Montag, 30. Mai 2016

Colmnitz in Sachsen: Mit Nazi-Symbolik zum Dorffest



Heimatfest: Die Wehrmacht ist wieder da 
Marcus Fischer
Bei einem Heimatfest im sächsischen Colmnitz liefen Teilnehmer in Wehrmachtsuniformen beim Umzug mit. Gewehre und Hakenkreuze irritierten offenbar nur wenige der Schaulustigen.
Schon wieder Clausnitz? Der Ort, in dem Dorfbewohner im Februar einen ankommenden Reisebus mit Asylbewerbern angebrüllt haben, um deren Einzug in eine Unterkunft zu verhindern? Nein, diesmal ist es Colmnitz, hört sich ähnlich an, liegt auch ganz in der Nähe von Clausnitz - und pflegt offenbar ähnliche "Brauchtümer".
Im sächsischen Örtchen Colmnitz jedenfalls hat ein Festumzug am Sonntag einen merkwürdigen Anblick geboten. Vertreter von Militaria-Verbänden erschienen anlässlich des "Schul- und Heimatfestes 2016" zur Feier des Tages in Wehrmachtsuniformen mit Hakenkreuzen und Fahrzeugen, die in Tarnfarben besprüht waren. Auf den Fahrzeugen waren Maschinengewehre montiert. Der sächsische Fotograf Marcus Fischer hat Bilder der irritierenden Szenerie gemacht. Laut seiner Aussagen schienen die umstehenden Besucher des Festzugs jedoch weniger irritiert. "Manche der Schaulustigen haben die Militaria-Fans eher bejubelt und beklatscht", sagte Fischer SPIEGEL ONLINE. Ihn als Fotografen hätten einige halb spöttisch, halb verächtlich als Vertreter der "Lügenpresse" beschimpft.
Nazi-Symbolik, obwohl das Zeigen des Hakenkreuzes im öffentlichen Raum in Deutschland verboten ist? Was hat sich der 22-köpfige Verein, der das Fest organisierte, dabei nur gedacht? Telefonisch war er am Sonntagabend nicht zu erreichen.
Eine Erklärung könnte vielleicht die einzige bekannte Persönlichkeit der rund 1400-Einwohner-Ortschaft sein: Horst Böhme. Er wurde 1909 in Colmnitz geboren und war Oberführer der Schutzstaffel im Dritten Reich sowie Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Prag - eine vorbildliche Karriere in der Nazizeit. Vielleicht wollte der Heimatverein mit seinem provokanten Aufzug an den SS-Mann erinnern? Allein das wäre abenteuerlich genug.
Solche Feste sind in Sachsen nicht untypisch
Doch wirft man einen Blick in das Veranstaltungsprogramm, wird das diesjährige "Colmnitzer Schul- und Heimatfest" nicht etwa gefeiert, weil der Ort ein Jubiläum hat und man die Nazi-Epoche hätte irgendwie darstellen wollen. Nein, gefeiert wurde anlässlich von 110 Jahren Rassegeflügelzuchtverein, 110 Jahren Rassekaninchenzüchterverein, 110 Jahren Freiwilliger Feuerwehr sowie 850 Jahre Kirche Colmnitz.
"So geht sächsische Heimatliebe", schreibt die "Leipziger Internetzeitung". "Ein bisschen Waffen spazieren fahren, Hakenkreuze zeigen und augenzwinkernd an die Nazizeit erinnern. Halt 'Überliefertes und Neues sinnvoll vereinen, pflegen und weiterentwickeln.'"
Letzteres ist ein Hinweis auf die Selbstdarstellung des Heimatvereins auf dessen Website . Dort schreiben die Mitglieder, ihr Ziel sei unter anderem die "Heimatpflege, Heimatkunde und Heimatgeschichte sowie das heimatliche Brauchtum zu fördern und zu pflegen".
In Sachsen sind Feste dieser Art tatsächlich nicht untypisch. Und Colmnitz, das rund 20 Kilometer von dem mittlerweile zu großer Bekanntheit gelangten Ort Freital entfernt liegt, fällt mit seiner Zurschaustellung von Nazi-Symbolik keineswegs allein auf. 2012 hatte der "Tag der Sachsen" in Freiberg für Diskussionen gesorgt. Militariafreunde zeigten sich damals in Wehrmachtsuniformen und Kampfanzügen der Waffen-SS. Die Stadt Freiberg stellte Strafanzeige, die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen wieder ein. Dennoch verbot das Festkuratorium der sächsischen Stadt Großenhain, das immerhin vom sächsischen Landtagspräsidenten Matthias Rößler geleitet wurde, zwei Jahre später, Soldaten und Kriegstechnik aus der Nazizeit und der DDR zu zeigen. Begründung: Nach der sächsischen Verfassung sei "eingedenk der leidvollen Erfahrungen der nationalsozialistischen und kommunistischen Gewaltherrschaft" alles zu unterlassen, was Krieg und Diktatur verherrlicht. Diese Festlegung sei im April 2014 nochmals bekräftigt worden.
In Colmnitz scherte sich der Heimatverein aber offenbar nicht um die Querelen zu diesem Thema aus den vergangenen Jahren. Wenigstens aber schien es keine weiteren Zwischenfälle bei dem fragwürdigen Umzug gegeben zu haben. Fotograf Fischer twitterte, dass das Fest ansonsten sehr schön war.

Stalin: UNSERE ZIELE.


