu gleich gesprochen und zugehört haben, vertrauensvoll und voll gegenseitiger Kameradschaftlichkeit. Wie haben sie das gemacht? Hm, da müssten wir sie selbst fragen. Was ich weiss ist die Tatsache, dass es schwierig ist, dass Wort und Gehör meiner Compañeras und Compañeros Chefs zu erlangen, in Achtung und mit Herzlichkeit, das ist sehr sehr schwierig. Drittens, setzte der Sup noch hinzu, irrst du dich wenn du glaubst, dass wir Zapatist*innen Spiegel, Hochrufe und Applaus suchen. Wir würdigen und schätzen die Unterschiede im Denken, klar, wenn es sich um kritisches Denken handelt, gut artikuliert und nicht diese Pfuschereien, die zur Zeit so modern sind bei den progressiven Aufgeklärten. Wir Zapatistinnen und Zapatisten beurteilen nicht, ob ein Denken mit uns überein stimmt oder nicht, sondern ob wir dadurch zum denken angeregt werden oder nicht, ob es uns aufregt oder nicht, aber vor allem, ob es die Realität darstellt. Diese drei Personen, das ist wahr, haben Positionen vertreten, die anders sind als die unseren, oft sogar total konträr. Niemals, niemals waren sie gegen uns. Und trotz der Volatilität der Mode waren sie auf unserer Seite. Ihre Gegenargumente , ja oft so gar widersprüchlich mit den unseren, haben uns zwar nicht überzeugt, aber sie haben uns geholfen zu verstehen, dass es unterschiedliche Positionen und unterschiedliches Denken gibt, und dass es die Realität ist, die bestraft, nicht ein selbsterrichtetes Gericht, sei das in der Akademie, sei das in der Militanz. Das Nachdenken anregen, die Diskussion, die Debatte, das ist etwas, was wir Zapatistinnen und Zapatisten sehr schätzen. Daher rührt unsere Bewunderung für das anarchistische Denken. Es ist klar, dass wir keine Anarchisten sind, aber ihre Vorschläge provozieren und geben Mut, sie machen nachdenklich. Und glaubt mir, das orthodoxe kritische Denken - um es irgendeinen Namen zu geben - hat in dieser Hinsicht noch viel vom anarchistischen Denken zu lernen, und nicht nur in dieser Hinsicht. Nur um ein Beispiel zu nennen, die Kritik des Staates als solcher, ist etwas, das im anarchistischen Denken bereits sehr weit fortgeschritten ist. Aber um auf die 3 Verwünschten zurückzukommen, da sagte der Sup zu dem, der eine zapatistische Rechtstellung forderte, sobald jedweder von euch sich vor jedwedem meiner Compañeras oder Compañeros setzen kann, ohne dass sie sich vor eurem Spott, eurem Urteil, eurer Verurteilung fürchten müssen; sobald ihr erreicht, sie als Gleiche und respektvoll zu behandeln; wenn sie euch dann als Compañeras und Compañeros sehen und nicht als fremde Richter, die sie richten, wie man hier sagt; oder wenn eure Gedanken, ob sie nun mit den unseren übereinstimmen oder nicht, uns helfen, das Funktionieren der Hydra zu entdecken; uns zu neuen Fragen führt; uns neue Wege aufzeigt; uns zum nachdenken veranlässt, oder wenn sie die Analyse eines konkreten Aspekts der Realität erklären oder herausfordern können, dann und nur dann werdet ihr sehen, dass wir euch dieselbe geringe Aufmerksamkeit zollen werden. Bis dahin, fügte der Supmarcos mit diesem bissigen Humor, der ihn kennzeichnete hinzu, lasst ab von diesen heteropatriarchalen, weltlichen, reptilischen und aufgeklärten Eifersüchten. Ich habe diese Anekdote erzählt, die mir der SupMarcos weitergab, denn vor einigen Monaten, als uns eine Delegation der Familienangehörigen, die um Wahrheit und Gerechtigkeit in Ayotzinapa kämpfen besuchte, erzählte uns einer der Väter von dem Meeting, welches sie mit der schlechten Regierung hatten. Ich erinnere mich jetzt nicht mehr, ob es das erste war. Da erzählte uns Don Mario, dass die Beamten mit ihren Papieren und ihrer Bürokratie daher kamen, so als ob sie einen Nummerntafelaustausch bearbeiten würden und nicht einen Fall von gewaltsamer Entführung. Die Familienangehörigen waren aufgebracht und zornig und wollten sprechen, aber der Bürokrat vor ihnen sagte, dass nur die sprechen dürften, die vorangemeldet waren und er schüchterte sie ein. Don Mario erzählte weiter, dass sie von einem alten Mann begleitet wurden, ´einen weisen´, so würden das die Zapatistinnen und Zapatisten nennen. Ohne dass es jemand erwartete, schlug