Donnerstag, 28. Mai 2015

Kritischer Lektürekurs: 61 »Thesen über die S.I. und ihre Zeit«

Wir möchten aufmerksam machen auf ein Lektürewochenende am Pfingst-Wochenende vom 22.-25. Mai 2015 zur Auflösungsbroschüre der Situationistischen Internationale aus dem Jahr 1972: Hier der Ankündigungstext der Veranstalter_innen von translib.Leipzig und dem Autorenkollektiv Biene Baumeister, Zwi & Negator: ​ 1957 war die Situationistische Internationale gegründet worden, 1967–68 erreichte sie ihren theoretischen und praktischen Höhepunkt mit der radikalen Kritik der modernen Waren- als Spektakelproduktion und einer Bewegung der Fabrik-etc.-Besetzungen in Frankreich, die weit über Westeuropa hinaus wirkte. Aber schon um 1970 geriet die S.I. in eine Krise und löste sich Anfang 1972 selbst auf. Bereits die situationistische Analyse des Mai 1968 hatte sie zu dem Schluss kommen lassen: „Von jetzt an sind wir sicher, dass unsere Aktivität zu einem befriedigenden Ende führt: die S.I. wird aufgehoben werden.“ Das Dokument dieser „Selbstaufhebung“ unter dem Titel Die wahre Spaltung in der Internationalen stellte als Öffentliches Zirkular der letzten organisierten Situationisten ihre historische Bilanz und Selbstkritik dar. In seinem Haupt- und Kerntext, den 61 Thesen über die Situationistische Internationale und ihre Zeit, ist es zugleich eine Fortschreibung des situationistischen Grundtextes „Die Gesellschaft des Spektakels“ von 1967 (Guy Debord ist faktisch auch der Autor der 61 Thesen 1972, für die er zusammen mit Gianfranco Sanguinetti zeichnete) – besonders von deren 4.Kapitel über die Geschichte des modernen Proletariats und seiner Bewegungsströmungen, seiner „komplexen und furchtbaren Entwicklung“ und seiner Illusionen. Und in dem selbstkritischen Anhang wird 1972 die materialistische Theoriearbeit eingeklagt: „Wir hatten die Kritik der politischen Ökonomie wiederaufzunehmen, indem wir die ‚Gesellschaft des Spektakels’ genau begriffen und bekämpften.“ Da dies nicht geschah, so die Erklärung, wurde in kurzer Zeit die situationistische Theorie und Praxis ersetzt durch ihr Gegenteil – durch Situationismus und Prosituationismus, d.h. durch „begeisterte Zuschauer der S.I.“. Um deren historische Entstehung und materielle Basis zu begreifen, wird in den 61 Thesen eine erneute, situationistische Klassenanalyse begonnen: sie skizziert die Zusammensetzung der Hauptklassen der kapitalistischen Gesellschaft seit dem Untergang des alten Kleinbürgertums und dem Aufstieg der Arbeiterbürokratie bis zum Beginn der 1970er Jahre, wo die 1968 praktisch widerlegte Soziologendoktrin vom „Verschwinden des Proletariats“ abgelöst wird durch den ebenso falschen wie realen Schein einer Auflösung des Proletariats – in lauter kleine „Führungskräfte“, eine Art Manager auf allen Ebenen, und viele von denen mit irgendwie „linkem“ Habitus. (Tatsächlich nimmt die situationistische Führungskräftetheorie im Kern schon materialistisch vorweg, was wenige Jahre später als Bourdieus Soziologie vom „kulturellen Kapital“ Furore gemacht hat.) Ebenso aktuell mutet uns 40 Jahre später die Kennzeichnung der kapitalistischen Naturzerstörung an; auf politischer Ebene die Denunziation des „radikalen“ Reformismus; sogar die Wiederkunft der zahlreichen, zumeist mit dem Studierendenmilieu verbundenen „Aktivisten“ mit ihrem diffus positiven Bezug auf „die Situs“, „die Revolte“ und sogar „Revolution“ einst und jetzt. Diese Szene bzw. Milieubildung in den Perioden allseitig verschärfter kapitalistischer Krisen wird gekennzeichnet „als die Manifestation einer tiefen Entfremdung des unaktivsten Teils der modernen Gesellschaft, die undeutlich revolutionär wird“. Der politische Aktivismus wird als spiegelverkehrtes Bild, als neuartiges Spektakel dieser unmündig-passiv bleibenden Klientel, ihrer „revolutionären“ Repräsentationen bloßgelegt. Da die 61 Thesen aufgeladen sind mit der Kritik der Totalität der kapitalistischen Welt in der konkreten Situation unmittelbar ab 1967/68, d.h. in dem „Beginn einer Epoche“ (S.I. 1969), in der die Gesellschaft des Spektakels seit 40 Jahren „die Bewegung ihres Verfalls beschleunigt fortgesetzt hat“ und deren „Fortschritts“-Resultate wir heute erleiden, erfordert ihre Lektüre eine besondere kritische Distanz und Genauigkeit: den in ihnen sich ausdrückenden überspannten Optimismus wie Pessimismus gilt es durch historischen Sinn zu dekonstruieren – nicht poststrukturalistisch sondern materialistisch. Bei manchen Thesen handelt es sich um die Kurzfassung von Essays, die ursprünglich für die nicht mehr erscheinende N°13 der „Revue i.s.