1346310582_716_38
                                                                                                      Immer noch aktuell: Diese über 100 Jahre alte Ausgabe der russischen Zeitung „Prawda“ fand ein Leser in Litauen (Foto: J.Dunajski)
Dies ist nun wieder ein etwas ausführlicherer Beitrag, um klarzustellen, welches die Ziele der Marxisten sind. Oft wird von der herrschenden Klasse in herablassendem Ton von den kommunistischen „Idealen“ gesprochen, womit eigentlich gesagt werden soll, dies seien doch alles nur Luftschlösser, die Wirklichkeit sei anders. Und überhaupt: Man könne sich der Entwicklung (des Kapitalismus) doch nicht verschließen. Immerhin seien doch im letzten Jahrhundert gewaltige Fortschritte erzielt worden. Ja, richtig. Doch zugleich wurden in den letzten hundert Jahren die grausamsten Kriege der Weltgeschichte angezettelt. Die Umwelt wurde in einem bisher ungekanntem Ausmaß verseucht. Und ein Ende der Verbrechen ist nicht abzusehen. Das Ergebis: die Reichen, die Besitzer der Produktionsmittel, konnten unermeßliche Reichtümer anhäufen, während Milliarden Menschen auf der Welt in unsägliche Armut gestürzt wurden. Möglicherweise wird das Erwachen und der Aufstand der Entrechteten keineswegs ein friedlicher, sondern ein sehr blutiger Neuanfang sein. Doch der Sozialismus, eine von Ausbeutung freie Gesellschaft, ist der einzige Weg, der die Menschheit aus diesem kapitalistischen Desaster herausführt. Bereits im Jahre 1912 wies Stalin den Weg.   

J.W. Stalin

UNSERE ZIELE

Wer die „Swesda“ liest und ihre Mitarbeiter kennt, die auch die Mitarbeiter der „Prawda“ [1] sind, der begreift unschwer, in welcher Richtung die „Prawda“ arbeiten wird. Den Weg der russischen Arbeiterbewegung mit dem Lichte der internationalen Sozialdemokratie erleuchten, unter den Arbeitern die Wahrheit über Freunde und Feinde der Arbeiterklasse verbreiten und die Interessen der Arbeitersache treu hüten­ diese Ziele wird die „Prawda“ verfolgen.
Unversöhnlich gegen die Feinde, nachsichtig untereinander!
Indem wir uns solche Ziele setzen, beabsichtigen wir durchaus nicht, die Meinungsverschiedenheiten zu vertuschen, die es unter den sozialdemokratischen Arbeitern gibt. Noch mehr: Wir glauben, daß eine mächtige und lebensvolle Bewegung ohne Meinungsverschiedenheiten undenkbar ist, – nur auf dem Friedhof ist die „völlige Identität der Ansichten“ zu verwirklichen! Aber dies bedeutet noch nicht, daß es mehr Differenzpunkte als Punkte der Übereinstimmung gibt. Bei weitem nicht! Wie sehr die fortgeschrittenen Arbeiter auch auseinandergehen mögen, sie können nicht vergessen, daß sie alle, ohne Unterschied der Fraktionen, in gleicher Weise ausgebeutet werden, daß sie alle, ohne Unterschied der Fraktionen, in gleicher Weise rechtlos sind. Deshalb wird die „Prawda“ vor allem und hauptsächlich zur Einheit des Klassenkampfs des Proletariats, zur Einheit unter allen Umständen, aufrufen. In dem Maße, wie wir gegen die Feinde unversöhnlich sein müssen, müssen wir untereinander nachgiebig sein. Krieg gegen die Feinde der Arbeiterbewegung, Frieden und einmütige Arbeit innerhalb der Bewegung – davon wird sich die „Prawda“ in ihrer tagtäglichen Arbeit leiten lassen.
Warum ist die Einigkeit so wichtig?
Das zu betonen ist jetzt besonders notwendig, wo die Lena-Ereignisse [2] und die bevorstehenden Wahlen zur IV. Duma vor den Arbeitern mit außerordentlicher Nachdrücklichkeit die Frage der Notwendigkeit aufwerfen, sich zu einer einheitlichen Klassenorganisation zusammenzuschließen. Indem wir an die Arbeit gehen, sind wir uns bewußt, daß unser Weg voller Dornen ist. Es genügt, sich an die „Swesda“ zu erinnern, die unzählige Male konfisziert und „belangt“ worden ist. Doch vor Dornen haben wir keine Angst, wenn die Sympathie der Arbeiter, die jetzt die „Prawda“ umgibt, auch künftig anhält. Aus dieser Sympathie wird sie die Energie für den Kampf schöpfen! Wir möchten, daß diese Sympathie wächst.
Ein Aufruf zur Mitarbeit!
Wir möchten außerdem, daß sich die Arbeiter nicht auf die Sympathie beschränken, sondern an der Leitung unserer Zeitung aktiv mitarbeiten. Mögen die Arbeiter nicht sagen, Schriftstellerei sei für sie eine „ungewohnte“ Arbeit: Die Arbeiterjournalisten fallen nicht fertig vom Himmel, sie werden nur nach und nach, im Laufe der literarischen Arbeit herangebildet. Man muß nur mutig ans Werk gehen: ein paarmal wird man stolpern, und dann lernt man schreiben …

Also einmütig ans Werk!

„Prawda“ Nr.1, 22. April 1912.
Artikel ohne Unterschrift.
Nach dem russischen Zeitungstext.
Quelle: J.Stalin, Unsere Ziele. In.: Werke, Dietz Verlag Berlin, 1950, Bd.2, S.226f. (Zwischenüberschriften eingefügt, N.G.)
Foto: Juri Dunajski (aus: Grani/Litauen)