dieser Mann mit der Faust auf den Tisch, erhob die Stimme und forderte, dass alle Familienangehörigen die es wünschten, sprechen dürften. Don Mario erzählte weiter: »dieser Mann hat keine Angst gehabt, und so ist auch uns die Angst vergangen und wir haben gesprochen, und seit damals haben wir nicht mehr aufgehört zu sprechen«. Dieser Mann, der sich voller Zorn dem Schlendrian in der Regierung entgegenstellte, es hätte auch eine Frau sein können, oder eineRe und ich bin sicher, jeder von Ihnen hätte dasselbe getan, in so einer oder einer ähnlichen Situation, aber es war so, dass es dieses Mal einen war, der Adolfo Gilly heisst. Compas Familienangehörige: Das haben wir gemeint wenn wir sagen, dass es Menschen gibt, die mit euch sind, ohne dass sie euch sehen, wie eine Ware die man kauft, verkauft, austauscht oder stiehlt. Und wie ihn gibt es andere Männer und Frauen und AndereRe, die nicht auf den Tisch schlagen, weil sie keinen vor sich haben, aber wehe, wenn dann würde man es sehen. Als Zapatist*innen haben wir auch die Erfahrung gemacht dass alles was wir verdienen und benötigen, nicht leicht zu erreichen ist. Denn die Hoffnung ist für die von oben eine Ware, ja. Aber für die von unten ist sie ein Kampf um eine Wahrheit: Wir werden erhalten, was wir verdienen und brauchen, weil wir uns organisieren und darum kämpfen. Unser Schicksal ist nicht Glück. Unser Schicksal ist kämpfen, immer kämpfen, zu jeder Stunde, jeden Moment, überall. Macht nichts, wenn der Wind nicht zu unseren Gunsten bläst. Es macht nichts, wenn wir den Wind und alles als Gegner haben. Es macht nichts, wenn der Sturm kommt. Denn ob ihr es glaubt oder nicht, die Originalvölker sind Spezialisten was Stürme betrifft. Und da sind sie. Da sind wir. Wir nennen uns Zapatist*innen. Seit mehr als 30 Jahren zahlen wir den Preis dafür, im Leben und im Tod. Das Viele das wir haben, das heisst, unser Überleben - trotz allem und trotz aller oben, die aufeinander folgten im Kalender und in der Geographie - verdanken wir nicht Individualitäten. Das verdanken wir unserem gemeinsamen und organisierten Kampf. Wenn jemand fragt, wem die Zapatistinnen und Zapatisten ihre Existenz, ihren Widerstand, ihre Rebellions, ihre Freiheit zu verdanken haben, wäre die richtige Antwort: »NIEMAND«. Denn so funktioniert es, wie das Kollektiv die Individualität annulliert, denn diese zwingt auf und verdrängt und verhängt und simuliert, dass sie leitet und vertritt. Daher haben wir gesagt, Familienangehörige, Suchende der Wahrheit und Gerechtigkeit, wenn alle von eurer Seite gewichen sind, werden wir bleiben NIEMAND. Ein Teil dieser NIEMAND, vielleicht der kleinste, sind wir Zapatistinnen und Zapatisten. Aber es gibt mehr, viel mehr. NIEMAND, das sind die, die das Rad der Geschichte antreiben. NIEMAND ist, wer den Boden bearbeitet, die Maschinen betreibt, wer errichtet, wer arbeitet, wer kämpft. NIEMAND ist, wer die Katastrophe überlebt. Aber vielleicht irren wir uns und der Weg, den sie euch vorschlagen, ist der richtige. Wenn ihr das glaubt und so entscheidet, erwartet von uns hier kein gegenteiliges Urteil , keine Verachtung, keine Abweisung. Wir werden euch deshalb genauso schätzen, lieben, bewundern. -*- Familienangehörige der Fehlenden von Ayotzinapa: So viel können wir nicht machen, können wir euch nicht geben. Dagegen haben wir aber eine Erinnerung, die in Jahrhunderten des Schweigens und der Verlassenheit geformt wurde, in der Einsamkeit, auf dem Platz des Angegriffenen, durch unterschiedliche Farben, durch unterschiedene Fahnen, durch unterschiedliche Sprachen. Immer vom System, dem teuflischen System, das über uns droht. Dem System, welches auf unsere Kosten existiert. Und vielleicht füllt dieses sture Erinnern keine Plätze, noch gewinnt es oder kauft es Regierungsposten, noch besetzt es Paläste, auch zündet es keine Fahrzeuge an, schlägt keine Fensterscheiben ein, stellt auch keine Monumente in den vergänglichen Museen der Social Media auf. Das trotzige Erinnern vergisst nur nicht und so kämpft es. Plätze und Strassen leeren sich wieder, Posten und Regierungen nehmen ein Ende, Paläste stürzen ein, Fahrzeuge und Fensterscheiben