Donnerstag, 28. Mai 2015
[Chiapas98] San Quintín: Unverantwortliche Trägheit (Poonal Nr. 1143 v. 17.5.2015)
San Quintín: Unverantwortliche Trägheit
Sonntag, den 17. Mai 2015
von Luis Hernández Navarro
(Mexico-Stadt, 12. Mai 2015, la jornada).- Von der Zermürbung zur Repression, von der Trägheit zum Hohn. So kann die Regierungsstrategie für die „Lösung“ des Landarbeiterkonfliktes von San Quintín zusammengefasst werden. Fast zwei Monate sind vergangen, seit am 17. März tausende Landarbeiter*innen dieser Enklave für den Agrarexport einen Generalstreik ausriefen, um die von ihnen erlittene brutale Arbeitsausbeutung an den Pranger zu stellen und eine würdige Lohnerhöhung einzufordern. Statt auf die Forderungen der Bewegung einzugehen hat die Regierung von Enrique Peña Nieto zuerst auf deren Schwächung und Entmutigung und dann auf ihre gewaltsame Eindämmung gesetzt.
Aber weder das eine noch das andere Manöver hat gewirkt, um den Protest der Landarbeiter*innen zu zerschlagen. Obwohl bereits acht Wochen des Streikkampfes herum sind, wird dieser aufrecht erhalten. Grund dafür sind der moralische Überdruss angesichts dieser brutalen Arbeitsausbeutung und ein Organisationsnetzwerk auf gemeinschaftlicher Grundlage, das geeint und kräftig ist. Dies zeigte sich bei den repressiven Maßnahmen vom 9. Mai. An diesem Tag schlug die Präventivpolizei des Bundesstaates Baja California unter dem Vorwand, dass ein Feld in Brand gesteckt werden sollte, auf die Bewohner*innen der Triqui-Siedlung von Nuevo San Juan Copala ein. Letztere waren dabei, die Landarbeiter*innen aufzufordern, den Streik fortzusetzen. Die Bewohner*innen reagierten mit Wut und boten den Uniformierten die Stirn.
Bewohner*innen verbinden Tradition mit Moderne
Nuevo San Juan Copala ist eine Siedlung im Tal von San Quintín. 2010 zählte sie etwas mehr als 1.600 Einwohner*innen, mehrheitlich von der Ethnie der Triquis. Der Name bezieht sich auf die Herkunftsgemeinde ihrer Gründer*innen aus Oaxaca. Formal entstand die Siedlung 1997 auf einem von den Landarbeiter*innen besetzten Gelände. Diese waren auf der Suche nach würdigen Unterkünften gewesen und aus den bedrückenden Tagelöhner-Lagern geflüchtet. Seitdem setzten die Bewohner*innen mit ihrem kollektive Vorgehen grundlegende Dienstleistungen und Infrastruktur durch: eine geordnete Grundstücksverteilung, Straßenbeleuchtung, Trinkwasser, Schulen und Straßenverbesserungen. Gleichzeitig gaben sich die Triquis eine politische Vertretungsstruktur.
Die Siedler*innen, so erklärt es Abbdel Camargo in der Veröffentlichung „Siedlung und gemeinschaftliche Organisation“, haben eine politische und gemeinschaftsorientierte Organisationsform entwickelt, die traditionelle Organe der Autoritäten in ihren Herkunftsorten mit neu geschaffenen Einrichtungen verbindet. Diese Neuerfindung der Tradition hat ihnen erlaubt, sich neue Niederlassungsräume anzueignen und kollektive Praktiken zu entwickeln. So schaffen sie nicht nur eine starke kulturelle Identität, sondern stärken auch die (Ver-)Handlungsfähigkeit. Das normative Leben der Siedlung, erläutert Camargo, richtet sich an drei traditionellen Figuren der Herkunftsgemeinden aus. Es gibt die traditionelle Autorität als politische Vertretung und Vermittlungsinstanz der Gemeinde. Dazu kommt der Ältestenrat, der bei wichtigen Angelegenheiten der Siedlung orientiert und seine Meinung äußert. Schließlich existiert das System der „Mayordomías“, die mit der Organisation und Ausrichtung der Feste zu Ehren des Schutzheiligen beauftragt sind.