Anmerkungen:
[1] „Prawda“ (Die Wahrheit) – bolschewistische Arbeitertageszeitung, die vom 22. April 1912 bis zum 8. Juli 1914 in Petersburg erschien. Die „Prawda“ wurde auf Weisung W.I. Lenins und auf Initiative J.W. Stalins gegründet. Als Mitglied des Zentralkomitees der Partei leitete J.W. Stalin die Ausarbeitung der Plattform der „Prawda“ und arbeitete an der Zusammenstellung der ersten Nummer der Zeitung mit. Am 22. April, am Tage des Erscheinens der ersten Nummer der „Prawda“, wurde J.W. Stalin verhaftet. Erst im Herbst 1912 konnte er seine Arbeit in der „Prawda“ wieder aufnehmen, nachdem er aus der Narymer Verbannung geflohen war. Von Oktober 1912 bis Februar 1913 erschienen in der „Prawda“ eine Anzahl richtungweisender Artikel J.W. Stalins, die im vorliegenden Band Aufnahme gefunden haben. Redaktionsmitglieder und engste Mitarbeiter der „Prawda“ waren W.M. Molotow, M.S. Olminski, N.N. Baturin, J.M. Swerdlow, A.M. Gorki, K.N. Samoilowa u.a. Im Laufe von zweieinhalb Jahren verbot die Zarenregierung die „Prawda“ achtmal, aber dank der Unterstützung der Arbeiter begann sie unter neuen Namen wieder zu erscheinen („Rabotschaja Prawda“ [Arbeiter-Prawda], „Sewernaja Prawda“ [Nord-Prawda], „Prawda Truda“ [Prawda der Arbeit], „Sa Prawdu“ [Für die Prawda] u. a.) (Über die Bedeutung und die Rolle der „Prawda“ siehe die „Geschichte der KPdSU(B), Kurzer Lehrgang“, Moskau 1945, S. 143 bis 148, russ. [deutsche Ausgabe, Berlin 1950, S. 187-194].)
(Quelle: Stalin, Werke, Bd.2, S.359f.)
[2] Lena-Ereignisse: Der Fluß Lena (Länge. 4264 km) war die wichtigste Verkehrsader der Jakutischen Autonomen Sowjetreublik. Das Gemetzel an der Lena und der Beginn des erneuten Anwachsens der revolutionären Bewegung. Ein Gemetzel, das unter den Arbeitern auf den Goldfeldern an der Lena angerichtet wurde, war das Signal für das Wiederaufleben der revolutionären Bewegung, deren Vorbereitung die Bolschewiki propagierten. Die Goldfelder an der Lena gehörten cler englisch-russischen Aktiengesellschaft „Lena-Goldfields“ und wurden von englischen Banken kontrolliert. Die Verwaltung der Gesellschaft hatte ihren Sitz ebenfalls in London.
Die zaristische Regierung, an der Arbeit auf den Lena-Goldfeldern interessiert, ließ der Verwaltung und dem Direktor der Goldfelder jede nur mögliche Unterstützung zuteil werden. Mit Hilfe von Polizei und Militär war im Bezirk der Goldfelder, der weit draußen in der sibirischen Taiga lag, ein Regime grausamer und erbarmungsloser Ausbeutung der Arbeiter und ihrer Familien eingeführt worden, die sich völlig in Abhängigkeit von den Direktoren befanden. Im März 1912 begann auf dem Andreas-Goldfeld ein Proteststreik gegen die Versorgung der Arbeiter mit minderwertigen Lebensmitteln; der Streik fand eine solche Resonanz, daß sich ihm fast sämtliche anderen Goldfelder anschlossen. Seine lange Dauer wirkte sich auch auf den Kurs der Aktien der „Lena Goldfields“ aus. Auf Verlangen der Verwaltung der Gesellschaft erteilte das Polizeidepartement den Befehl zur Verhaftung des Streikkomitees. Der nach den Gruben entsandte Gendarmerie-Rittmeister Trestschenko nahm die Verhaftungen vor. Am 4. April begaben sich dreitausend streikende Arbeiter zum Staatsanwalt und forderten die Freilassung ihrer Kameraden; auf Befehl von Trestschenko wurden sie mit Schüssen empfangen. 270 Arbeiter wurden getötet, 250 verwundet. Auf die Interpellation der sozialdemokratischen Fraktion der Reichsduma aus Anlaß des Gemetzels an der Lena erklärte der Innenminister Makarow: „So war es, und dabei bleibt es!“
Als Antwort auf dieses Gemetzel traten über drei­ hunderttausend Personen in den Streik. Die Regierung sah sich gezwungen, eine Senatskommission, an deren Spitze der Senator Manuchin stand, nach den Lena-Goldfeldem zu entsenden, um die näheren Umstände zu untersuchen, unter denen das Gemetzel unter den Arbeitern erfolgt war. Aber auch die Reise dieser Kommission nach der Lena vermochte kein Nachlassen der Demonstrationen, Versammlungen und Streiks zu bewirken. „Die Schüsse an der Lena haben das Eis des Schweigens gebrochen, und der Strom der Volksbewegung ist in Gang gekommen!“ schrieb Genosse Stalin über die politische Bedeutung der Ereignisse an der Lena (Werke, Bd.2, S.238; deutsch: ebenda, Berlin 1950, S.217).
An den Streiks am 1. Mai nahmen bereits über vierhunderttausend Arbeiter teil. In ihrem Ausmaß und Charakter unterschied sich diese Streikbewegung sehr von derjenigen des Jahres 1905. Schon die Streiks im April und Mai 1912 hatten bedeutend größere Massen erlaßt als die zu Beginn des Jahres 1905 durchgeführten Streiks. Die Arbeiterklasse kämpfte jetzt nicht um die Durchsetzung von Teilfordemngen, nicht um die Durchführung von Reformen, sondern um den Sturz des Zarismus. In den revolutionären Kampf wurden jetzt die Volksmassen von der Arbeiterklasse hineingezogen.
Infolge der Massenstreiks und ihres Anwachsens erhob sich erneut die Frage des Generalstreiks und des bewaffneten Aufstandes. Geführt von den Bolschewiki, wurde die Arbeiterklasse Rußlands zum wahren Führer im revolutionären Kampf gegen die Zarenregierung und scharte alle demokratischen Elemente des Landes um sich. (Quelle: Große Sowjetenzyklopädie, Verlag Kultur und Fortschritt Berlin, 1952, S.636f.)
 https://sascha313.wordpress.com/2016/05/26/stalin-unsere-ziele/

Samstag, 28. Mai 2016

Arme Mutter nicht unterhaltspflichtig


Kindergeld: Bedürftige Mutter nicht unterhaltspflichtig
04.05.2016

(jur). Verdienen Kinder in ihrer Ausbildung genug für ihren Lebensunterhalt, können sie nicht noch das an ihre bedürftige Mutter gezahlte Kindergeld verlangen. Denn bei einem gut verdienenden Kind ist die in finanzielle Bedrängnis geratene Mutter nicht mehr unterhaltspflichtig, entschied das Finanzgericht Düsseldorf in einem aktuell veröffentlichten Urteil vom 7. April 2016 (Az.: 16 K 1697/15 AO). Wegen grundsätzlicher Bedeutung haben die Düsseldorfer Richter die Revision zum Bundesfinanzhof (BFH) in München zugelassen.
Im konkreten Fall hatte die Mutter das Kindergeld für ihre klagende Tochter ausgezahlt bekommen. Als die Tochter eine zweieinhalbjährige Ausbildung in einer Bank machte und auszog, verlangte sie, dass das Kindergeld in Höhe von 99 Euro teilweise an sie „abgezweigt“ und an sie ausgezahlt wird.