werden ausgetauscht, Museen werden modrig, die Social Networks rennen von der einen Seite auf die andere und zeigen dass die Frivolität, so wie der Kapitalismus massiv und gleichzeitig stattfinden können. Aber es kommt die Zeit, Compas Familienangehörige der Fehlenden, wenn die Erinnerung das einzige ist, was man hat. Und in diesen Zeiten, das sollt ihr wissen, werdet ihr auch uns Zapatistinnen und Zapatisten der EZLN haben. Denn wir müssen euch sagen, dass die stetige Erinnerung der Zapatistinnen und Zapatisten eine ganz andere ist. Denn sie schreibt nicht nur die Schmerzen und die Wut aus der Vergangenheit auf und zeichnet im Heft die Landkarten und Kalender und Geographien die von oben vergessen wurden. -*- Die Mauer und der Riss. Als Zapatist*innen, die wir sind, schaut unsere Erinnerung auch auf das was kommt. Weist auf Daten und Orte hin. Wenn es keinen geographischen Punkt fuer dieses morgen gibt, beginnen wir, Zweige, Steinchen, Fetzen von Kleidern und Fleisch, Knochen und Ton zusammenzutragen, und dann beginnen wir mit der Errichtung einer kleinen Insel, oder besser gesagt, eines Bootes, das wir mitten ins Morgen stellen, dort, wo jetzt nur ein Sturm erahnbar ist. Und wenn es keine Stunde, Tag, Woche, Monat, Jahr in dem bekannten Kalender gibt, gut denn, dann beginnen wir, Bruchteile von Sekunden, gar Minuten zusammenzufügen, und wir kleben sie zusammen für die Risse, die wir in der Mauer der Geschichte öffnen. Und wenn es keinen Riss gibt, gut, dann machen wir ihn, mit Kratzen, mit Beissen, mit Fusstritten, mit Schlägen der Hand und des Kopfes, mit dem ganzen Körper, bis wir es schaffen, der Geschichte diese Wunde zuzufügen, die wir sind. Und dann kann es sein, dass jemand in der Nähe vorbei kommt und uns sieht, sieht die Zapatistin, den Zapatisten, wie sie hart auf die Mauer einschlagen. Wer so bei uns vorbei geht, ist manchmal jemand der/die glaubt, dass er/sie versteht. Er/sie hält einen Moment inne, schüttelt den Kopf voller Missfallen, richtet und urteilt:: »so werden sie die Maurer nie zu Fall bringen«. Aber manchmal, sehr sehr selten, kommt einer, eine, eineRe vorbei. Hält an, schaut, versteht, schaut auf seine Füsse, auf seine Hände, auf seine Fäuste, seine Schultern und seinen Körper. Und trifft seine Wahl. »Hier passt es«, würden wir hören, wenn sein/ihr Schweigen hörbar wäre, während er ein Zeichen in die unbewegliche Mauer macht. Und darauf eindrischt. Da kommt der/die zurück, der/die glaubt, dass er/sie versteht, denn sein/ihr Weg ist immer hin und retour, wie einer, der seine Untergebenen überprüft. Da sieht er den/die andereN, bei derselben dummen Arbeit. Er/sie schätzt ab, ob es genügend gibt, die ihm/ihr Applaus spenden, Bravo rufen, wählen, folgen. Er/sie spricht viel und sagt wenig: »so werden sie nie diese Mauer niederreissen, das ist unmöglich, sie ist ewig, ohne Ende« Falls es ihm/ihr vorteilhaft erscheint, schliesst er/sie: »was ihr machen solltet ist zu schauen, wie die Mauer verwaltet werden kann, den Wächter austauschen, versuchen, sie ein wenig gerechter zu machen, liebenswürdiger. Ich verspreche, dass ich sie weicher mache. Denn auf jeden Fall sind wir immer auf dieser Seite. Wenn ihr so weiter macht, dann spielt ihr nur der aktuellen Verwaltung, Regierung, Staat oder wie sie sonst noch heissen mögen zu, der Unterschied ist nicht wichtig, denn die Mauer ist die Mauer und immer – hört ihr es? – immer wird sie da sein«. Vielleicht nähert sich noch jemand. Beobachtet schweigend und stellt fest: »anstatt sich gegen die Mauer aufzulehnen müsst ihr verstehen, dass alle Veränderung in einem/einer selbst liegt, es bedarf nur des positiven Denkens, sehen Sie, welcher Zufall, ich habe hier gerade diese Religion, Mode, Philosophie, Alibi an der Hand, das wird Ihnen helfen. Egal ob alt oder neu. Kommen Sie, folgen Sie mir«. Währenddessen sind die, die auf die Mauer einschlagen besser organisiert, sie gründen Kollektive, Teams, sie lösen sich ab, teilen auf. Es gibt dicke, schlanke, grosse und kleine Teams; da gibt es die Schmutzigen, die Hässlichen, die Bösen und die Frechen; es gibt die Dickköpfigen, die Grossfüssigen, . die mit den schwieligen