Polizeigewalt als gescheiterte Strategie
Die Polizei des Bundesstaates Baja California attackierte die Bewohner*innen von Nuevo San Juan Copala, um ihr Engagement zu schwächen und ein Signal an die streikenden Landarbeiter*innen von San Quintín zu senden. Doch vor dem geschilderten Hintergrund stieß sie auf eine starke gemeinschaftliche Organisation, die im Laufe von fast zwei Jahrzehnten geschmiedet wurde und kampferprobt war. Das Ergebnis des Polizeieinsatzes war kontraproduktiv. Die Gewalt gegen die Siedler*innen von Nuevo San Juan Copala war das letzte Glied einer gescheiterten Strategie. In einem ersten Moment vertraute die Bundesregierung darauf, den Konflikt auf die Länderebene eingrenzen zu können und wartete darauf, dass er an Kraft verlöre. Als er jedoch bundesweite und internationale Ausmaße erreichte, musste sie der Einrichtung einer Verhandlungskommission zustimmen, die von Luis Miranda, Staatssekretär im Innenministerium, angeführt wird.
Weit davon entfernt, Lösungen zu suchen, richtete sich die Gesprächsrunde zwischen Landarbeiter*innen und Regierungsbehörden vom 24. März darauf, Zeit zu schinden. Die offizielle Delegation, zu der Baja Californias Gouverneur Francisco Vega de la Madrid sowie die Direktoren der mexikanischen Sozialversicherungsbehörde IMSS, Vertreter*innen des Bundesarbeitsministeriums sowie Senator*innen und Abgeordnete gehörten, kam ohne irgendeinen Vorschlag zu dem Treffen. Zuerst verhinderte sie den Zugang der Presse zu der Sitzung. Dann tat sie so, als ob sie nichts vom Ursprung des Konfliktes wüsste. Spöttisch, so berichtet Arturo Alcalde, wandte sich der Gouverneur an die Landarbeiter*innen: „Sie haben das Wort. Wir sind schon hier. Teilen Sie uns ihre Bittgesuche mit.“
Staatssekretär setzt auf Repression
Die öffentlichen Funktionsträger widmeten sich der Aufgabe, die Arbeiten nicht vorankommen zu lassen. Am Ende leitete Staatsekretär Miranda die „Operation Tiefschlag“ ein: ohne dass die Parteien dies vereinbart hätten, kündigte er weiteres Treffen für den 8. Mai an. Bei diesem würde er eine integrale Lösung für die Forderungen präsentieren. Miranda erfand eine entsprechende Vereinbarung, erklärte das Treffen einseitig für beendet und ließ die Journalist*innen ein. Die Landarbeiter*innen dementierten, dass bei der Verhandlung etwas paktiert worden sei. Die offizielle Entourage verließ San Quintín hastig. Selbst die Parlamentarier*innen, die vorgeblich auf Einladung der Streikenden dem Treffen beiwohnten, agierten wie die Angestellten der Regierung und gesellten sich beschämenderweise dem Regierungsgefolge zu.
Der 8. Mai kam und Staatssekretär Luis Miranda versetzte die Landarbeiter*innen. Mehr als viertausend von ihnen harrten aus, um die Antwort auf ihre Forderungen zu hören. Als Fidel Sánchez Gabriel, Führungspersönlichkeit des Bündnisses für Soziale Gerechtigkeit, ankündigte, die Landarbeiter*innen würden vor den Büros der Regierung des Bundesstaates bleiben, war die Antwort des Funktionärs: „Du kennst mich nicht.“ Am Folgetag sprachen die Schlagstöcke und Gummikugeln der Polizei. Obwohl fast zwei Monate vergangen sind und trotz der Repression zeigt die Bewegung der Landarbeiter*innen von San Quintín keine Anzeichen physischer Erschöpfung oder nachlassender Kampfbereitschaft. Sie widersteht, genährt von Jahrzehnten gemeinschaftlicher Kämpfe und der Überzeugung, dass dieses barbarische Ausbeutungsmodell ein Ende finden muss. Unterdessen bietet sie der offiziellen Trägheit die Stirn, indem sie einen internationalen Boykott der Gemüse- und Obstproduktion im Tal von San Quintín organisiert.
URL: http://www.npla.de/de/poonal/5115-2015-05-17-15-56-41
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