Ihre Mutter und auch der getrennt lebende Vater würden keinerlei Barzahlungen an sie leisten. Wegen dieser Unterhaltspflichtverletzung stehe der Mutter, zu der sie auch keinen persönlichen Kontakt mehr habe, nicht das volle Kindergeld zu.

Die Mutter gab auf Nachfrage der Familienkasse an, dass sie den Mitgliedsbeitrag ihrer Tochter für ein Ballettstudio in Höhe von monatlich 99 Euro in Form eines Familientarifs übernehme. Auch habe sie die Mietkaution für die Tochter sowie Haushaltsgegenstände bezahlt.

Sie sei auf das für ihre Tochter gezahlte Kindergeld angewiesen. Sie verdiene lediglich 400 Euro monatlich aus einer Nebentätigkeit, müsse noch die zwei minderjährigen Geschwister der Klägerin und den studierenden Sohn unterstützen. Unterhalt von ihrem geschiedenen Ehemann erhalte sie nicht.

Trotz der Bedürftigkeit der Mutter und ihrer Geschwister beharrte die Auszubildende auf der teilweisen Abzweigung des Kindergeldes. Von dem Kindergeld in Höhe von damals 184 Euro zog sie lediglich 85 Euro als anteiligen Mitgliedsbeitrag für das Ballettstudio ab.

Sowohl die Familienkasse als auch jetzt das Finanzgericht lehnten die Abzweigung des Kindergeldes ab. Nach den geltenden Bestimmungen sei eine direkte Zahlung an das Kind möglich, wenn der Kindergeldberechtigte gegenüber dem Kind seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Hier habe die Mutter ihre Unterhaltspflicht aber gar nicht verletzt.

Denn die Tochter habe über ein monatliches Gehalt von zunächst 850 Euro brutto verfügt, mit späteren Erhöhungen. Dies seien hinreichende Einkünfte zur Sicherstellung ihres Lebensunterhalts. Mangels Bedürftigkeit bestehe damit auch keine Unterhaltsverpflichtung der Mutter.

Der Gesetzgeber habe mit der Kindergeldzahlung an die Eltern die Familie fördern wollen. Die Kindergeldabzweigung solle dagegen nur greifen, wenn das Kind im Bedarfsfall keinen Unterhalt mehr erhält und ein oft zeitraubender Weg über einen Zivilprozess und eine Zwangsvollstreckung vermieden werden soll. Bei einem nicht bedürftigen Kind sei dieser Gedanke jedoch nicht tragfähig.

Es sei auch normal, dass in einer Familie als Solidargemeinschaft einmal das eine und dann wieder das andere Kind mehr Leistungen erhält. Es widerspreche zudem dem Solidaritätsgedanken, wenn das gut verdienende Kind, welches zuvor im Haushalt der Mutter mit seinen Geschwistern wegen ausbleibender Unterhaltszahlungen des Vaters finanziell eingeschränkt gelebt hat, der Mutter das an sie gezahlte Kindergeld wieder entzieht, befand das FG Düsseldorf. (fle/mwo)

Pflegegeld-Kürzung für den Enkel


Bundesverwaltungsgericht: Jugendamt darf Einkünfte anrechnen
19.05.2016

Leipzig (jur). Großeltern, die ein Enkelkind pflegen, bekommen bei entsprechenden Einkünften nur ein gekürztes Pflegegeld. Dabei muss sich die Großmutter auch Unterhaltsansprüche gegenüber ihrem Ehemann als Einkommen anrechnen lassen, urteilte am Donnerstag, 19. Mai 2016, das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig (Az.: 5 C 36.15).
Im entschiedenen Fall war die Mutter bei der Geburt des Kindes noch minderjährig und mit Betreuung und der Erziehung überfordert. Daher nahmen die Eltern der Mutter den Jungen bei sich auf, und die Großmutter kümmerte sich um das Kind.

Das Jugendamt der Stadt Flensburg zahlte Pauschalen als „Hilfe zur Erziehung“ und „Hilfe zum Unterhalt“. Allerdings kürzte die Behörde dieses sogenannte Pflegegeld. Zur Begründung verwies es auf die Einkünfte der Großmutter und auch ihres Ehemannes.

Das Bundesverwaltungsgericht hat dies nun im Grundsatz bestätigt. Hintergrund ist die gesetzliche Regelung, wonach in gerader Linie verwandte Personen gegenseitig zum Unterhalt verpflichtet sind, wenn die unmittelbar Unterhaltsverpflichteten – hier also die Eltern – dazu nicht in der Lage sind. Im Gegensatz zu den Eltern müssen Großeltern hierfür aber nicht arbeiten gehen, wenn sie dies nicht wollen. Zudem können sie einen höheren „Selbstbehalt“ von 1.400 Euro monatlich geltend machen.

Nach dem Leipziger Urteil steht trotz ihrer Unterhaltspflicht auch der Großmutter ein Pflegegeld zu. Allerdings darf das Jugendamt dies kürzen, wenn sie über ausreichend Einkünfte verfügt, um ihrem Enkel Unterhalt zu leisten.

Zu den Einkünften gehörten dabei auch die Unterhaltsansprüche der Großmutter gegenüber ihrem Ehemann, so das Bundesverwaltungsgericht weiter. Für eventuelle Kürzungen komme es daher auch auf dessen Einkommen an.