Arbeitshänden, da sind die Männer, Frauen, AnderEr, die ihre Schulter, ihren Körper, ihr Leben einsetzen. Hart angreifen, mit allem was dazu möglich ist. Es gibt die mit einem Buch, einem Pinsel, einer Gitarre, einer Drehscheibe, ein Gedicht, einer Hacke, einem Hammer, einem Zauberstab, einem Bleistift. Also, es gibt sogar jemand, der gegen die Mauer schlägt mit einem »pas de chat«. Und gut, dann kommt was kommen muss. Denn es ist so, dass der Tanz ansteckend ist. Und dann kommt jemand mit einer Marimba, einem Key-board oder einem Fussball und dann die Teams… gut, das Weitere könnt ihr euch ja vorstellen. Klar, an der Mauer prallt das alles ab. Sie ist weiterhin unbeweglich, mächtig, unbewegt, taub und blind. Und dann kommen die bezahlten Kommunikationsmedien daher: sie fotografieren, machen Videos, sie interviewen sich gegenseitig, befragen die Spezialisten. Die Spezialisten, allesamt, deren Haupttugend darin besteht, dass sie aus einem anderen Land sind, erklären, den Blick verklärt himmelwärts gerichtet, dass die molekulare Zusammensetzung der Materie, die der Mauer ihre Leiblichkeit verleiht derart ist, dass nicht einmal eine Atombombe und dass, und daher, was der Zapatismus macht, ist völlig unproduktiv und endet schlussendlich darin, Komplize der Mauer zu sein (bereits im off, die Spezialistin hat die Person, die sie interviewt, darum gebeten, ihr einziges Buch zu erwähnen, vielleicht wird dann doch das eine oder ander Stück davon verkauft). Der Aufmarsch der Spezialist*innen geht weiter. Alle kommen zum gleichen Schluss: es handelt sich um eine sinnlose Anstrengung, so werden sie die Mauer nie zum einstürzen bringen. Schnell rennen die Medien zum Interview mit denen, die eine ´humanere´ Verwaltung der Mauer anbieten. Der Tumult der Kamaras und Mikrophone verursacht einen seltsamen Effekt: wer weder Argumente noch followers hat, erweckt den Anschein, als habe er viele, sowohl von den ersteren als auch vom zweiten. Grosse und berührende Ansprache. Die Nachricht erscheint. Die bezahlten Kommunikationsmedien gehen weg, denn niemand achtete darauf, was der Kandidat, der Leader, der Weise sagte, sie beachteten dagegen ihre Telephone, die – eh klar – zumindest intelligenter sind als der oder die Interviewte, und dort gibt es nichts anderes als ein Erdbeben, und von jenem Beamten haben sie Korruption aufgedeckt, und James Bond ist am Zocalo, und der Kampf des Jahrhunderts hat Millionen angelockt, vielleicht weil sie dachten, dass er zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern stattfände. Die Zapatistin, den Zapatist fragt niemand. Wenn sie sie fragen würden, gäben sie vielleicht keine Antwort. Oder vielleicht würde er/sie den Grund dieser absurden Anstrengung nennen: »ich will vielleicht die Mauer niederreissen, es reicht, einen Riss hinein zu machen« Es stand nicht in den geschriebenen Büchern, sondern in denen, die noch nicht geschrieben sind aber bereits von Generationen gelesen wurden, dass die Zapatistinnen und Zapatisten etwas gelernt haben, nämlich wenn du aufhörst, am Riss zu kratzen, dann schliesst er sich wieder. Die Mauer repariert sich selbst. Daher heisst es ohne Ausruhen weitermachen. Nicht nur, um den Riss zu erweitern sondern vor allem, dass er sich nicht wieder schliesst. Die Zapatistin, der Zapatist, sie wissen auch, dass die Mauer ihr Aussehen ändert. Manchmal ist sie wie ein grosser Spiegel, der das Bild von Zerstörung und Tod widerspiegelt, so als ob nichts anderes möglich wäre. Dann schaut die Mauer wieder angenehm aus und auf seiner Oberfläche erscheint eine beruhigende Landschaft. Dann ist sie wieder hart und grau, so als ob sie ihre undurchdringliche Festigkeit beweisen wolle. Aber meistens ist die Mauer eine grosse Annoncetafel auf der steht: »F-O-R-T-S-C-H-R-I-T-T«. Aber der Zapatist, die Zapatistin wissen, dass das eine Lüge ist. Sie wissen, dass die Mauer nicht immer hier war. Sie wissen, wie sie entstanden ist. Sie wissen, wie sie funktioniert. Sie kennen ihre Täuschungen. Und sie wissen auch, wie man sie zerstört. Weder die angebliche Allmacht noch die angebliche Ewigkeit der Mauer beunruhigt sie. Sie wissen, dass beides nicht wahr