“ vorgesehen waren (z.B. „Der kranke Planet“ ,1971). Übergreifende Thesenblöcke beschäftigen sich u.a. mit dem damals explodierenden Hass der Herrschenden gegen die Jugend (besonders die proletarische und migrantische), mit der Klassenanalyse, last but not least mit der Dialektik von Theorie/Praxis und der Frage der revolutionären Organisation. Aus all diesen Gründen können schwerlich alle 61 Thesen an einem Wochende gelesen und diskutiert werden. Wir möchten aber einen Anfang machen, da wir es für dringlich halten, die Situation der Gegenwart mit der situationistischen Spektakelkritik und diese selbst durch die Konfrontation mit den Resultaten in der gegenwärtigen Situation zu analysieren. Dem dient ein Eingangsreferat über die eigene Einschätzung der Situationisten 1967-69 (um die Bewegung der Besetzungen) und ihre Selbstkritik in der Auflösungsphase 1969-72; dabei werden Resultate der bisherigen S.I.-Forschung einbezogen. Kern des Referats ist der Versuch einer vorläufigen Zusammenfassung der Spektakeltheorie ausgehend von den bisherigen Ergebnissen unserer Kritischen Lektürekurse von „Die Gesellschaft des Spektakels“ (Abschluss der Reihe 2013), auch zu dem Zweck, neuen Teilnehmer_innen einen direkten Vorlauf zu der späten situationistischen Theorie zu ermöglichen. Anschließend wird die Einteilung der 61 Thesen von 1972 vor Augen geführt, sodass schließlich gemeinsam die Lektüreaufteilung für diesen und einen weiteren, fortsetzenden Kurs geplant werden kann. Wir können uns z. B. vorstellen, nach den ersten einleitenden Thesen direkt zu dem Thesenblock über die Klassenanalyse zu springen. Falls gewünscht, kann etwa der Film „In girum imus nocte et consumimur igni“ angeschaut werden, in dem Debord 1978 vieles aus den Thesen bildlich umgesetzt hat. Unserer Lektüre werden – wie bei all unseren Spektakelkritik-Kursen – die Originalthesen (in Französisch) mit einer eigenen dt. Rohübersetzung vorgelegt. Bis heute existiert keine autorisierte und seriöse veröffentlichte Übersetzung im deutschsprachigen Raum. Die zweifelhafte erste und bisher einzige deutschsprachige Fassung in Broschürenform, die im März 1973 von Düsseldorfer Kunststudenten erstellt worden war, ist lediglich 1997 in einer Wiener Broschüre der anarchistischen „Edition Revolutionsbräuhof“ modifiziert wiederaufgelegt worden sowie 2005 noch einmal in »Texte der Situationistischen Internationale« Heft VII, Berlin 2005 (in Printfassung ist dieser Text heute wohl noch am leichtesten zu bekommen, bei: hefte_redaktion@gmx.net); in den bekannten Sammelbänden des deutschen prosituationistischen Kartells Nautilus- und Tiamat-Verlag mit seinen Übersetzungen von Raspaud und Kukulies wurde dieser prosituationismuskritische Schlüsseltext Debords bis heute unterschlagen, so als hätte er nie existiert (außerhalb Deutschlands unvorstellbar). Da seit ca 2010 der prosituationistische Ofen übrigens schon wieder aus ist – „Situationismus“ / „Debord“ etc. wird zur Zeit in den bisherigen Hauptrekuperationsstätten, im Kunsthochschul- und Kuratorenbetrieb als „toter Hund“ behandelt, ist in der Theorie vorläufig vom Deleuzismus, Agambenismus und Badiouismus absorbiert worden und ist dementsprechend auch im Studierenden- und „Künstler“-Milieu gähn und mega-out – , halten wir die Zeit für günstig, gerade diesen anti-kanonischen Text endlich kollektiv und öffentlich zu erschließen, um erneut „die wahre Spaltung“ – die von rettender Spektakelkritik und prosituationistischer Absorption – weiterzutreiben. Nach wie vor steht die Arbeit an einer communistischen Bilderkritik, an der materialistischen, d.h. desillusionierenden Rettung der Spektakelanalyse für die Gegenwart aus. „Die wahre Spaltung in der S.I. ist eben diese gewesen, die sich jetzt vollziehen muss in der weitläufigen und unförmigen Bewegung des aktuellen Protests: die Spaltung zwischen – auf der einen Seite – der gesamten revolutionären Realität der Epoche und – auf der anderen Seite – allen sie betreffenden Illusionen.“ (These 58) siehe auch: http://theoriepraxislokal.org https://translibleipzig.wordpress.com​ https://www.facebook.com/translib.leipzig http://transmission130.blogsport.de

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