Nach diesen Maßgaben soll nun das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht (OVG) in Schleswig die Höhe der Pflegegeld-Kürzung berechnen. (mwo/fle)

Verweigertes Vorstellungsgespräch rechtens


BAG: verweigertes Vorstellungsgespräch war keine Diskriminierung
19.05.2016

(jur). Lädt ein öffentlicher Arbeitgeber einen schwerbehinderten und überqualifizierten Stellenbewerber nicht zum Bewerbungsgespräch ein, muss dies noch keine Diskriminierung sein. Denn werden generell Bewerber, die zu gut für den Job sind, allein aus personalpolitischen Gründen nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen, stellt dies keine unzulässige Benachteiligung Behinderter dar, entschied das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt in einem am Mittwoch, 18. Mai 2016, veröffentlichten Urteil (Az.: 8 AZR 194/14).
Im konkreten Fall hatte ein Schwerbehinderter sich beim saarländischen Umweltministerium im August 2010 auf eine Sachbearbeiter-Stelle im gehobenen Dienst beworben. Der Mann war jedoch mit seinem Hochschulabschluss als Diplom-Kaufmann und weiteren Zusatzausbildungen für die Stelle überqualifiziert.

Das Land schickte ihm die Stellen-Absage, ohne ihn vorher zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu haben.

Der Schwerbehinderte sah sich daraufhin wegen seiner Behinderung diskriminiert. Als öffentlicher Arbeitgeber müsse das Land nach den gesetzlichen Bestimmungen geeignete schwerbehinderte Bewerber zum Vorstellungsgespräch bitten. Ein weiteres Indiz für die Diskriminierung sei die unterbliebene Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung. Das Land müsse ihm daher eine Diskriminierungsentschädigung in Höhe von drei Monatsgehältern zahlen, insgesamt 9.459 Euro.

Dies lehnte das Land ab. Es bestritt, dass die Absage wegen der Behinderung erfolgte. Zum einen sei der Bewerber „überqualifiziert“ und gelte damit als nicht geeignet. Überqualifizierte Bewerber würden – unabhängig ob behindert oder nicht – allein aus personalpolitischen Gründen nicht eingestellt. Von den 72 Stellenbewerbern seien alle 15 Personen mit Hochschulabschluss nicht im Auswahlverfahren berücksichtigt worden.

Es drohe sonst die Gefahr, dass die Bewerber in ihrem Job nicht ausgelastet werden. Dies hätte Frustrationen zufolge. Auch werde befürchtet, dass es zu „Rangordnungskämpfen“ zwischen dem überqualifizierten „neuen“ und den anderen Beschäftigten komme.

Man habe sich zudem mit der Schwerbehindertenvertretung geeinigt, dass diese nur über Bewerber informiert werden müsse, die in die engere Auswahl kommen.

In seinem Urteil vom 20. Januar 2016 lehnte das BAG den Anspruch auf eine Diskriminierungsentschädigung ab. Grundsätzlich seien öffentliche Arbeitgeber zwar gesetzlich verpflichtet, schwerbehinderte geeignete Stellenbewerber zum Vorstellungsgespräch einzuladen. Der Kläger gelte auch mit seiner Überqualifikation als fachlich geeignet. Denn er könne die ihm gestellten Aufgaben bewältigen.

Das Land sei zudem verpflichtet, immer die Schwerbehindertenvertretung einzuschalten. Eine Vereinbarung, die dies nur für Bewerber in der engeren Auswahl vorsieht, sei unzulässig.

Die unterbliebene Einladung zum Vorstellungsgespräch und die fehlende Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung stellten auch Indizien für eine Diskriminierung dar. Diese habe das Land aber plausibel widerlegt. Weder sei der Kläger wegen seiner Behinderung noch wegen seiner fachlichen Eignung nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen worden.

Vielmehr sei der Schwerbehinderte allein aus personalpolitischen Gründen nicht berücksichtigt worden. Mit der unterbliebenen Berücksichtigung von überqualifizierten Bewerbern sollten die Mitarbeiterzufriedenheit der Beschäftigten gestärkt und drohende „Rangordnungskämpfe“ zwischen den einzelnen Mitarbeitern vermieden werden. Das Land wolle zudem Bewerber so auswählen, dass sie sich innerhalb einer Laufbahn fortentwickeln können und nicht von vornherein einen Aufstieg in die höhere, ihrer Qualifikation entsprechende Laufbahn anstreben.

Das Land habe zudem dargelegt, dass andere, weniger qualifizierte schwerbehinderte Bewerber durchaus an Vorstellungsgesprächen teilgenommen haben. Dies alles zeige, dass eine Diskriminierung wegen der Schwerbehinderung nicht vorlag. Ein Entschädigungsanspruch bestehe daher nicht. fle/mwo/fle

Mehrbedarf für nicht erwerbsfähige Behinderte

Mehrbedarf-Anspruch von voll erwerbsgeminderten LeistungsbeziehernBehinderte Personen, die nicht mindestens drei Stunden pro Tag einer Arbeit nachgehen können, gelten als nicht erwerbsfähig. Sofern voll erwerbsgeminderte Leistungsberechtigte Erwerbsminderungsrente erhalten, ist § 30 (1) SGB XII hinsichtlich des Anspruchs auf den Mehrbedarf zugrundezulegen. Danach wird für Personen, die a) das 65. Lebensjahr vollendet haben oder b) unter 65 Jahren und nicht erwerbsfähig nach dem Sechsten Buch sind UND einen Schwerbehindertenausweis gemäß § 69 Abs. 5 des Neunten Buches mit dem Merkzeichen „G“ besitzen, ein Mehrbedarf von 17 Prozent des maßgebenden Regelsatzes gewährt, sofern nicht im Einzelfall ein abweichender Bedarf geltend gemacht wird.
Behindertenausweis mit Merkzeichen „G" Bei einem Mehrbedarfsanspruch von 17 Prozent des maßgebenden Regelsatzes bei einer Regelleistung in Höhe von 399 Euro für eine allein lebende und nicht erwerbsfähige Person mit Behinderung ergeben sich 67,83 Euro pro Monat. Hat ein Bezieher von Leistungen zur Grundsicherung nach SGB II einen nicht erwerbsfähigen, rentenberechtigten Partner, so besteht für diesen ebenfalls ein Anspruch auf Mehrbedarf in Höhe von 17 Prozent der Regelleistung, sofern er über einen Behindertenausweises mit dem Merkzeichen „G“ verfügt.