ist. Aber im Moment ist das wichtigste der Riss, dass er sich nicht schliesst sondern grösser wird. Denn der Zapatist, die Zapatistin wissen auch, was es auf der anderen Seite der Mauer gibt. Würde man sie darum fragen, würden sie antworten »nichts«, aber ihr Lächeln bedeutet so viel als würden sie »alles« sagen. In einer der Pausen, interviewen die Tercios Compas - die weder Medien sind, noch frei, noch autonom, noch alternativ, weder wie sie sonst noch heissen mögen, aber sie sind Compas – mit strenger Miene jemand, der einschlägt. »Wenn du sagst, dass es auf der anderen Seite nichts gibt, warum willst du dann einen Riss in die Mauer machen?« »Um zu schauen« antwortet der Zapatist, die Zapatistin, ohne mit dem Kratzen innezuhalten. »Und warum möchtest du schauen?« bohren die Tercios Compas weiter, die jetzt alleine hier sind, nachdem alle anderen Medien bereits weggegangen sind. Und um das zu verdeutlichen, tragen sie am Hemd die Aufschrift »Wenn die Medien weg gehen, bleiben die Tercios«. Und natürlich, sie fühlen sich ein wenig unbequem, denn sie sind die einzigen, die fragen anstatt auf die Mauer loszugehen entweder mit der Kamera oder mit dem Aufnahmegerät oder endlich-weiss-ich-wozu-zum-Teufel-dieses-verfluchte tripie-dient. Die Tercios fragen nochmals, eh klar. Obwohl das nur bis zum Kopf kommt, denn das Aufnahmegerät hat bereits seinen Geist aufgegeben, über die Kamera sprechen wir besser gar nicht mehr, und das dreifüssige Stativ ist einfach ein Tausendfüssler geworden. So wiederholen sie: »Wozu willst du schauen?« »Um mir alles vorzustellen,was wir morgen machen können«, antwortet der Zapatist, die Zapatistin. Und wenn der Zapatist, die Zapatistin »morgen« sagte, dann konnte es sehr gut sein, dass er/sie sich auf einen Kalender bezog, verloren in einer Zukunft die kommen wird. Das können Jahrtausende sein, Jahrhunderte, Jahrzehnte, Jahre, Monate, Wochen, Tage… oder morgen? morgen? morgen? Waaaas? Bist du wahnsinnig! Ich habe mich noch nicht mal frisiert! Aber nicht alle sind daran vorbeigegangen. Nicht alle sind vorbei gegangen und haben gerichtet und verurteilt oder freigesprochen. Es gab wenige, es gibt wenige, sehr wenige, so wenige dass sie mit einer Hand abgezählt werden können. Sie waren da, schweigend, schauend. Sie sind weiterhin da. Nur manchmal hört man von ihnen ein »mmh« , das klingt sehr ähnlich wie die Ausdrücke der ältesten Bewohner*innen unserer Comunidades. Vielleicht glaubt jemand, dass »mmh« fehlendes Inreresse oder Abneigung bedeutet, aber dem ist nicht so. Es bedeutet auch nicht Ablehnung oder Zustimmung. Viel mehr ein »hier bin ich, ich höre dich, ich schaue dich an, mach weiter«. Diese Männer und Frauen sind schon älter, »weise« sagen die Compas, wenn sie von alten Menschen sprechen um damit auszudrücken, dass die im Kampf abgerissenen Kalenderblätter Verstehen, Wissen und Diskretion bedeuten. Unter diesen vielen gab es einen, gibt es einen. Manchmal reiht sich dieser Eine in das Fussball-Team ein, welches der Anti-Mauer Teamchef organisiert um weiter darauf einzuschlagen, obwohl es dann ein Fussball sein kann und dann schlägt er auf die Tasten der Marimba. Wie gewöhnlich fragt man in diesem Spiel um keinen Namen. Einer, eine oder EineRe heisst weder Juan oder Juana oder Krishna, nein. Du wirst nach deiner Stellung benannt. »Hör her Tormann! Hierher Stürmer! Drauf los Vertediger! Gib Gas Linksaussen! Weiter Rechtsaussen!« hört man die Schreie auf der Kuhweide, und die Kühe sind leicht indigniert, denn durch das Hin-und Herlaufen der Teams wird ihr Fressen zertreten. An einem Rand ist ein Mädchen voller Ungeduld damit beschäftigt, sich die Gummistiefel anzuziehen, die offensichtlich eine Nummer zu gross sind. »Und du, wie heisst du denn?« fragt der Mann das Mädchen. »Ich zapatistische Abwehr« sagt das Mädchen und setzt ihr Gesicht auf, welches ausdrücken möchte«wenn du nicht sterben willst, ziehe dich zurück«. Der Mann lächelt. Er lacht nicht offen. Er lächelt nur. Das Mädchen, ganz klar, ist dabei, Elemente zu reklutieren, um herausfordern wer verloren hat. Ja, denn wenn hier das Team gewinnt, dann geht es auf die Mauer los, ganz fest. Das Verlierer-Team muss weiterspielen »bis sie es lernen« sagen sie hier dazu. Das Mädchen hat bereits einen Teil des Team und sie protzt damit. »Das ist der Stürmer«, sagt sie und zeigt auf einen Hündchen einer undefinierbaren Farbe wegen seiner verkrusteten Dreckflecken und er bewegt den Schwanz voller Begeisterung. »Ja er läuft, er bleibt kaum stehen, er geht weiter und weiter, bis dorthin« und das Mädchen zeigt mit dem Finger auf den Horizont, den die Mauer verdeckt. »Wenn er nur nicht auf den Ball vergisst«, sagt sie fast mit einem entschuldigenden Ton, »denn dann nimmt er einen anderen Weg, der Ball bleibt vergessen und der Hund der Stürmer ist, hält den anderen dort an«. »Das ist der Tormann, aber ich glaube, sie nennen ihn auch Pförtner« sagt sie und zeigt auf ein altes Pferd, ein echt altes. »Meine Aufgabe«, erklärt das Mädchen »besteht darin, nicht zuzulassen, dass der Ball vorbei fliegt, denn sehen Sie nur, er ist halbblind, es fehlt ihm ein Auge, sein rechtes, deshalb schaut er nur mehr nach unten und links, und wenn der Schuss von rechts kommt, na dann, merkt er es gar nicht«. »Nun gut, jetzt ist nicht das gesamte Team hier. Es fehlt die Katze… gut, besser gesagt der Hund. Ganz anders ist der wie-heisst-er-sie-nur, schaut aus wie ein Hund, aber miaut wie eine Katze, aber sie bellt. Ich habe im Pflanzenbuch nachgeschaut, wie so ein Tierchen heisst. Habe nichts gefunden. Pedrito sagte, dass der Sup gesagt hätte, es heisst Katze-Hund. Aber dem Pedrito darf man nicht alles glauben denn…« das Mädchen schaut nach links und rechts, nachdem sie sieht, dass niemand in der Nähe ist, der sie hören könnte, flüstert sie dem Mann zu »dieser Pedrito ist nämlich ein Anhänger von der América«, dann, mit mehr Selbstvertrauen sagt sie: »Sein Vater ist ein Chivas-Fan und wird ganz wild dabei. Dann streiten sie und seine Mama geht dann auf beide los und dann sind sie sofort wieder ruhig. Aber der Pedrito, gross reden von der Freiheit nach den Zapatillas und was weiss ich sonst noch« »Du meinst wohl Zapatistas« korrigiert der Mann. Das Mädchen üeberhört das geflissentlich, der Pedrito schuldet ihr was und der wird es schon noch kriegen. »Gut, wie heisst denn du, die/der Katze/Hund da, was denkst du denn? Kann sie/er spielen?« »Wer weiss« antwortet sie sich selbst. »Nachdem der Feind nicht weiss, ob er einen Hund oder eine Katze sieht, dreht er sich schnell auf eine andere Seite und zás! Goool. Vor einigen Tagen haben wir fast gewonnen, aber der Ball ist ins Gebüsch geflogen und da kam die Pozol-Pause und das Spiel wurde unterbrochen. Also du, ich sage dir, dieseR Katze-Hund oder wie-er-sie-heisst, was weiss ich. So ganz anders, dieseR Katze-Hund-dieseR, hat ein gelbes Auge, so ». Der Mann zuckt wie elektrisiert zusammen. Das Mädchen hat mit ihren Händchen eine Farbe beschrieben. Der Mann hat die ganze Welt bereist und mehr. Aber noch nie hat er jemand gefunden, der ihm eine Farbe mit einer Bewegung beschrieben hätte. Aber das Mädchen ist nicht da, um einen Kurs über die Phänomenologie der Farben zu halten und spricht weiter. »Aber die/der Katze-Hund ist jetzt nicht da« sagt sie bedauernd. »Ich glaube, dass sie/er weg ist, um Pfarrer zu werden, in einem Seminar gegen den verdammten--Kapitalismus-Dickkopf. Weisst du wie der ist, dieser verdammte--Kapitalismus-Dickkopf? Gut schau, ich werde dir einen politischn Vortrag halten. Es ist so, dass das verdammte System dich nicht nur in eine Seite beisst, sondern von allen Seiten bescheisst es dich. Alles beisst es, dieses Scheiss-System, alles frisst es auf und wenn es bereits sehr fett geworden ist, dann speit es und dann geht es mit der Fresserei weiter. Das heisst, damit du mich besser verstehst, der verdammte Kapitalismus hat nie genug. Daher sagte ich zur/zum Katze-Hund da, warum gehst du um Pfarrer zu werden in ein Seminar. Aber sie/er folgt ja nicht. Glauben Sie, dass eine/ein Katze-Hund Pfarrer wird? Nein nicht whar? Nicht durch viele Goals, nicht durch viele gelbe Augen. Würdest du zulassen, dass eine/ein Katze-Hund dich verheiratet,, auch wenn sie/ere in gelbes Auge hat. Nein nicht wahr? Daher, wenn wir heiraten, mein Mann und ich, dann