Behinderte, die im Besitz eines Behindertenausweises mit dem Merkzeichen „G" oder „aG" sind, können zudem einen Mehrbedarf von bis zu 15 m2Wohnraum geltend machen. Das betrifft unter anderem Rollstuhlfahrer oder Menschen, die einen Rollator benutzen, aber auch Blinde und stark Sehbehinderte. (ag)

Behörden Empfangsbestätigung Vordruck

Bei allen Behörden-Gängen: Immer eine Empfangsbestätigung ausfüllen lassenDa in den Ämtern und Behörden, egal welchen Bereiches, öfters Unterlagen „verloren“ gehen und der Einsender somit der Bürger immer zur Rechenschaft gezogen wird, ist es wichtig eine Empfangsbestätigung sich ausstellen zu lassen, da der Bürger immer haftbar gemacht wird. Das heißt bei jeder Abgabe der Unterlagen oder Dokumente sollten man sich eine Eingangsbestätigung gleich selbst mitbringen und auf der Rückseite die eingereichten Unterlagen aufzeichnen lassen. Einen kostenlosen Vordruck finden Sie im Anhang!
Die Einreichung der Unterlagen sollten immer mit Unterschrift, Stempel und Datum bestätigt werden. Sollte der Mitarbeiter eine Ansicht der Unterlagen wünschen, dann bitten Sie darum, dies in einem separaten Raum und nicht am Schalter zu tun. Das sollte immer in ihrem Beisein geschehen! Es braucht ja nicht Jeder zu sehen was Sie einreicht haben und welche Gespräche Sie mit dem Mitarbeiter führen. Der Datenschutz hat immer Vorrang, auch wenn einige Behördenmitarbeiter dies nicht beachten.

Bei Gerichtsprozessen und Nachforderungen von Unterlagen ist dieser Nachweis der Eingangsbestätigung sehr wichtig. Er gilt als Beweis. Sie können z.B. verzögerte oder verweigerte Zahlung so verhindern.

Sollte sich ein Behörden-Mitarbeiter jedoch weigern, sofort den Teamleiter in einem höflichen Ton rufen lassen oder den nächst übergeordnetem Leiter wünschen. Bei Verweigerung der Unterzeichnung der Eingangsbestätigung durch den Mitarbeiter signalisiert dieser eventuell eine gewisse Angst. Der Mitarbeiter, dem Sie die Unterlagen ausgehändigt und bestätigen lassen, haftet nun dafür. Hier finden Sie ein Muster in PDF Format zur freien Nutzung [24 KB] . (Luise Müller, Suhl)

Hartz IV und Prostitution


Manche Hartz-IV-Beziehende können die Lebenskosten nicht bezahlen und verkaufen deshalb ihren Körper. Oft wissen sie nicht, dass sie damit einem Neben- oder Hauptjob nachgehen, der ihre Leistungsansprüche schmälert oder zunichte macht.
Sich zu prostituieren ist nicht verboten, geht aber kaum als Minijob durch, also als Anstellung auf 450, 00 Euro Basis, da sie selten legal an einen Arbeitgeber gebunden ist.

Auch für Prostitution gilt ein Freibetrag von 100 Euro im Monat als Erwerbseinkommen, das nicht auf den Hartz IV Satz angerechnet wird. Einnahmen darüber dürfen die Betroffenen nur zu 20 % behalten, der Rest wird von den Hartz IV Leistungen abgezogen. Hartz-IV-Beziehende verlieren also sehr schnell die meisten ihrer Ansprüche, wenn sie ihren Körper verkaufen.

Prostituierte sind verpflichtet, sich in ihrer heimischen Kommune anzumelden. Wenn sie das nicht tun, droht die Strafverfolgung. Einkünfte aus der Prostitution müssen dem Jobcenter gemeldet werden, sonst werden die Leistungen gestrichen. Die Polizei unternimmt häufig Kontrollen. Dabei könnte eine solche Tätigkeit, wenn sie nicht angemeldet ist, auffliegen. Wer also aus finanzieller Not als Hartz-IV-Betroffene seinen Körper verkauft, hat eine schlechte Wahl getroffen. (ua)

Indien vertrocknet


Hunger und Suizidwelle: Dürre und Rekordhitze auf dem Subkontinent verschärfen ­wirtschaftliche Not von Millionen kleiner Bauern weiter