wollen wir nichts vom Pfarrer wissen, nur die autonome Gemeindestandesbeamtin und das auch nur wegen des Tanzes, nur deshalb. Nur mit Erlaubnis, damit sie nicht über uns reden. Ganz allein, ich und mein dieser-wie-sagt – man-nur, und wenn der Mann für nichts nutz ist, dann kann er abrauschen. So sagt meine Grossmutter, die schon alt ist, aber ja, sie hat am 1. Jänner 1994 gekämpft. Weisst Du nicht, was am 1. Jänner 1994 passiert ist?Ok, später singe ich dir ein Lied, wo alles ganz klar erklärt wird. Jetzt nicht, vielleicht müssen wir bald spielen und dafür muss ich bereit sein. Aber damit du nicht über diesr offene Angelegenheit nachsinnieren musst, sage ich dir, dass wir an jenem Tag den verdammten verfluchten schlechten Regierungen gesagt haben, dass es reicht, bis hierher und nichtt weiter, es reicht mit ihren Schweinereien. Und meine Grossmutter sagt, es war wegen der Frauen, wenn es auf die verdammten Männer angekommen wäre, dann wären wir weiterhin dort, nichts als Mitleidsobjekte, ganz gleiche wie die, die den Parteien nachlaufen. Gut, bisher habe ich noch niemand gefunden, der mir als Ehemann passen würde, denn die Männer sind ziemlich lahmarschig, sollst du mal sehen. Und jetzt bin ich ja noch ein Kind. Aber bald werden sie mich anschauen, sehr viel sogar, die verdammten Männer, aber ich, ernst, nichts von wegen, ich weiss nicht, ich werde, wie man so schön sagt, mir meinen Platz erobern und wenn der verdammte Ehemann zu weit gehen will, gut, dafür gibt es die zapatistische Verteidigung, dann kriegt er seinen zape und zum Teufel, er muss mich als zapatistische Frau respektieren, die ich bin. Natürlich, er wird es nicht gleich kapieren, und so braucht er mehrere zapes, bis er den Kampf versteht, den wir Frauen führen. Der Mann hat den Redeschwall des Mädchens aufmerksam verfolgt. Nicht so das Hündchen mit den verkrusteten Dreckflecken, wer weiss, wo das umgeht. Noch das einäugige Pferd, das andächtig an einem Plastikstück kaut, Überbleibsel der Schüler der kleinen Schule. Trotz alledem, der Mann lachte nicht, er schaffte es gerade, so schnell mit den Augen zu blinzeln, wie seine Überraschung gross war. »Wir werden bald mehr sein«, versichtert das Mädchen »das dauert vielleicht eine Weile, aber bald werden wir mehr sein«. Der Mann versteht, dass das Mädchen sich jetzt auf ihr Team bezieht. Oder nicht? Aber das Mädchen sieht den Mann jetzt mit Argusaugen an und nach einigen »mmh« stösst sie hervor »Und du, wie heisst du denn?«. »Ich?« fragte der Mann gedehnt und wusste, dass sie nicht seinen Stammbaum noch sein Wappen kennenlernen wollte, sondern seine Stellung. Nachdem der Mann geistig alle Optionen durchgegangen war sagte er: »ich heisse Ballaufsammler«. Das Mädchen schweigt und schätzt die Nützlichkeit dieser Position ab. Nach kurzem Nachdenken sagt sie zum Mann, nicht um ihn zu trösten, sondern damit er sich seiner Bedeutung bewusst wird: »Ballaufsammler, das kann nicht jeder sein. Sehen Sie, wenn der Ball dort hin fliegt, dort beim Acahual-Gras, vergiss es, da will keiner hin, dort ist es echt wild, voller Dornen, viele mostazilla, Spinnen, ja sogar Schlangen gibt es dort. Oder wenn der Ball in den Bach fliegt, und man erwischt ihn nicht, weil das Wasser ihn wegschwemmt, dann muss man echt laufen, um den Ball zu erwischen. Das heisst, Ballaufsammler sein ist wichtig, klar natürlich. Ohne Ballaufsammler gibt es einfach kein Spiel. Und wenn es kein Spiel gibt, dann gibt es kein Fest danach, und wenn es kein Fest gibt, dann gibt es keinen Tanz danach, und wenn es keinen Tanz gibt, dann habe ich mich für nichts und wieder nichts frisiert, und für nichts und wieder nichts die schönen Haarspangen aufgesteckt, die färbigen, schau mal da sind sie«, sagt das Mädchen und zieht aus ihrer Umhängetasche mit den verschiedensten Farben, so viele, das es sie noch gar nicht alle gibt. »Nicht jeder kann Ballsammler sein«, wiederholt das Mädchen und sie umarmt den Mann, nicht um ihn zu trösten sondern um ihm zu zeigen, dass alles, was Wert ist getan zu werden, im Team gemacht werden muss, im Kollektiv, jedem und jeder kommt seine/ihre Arbeit zu. »Ich würde es gerne machen, aber nein. Ich habe so viel Angst vor den Spinnen und den Schlangen. Vor ein paar Tagen habe ich gar einen ganz bösen Traum gehabt, schuld daran war die verdammte Schlange, die ich auf der Kuhweide gesehen habe. So gross« und sie dehnt ihre Arme so weit aus wie sie kann. Der Mann lächtelt weiter. Das Spiel ist zu Ende, das Mädchen musste das Team nicht verstärken zwecks der Herausforderung und sie ist auf dem Boden eingeschlafen. Der Mann steht auf und bedeckt sie mit seiner Jacke, denn der Abend bricht herein mit der Frische, die die Erde braucht. Vielleicht wird es sogar regnen. Ein Miliciano kommt jetzt mit dem Ausweis zurück, den die Junta de Buen Gobierno verlangte. Der Mann wartet, bis er daran ist. Endlich wird sein Name aufgerufen und er geht nach vorne um seinen Pass abzuholen auf dem steht »República Oriental del Uruguay«. Drinnen ist ein Foto eines Mannes dessen Gesicht ungefähr folgendes ausdrückt »Was zum Teufel mache ich denn eigentlich hier?« und unter ´Name´ steht »Hughes Galeano, Eduardo Germán María«. »Hören Sie mal« fragt ihn der Miliciano, »haben Sie diesen Namen zu Ehren unsers Kampfgenossen Sergeant Galeano gewählt?«. »Ja, ich glaube schon«, antwortet der Mann, während er nachdenklich seinen Pass entgegennimmt. »Ach«, sagt der Miliciano, »das habe ich mir ohnehin so gedacht«. »Hören Sie und Ihr Land, wo ist denn das genau?« Der Mann schaut den zapatistischen Milizionär an, schaut auf die Mauer, schaut auf die Menschen, die wild am Riss graben, schaut auf die Kinder die spielen und tanzen, schaut auf das Mädchen, das versucht, mit dem kleinen Hund zu sprechen, mit dem halbblinden Pferd und dem Tierchen, welches gut eine Katze sein könnte oder ein Hund und sagt resigniert: »auch hier«. »Ach so« sagt der Milizionär »und was machen Sie?« »Ich?«, und der Mann sucht eine Antwort, während er sich seinen Rucksack schultert. Und plötzlich, so als ob er erst jetzt alles verstehen würde, antwortet er mit einem Lächeln »Ich bin derBallaufsammler«. Der Mann entfernte sich und hörte nicht mehr, wie der zapatistische Militionär bewundern murmelte: »Ach, ein Ballaufsammler, das kann nicht jeder sein«. Bei der Aufstellung sagt der Milizionär zum anderen: »Hör mal Galeano, heute habe ich einen aus der Stadt kennengelernt, der hat deinen Namen angenommen«. Der Sergeant Galeano lächelt und antwortet »nein, das glaube ich nicht, warum sollte er das denn machen?«. »Ist doch eh klar«, sagt der Milzionär, »woher würde er denn sonst den Namen nehmen, dieser Herr da«. »Ach wirklich«, sagt der Sergeant der Miliz und Lehrer der kleinen Schule Galeano , »und was ist er denn, dieser Mann?«. »Er ist Ballaufsammler« sagt der Miliciano und rennt los, um noch Pozol zu erwischen. Der Miliz-Sergeant Galeano nimmt sein Notizheft, steckt es in seine Umhängetasche und sagt wie zu sich selbst: »Ballaufsammler, wie wenn das so leicht wäre. Das können nicht viele. Um Ballaufsammler zu sein, braucht man ein grosses Herz, das ist genau so wie Zapatist*in sein, auch Zapatist*in sein, das können nicht viele. Obwohl, das ist schon auch wahr, dann gibt es die, die nicht wissen, dass sie Zapatist*in sind….bis er/sie es dann bemerken«. -*- Vielleicht glaubt ihr mir nicht, aber das, was ich euch erzählt habe, geschah vor kurzem, vor einigen Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, Jahrhunderten, damals als die April-Sonne die Erde ohrfeigte, nicht um ihr weh zu tun, sondern um sie aufzuwecken. -*- Schwestern und Brüder, Familienangehörige der Fehlenden von Ayotzinapa: Euer Kampf ist bereits ein Riss in der Mauer des Systems. Lasst nicht zu, dass Ayotzinapa abgeschlossen wird. Durch diesen Riss atmen nicht nur eure Söhne, auch die Tausende von vermissten Männern und Frauen, die auf der Welt fehlen. Damit sich dieser Riss nicht schliesst, damit dieser Riss tiefer und breiter wird, habt ihr in uns Zaptist*innen Mitstreiter im gemeinsamen Kampf: der, der den Schmerz in Wut verwandelt, die Wut in Rebellion, und die Rebellion in ein Morgen. SupGaleano. Mexiko, 3. Mai 2015. Quelle: http://enlacezapatista.ezln.org.mx/2015/05/03/el-muro-y-la-grieta-primer-apunte-sobre-el-metodo-zapatista-supgaleano-3-de-mayo/