Von Thomas Berger
India_Relentless_Dro_49367493.jpg
Es fehlt das Wasser: Flussbett im indischen Unionsstaat Maharashtra am 10. Mai
Eine Prognose und ihre Wirkung: In diesem Jahr soll es wieder einen richtigen Monsun geben, dessen Wirkung sogar bis in den Oktober hinein zu spüren sein werde, meldeten australische Meteorologen. Das ließ Indiens wichtigsten Börsenindex am Dienstag gleich um fast zweieinhalb Prozent in die Höhe schnellen. Es war der größte Tageszuwachs seit Mitte Februar. Nicht nur bei den Aktienhändlern wird die Nachricht vom Ende des besonders starken El-Niño-Phänomens 2015/16, die ein privater Wetterdienst in Down Under an die Medien gab, euphorisch bewertet. Auf dem ganzen Subkontinent macht sich Erleichterung breit, weil nun voraussichtlich um den 7. Juni mit dem Einsetzen des Monsuns im südlichen Bundesstaat Kerala zu rechnen sei. Andere Landesteile werden noch einige Tage länger auf die regelmäßig wiederkehrenden Regenfälle warten müssen. Vereinzelt gab es schon Vorboten in Form lokaler Unwetter mit Starkregen.
Seit März, April herrscht in mehr als einem Drittel des Landes der Notstand in Form extremer Dürre und Rekordtemperaturen. Die Hitzewelle, die das um diese Zeit übliche Maß weit übertraf, sorgte landesweit für mehr als 300 offiziell anerkannte Todesfälle, die meisten davon im jüngsten Unionsstaat Telangana, im Südosten des Landes. Mancherorts kletterte das Thermometer schon in der ersten Maihälfte auf 47 Grad im Schatten, zuletzt wurde im nordwestlichen Unionsstaat Rajasthan mit über 51 Grad ein weiterer Rekordwert gemessen. In den ersten vier Monaten hat es zudem über 20.000 Waldbrände gegeben. Das waren mehr als im gesamten Jahr 2014 und schon über 5.000 mehr, als 2015 registriert wurden, teilten die Behörden Anfang Mai mit.
330 Millionen Bürger, rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung, haben in zehn Unionsstaaten vom mittleren Norden bis in den Süden besonders gelitten. Nicht nur die Grundversorgung vieler Dörfer, die teilweise über keinen einzigen wasserführenden Brunnen mehr verfügen, ist nach wie vor ein Problem. Auch die Wirtschaft wurde durch Hitze und Dürre schwer beeinträchtigt. Vor allem der ohnehin schwer gebeutelte Agrarsektor. Die Landwirtschaft, in der noch immer Millionen Inder beschäftigt sind, und die die Eigenversorgung der Bevölkerung mit Grundnahrungsmitteln wie Reis sicherstellen muss, bietet mit verdorrten Feldern und an Wassermangel gestorbenen Tieren vielerorts ein Bild des Schreckens.
jW Mobil
Der komplette Ausfall ihrer Ernten läßt die Betroffenen immer weiter in die Verschuldung abrutschen. In Unionsstaaten wie Maharashtra – mit der Wirtschaftsmetropole Mumbai die Region, die am stärksten zum Bruttoinlandsprodukt Indiens beiträgt – ist das seit Jahren ohnehin ein Dauerbrenner. Der diesjährige Monsun könnte für etliche der momentan ums wirtschaftliche Überleben kämpfenden Landwirte zu spät kommen. Dass die oft privaten Geldverleiher mit ihren Wucherzinsen einlenken, ist eher unwahrscheinlich. Es ist also damit zu rechnen, dass die Kleinstbauern wie schon in der Vergangenheit keinen Ausweg aus ihrer Situation mehr sehen. Für die kommenden Monaten wird deshalb eine neue Suizidwelle unter Farmern befürchtet.
Kritiker werfen der Regierung von Premier Narendra Modi, die seit zwei Jahren im Amt ist, eklatantes Versagen vor. Neu-Delhi habe nicht rechtzeitig und angemessen auf die akute Notlage reagiert, wird ihr von verschiedenen Seiten vorgeworfen. Nicht nur die politische Opposition von Linken und Liberalen greift die regierenden Hindunationalisten deswegen scharf an. Der öffentliche Unmut darüber hat auch andere Gruppen erfasst. Bereits im April hatten rund 150 Akademiker und Aktivisten einen offenen Brief an Modi verfasst. Zu dessen Erstunterzeichnern zählen die Sozialaktivistinnen Medha Patkar und Aruna Roy, die Schriftstellerin (»Der Gott der kleinen Dinge«) Arundhati Roy, die kommunistische Spitzenpolitikerin und Frauenrechtsaktivistin Brinda Karat, der frühere Marine-Stabschef Admiral Laxminarayan Ramdas sowie führende Autoren, Filmemacher, Schauspielerinnen Wirtschaftswissenschaftler und Juristen.
Die Regierung versage vor allem in Sachen Nahrungsmittelversorgung benachteiligter Bevölkerungsgruppen, heißt es in dem Schreiben. Während dabei mangelnde aktuelle Maßnahmen im Zentrum der Kritik stehen, schauen Experten und einzelne Verbände schon weiter voraus. Denn mit den absehbaren Ernteausfällen droht der Marktlogik zufolge bei vielen landwirtschaftlichen Produkten eine Verknappung des Angebot. Preise werden ansteigen und für Millionen Inder Nahrungsmittel unerschwinglich machen. Und das wird nicht nur die Ärmsten der Armen treffen, die ohnehin auf die kargen staatlichen Sonderzuteilungen pro Monat zu stark verbilligten Konditionen angewiesen sind. Millionen weitere Menschen sind von Mangelernährung und Hunger bedroht.

Pufferzone für Kurden


Multiethnische Milizen kämpfen unter dem Feuerschutz der USA im Norden Syriens gegen Islamisten

Von Karin Leukefeld
RTX27SL9.jpg
Auf dem Vormarsch: Kämpfer der »Syrisch-Demokratischen Kräfte« in der Nähe von Hasaka (19.2.2016)
Der Vertreter der Partei der Demokratischen Union (PYD), Gharib Hassou, gab sich am Donnerstag gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti optimistisch: »Rakka wird eines Tages Teil des demokratischen, föderalen Systems werden, das wir im Norden Syriens geschaffen haben«. Das sei die logische Folge, wenn die Stadt erobert werde. Wie beim völkerrechtswidrigen Einmarsch der US-Armee im Irak 2003 sind die kurdischen Kräfte anscheinend auch in Syrien die Türöffner für eine Intervention, die im UN-Sicherheitsrat bislang keine Mehrheit fand.
Gleichzeitig verhindern die USA und ihre Verbündeten, dass die PYD als Vertreter der syrischen Kurden auf seiten der »Opposition« an den Genfer Gesprächen teilnehmt. Doch ist ihr bewaffneter Arm, die kampferprobten Männer und Frauen der Volksverteidigungseinheiten YPG, gut genug dafür, den Angriff gegen den »Islamischen Staat« (IS) durchzuführen. Ursprünglich waren die YPG 2011 gebildet worden, um die Bevölkerung gegen Angriffe zu verteidigen. Nun sind sie Teil einer Angriffsarmee.
Mit anderen Verbänden wollen sie unter dem Namen »Syrisch-Demokratische Kräfte« (SDF) zunächst Rakka, dann Manbidsch und den syrisch-türkischen Grenzübergang Dscharabulus einnehmen. Das so befreite Gebiet soll in die am 17. März 2016 ausgerufene »Föderale Region Rojava« eingegliedert werden – als »Pufferzone zwischen der Türkei und dem IS«, wie der unter Pseudonym auftretende kurdische Journalist Amed Dicle erklärte. Es handele sich um eine »neue strategische Phase«, die »viele Hürden überwinden und neue Entwicklungen mit sich bringen« solle.
Die Offensive wird mit Milizen der syrischen Opposition und arabischer Stämme durchgeführt. Einige von ihnen stammen aus Rakka und Umgebung. Sie entstanden nach 2011 und waren zunächst mit der »Freien Syrischen Armee«, dann mit der Al-Nusra-Front und anderen Gruppen verbündet, bevor sie sich mit den kurdischen Kräften zusammenschlossen. 2015 bildeten sie die SDF, die vom US-Militär unterstützt werden.
jW Mobil
Die US-Armee hat laut Dicle ihre Ausbildungsmission für »moderate Rebellen« aus der Türkei nach Rojava verlagert. Die ursprünglich 50 US-Militärberater seien seit dem 23. Mai auf 300 aufgestockt worden. Russland, das die syrische Armee unterstützt, signalisierte seinerseits Kooperationsbereitschaft, wird aber offenbar von den USA außen vor gehalten.
Die Operation richte sich auch gegen den Einfluss der Türkei in der Region und stehe in Verbindung mit dem »Krieg in Nordkurdistan« im Südosten der Türkei sowie der »kurdischen Frage«, so Dicle. Gleichzeit geht der Journalist davon aus, dass das kurdische Modell einer Föderation das »einzige für ein demokratisches Syrien« sei. Die »Reinigung Nordsyriens vom IS« sei eine »Notwendigkeit«, um dem »multiethnischen und multireligiösen« Projekt Rojava zu einer »Machtposition« zu verhelfen, die unanfechtbar sein werde.
In Berlin traf sich am Freitag eine »AG Stabilisierung der internationalen Anti-ISIS-Koalition«. Unter dem Vorsitz Deutschlands und der Vereinigten Arabischen Emirate wurde im Auswärtigen Amt darüber beraten, wie in den »von ISIS befreiten Gebieten möglichst schnell öffentliche Infrastruktur wie Wasserversorgung, Krankenhäuser und Schulen« wiederhergestellt und »tragfähige Verwaltungsstrukturen« geschaffen werden könnten. Die Anwesenheit des US-Sonderbeauftragte für die Koalition gegen den »Islamischen Staat«, Brett McGurk, legt nahe, dass es auch um die beabsichtigte Pufferzone in Nordsyrien ging. McGurk hatte General Joseph Votel, den Oberbefehlshaber des US-Zentralkommandos, in der vergangenen Woche zu Gesprächen in Nordsyrien begleitet.
Die in Istanbul ansässige oppositionelle syrische »Nationale Koalition« (Etilaf) hat unterdessen am Donnerstag in einem Interview mit der Zeitung Wall Street Journal vorgeschlagen, dass Deutschland gleichberechtigt mit Russland und den USA die Verhandlungen über die Zukunft Syriens führen sollte. »Sie haben gute Beziehungen zu den Russen und den Amerikanern. Und sie waren so großzügig in der Aufnahme unserer Flüchtlinge. Sie haben die moralische Autorität, diesen Prozess voranzubringen.«

Polizeisumpf Dessau-Roßlau

Mord an chinesischer Studentin: Sachsen-Anhalt droht neuer Justizskandal

Von Susan Bonath, Sebastian Carlens und Claudia Wangerin
Mord_an_chinesischer_49448538.jpg
Alle Wege führen zur Dessauer Polizei: Im Fall Oury Jalloh ebenso wie im Mordfall Yangjie Li
Yangjie Li kam nach Deutschland, um zu lernen. Im fünften Semester studierte die junge Chinesin Architektur an der Hochschule Anhalt in Dessau. Vor knapp zwei Wochen wurde die grausam zugerichtete Leiche der 25jährigen in einem Gebüsch gefunden – am 11. Mai war Yangjie Li ermordet worden. Elfeinhalb Jahre nach dem Feuertod von Oury Jalloh in einer Gewahrsamszelle bahnt sich damit im Osten Sachsen-Anhalts ein neuer Justiz- und Polizeiskandal an. Im Fokus stehen wieder hochrangige Beamte und die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau.
Des Mordes verdächtigt wird ein junges Paar aus Dessau. Sebastian F. und Xenia I., beide 20, sollen Yangjie Li brutal missbraucht und erschlagen haben. Seit Dienstag sitzen sie in Untersuchungshaft. Dass neben sexuellen Motiven auch ein rassistisches Motiv hinter dem Verbrechen stecken könnte, ist nicht ausgeschlossen. Ein weiterer Verdacht: Die Familie des Verdächtigen F., seine Mutter und sein Stiefvater, hat möglicherweise versucht, die Ermittlungen zu behindern. Beide sind Polizisten: Der Stiefvater Jörg S. leitet das Polizeirevier Dessau-Roßlau. Die Mutter ist Beamtin bei der Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Ost in Dessau.
Wie MDR und Mitteldeutsche Zeitung (MZ) berichteten, soll die Mutter freiwillig der Ermittlungsgruppe im Mordfall Li beigetreten sein. Dabei könnte sie Informationen manipuliert oder nach außen gegeben haben. Laut Bild vom Mittwoch haben Zeugen zudem beobachtet, wie Mutter und Stiefvater am Wochenende die Wohnung des Paares leergeräumt und ihm beim Umzug geholfen haben. Auch der Tatort des Mordes soll sich in diesem Haus befinden. Ein Auszug hätte, da das Gebäude wegen der Ermittlungsarbeiten gesperrt ist, gemeldet werden müssen.
Für den verfahrensführenden Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann ist das kein Grund, gegen die Polizistin und den Revierleiter zu ermitteln. Es bestehe »nicht der leiseste Hauch eines Anfangsverdachts«, hieß es am Donnerstag aus seiner Behörde. Bittmann ermittelt bereits seit Jahren erfolglos im Fall Oury Jalloh. Bis heute liegt der Verdacht nahe, dass der in einer Gewahrsamszelle fixierte Flüchtling im Januar 2005 von Dessauer Polizisten angezündet worden sein könnte.
jW-Beilage Kinder
Die Eltern von Yangjie Li haben eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Bittmann gestellt. Sie werfen ihm vor, dass er auf einer Pressekonferenz ungeniert die Version der mutmaßlichen Täter verbreitet hatte. Diese ist inzwischen durch abweichende Zeugenaussagen in Zweifel gezogen worden. Mit der Geschichte, Yangjie Li habe sich freiwillig mit ihren mutmaßlichen Mördern zum Sex getroffen, habe Bittmann das Ansehen ihrer Tochter beschmutzt.
Ist Bittmann befangen? Am Donnerstag hatte sich das Justizministerium dagegen verwehrt. Am Freitag schaltete sich die Generalstaatsanwaltschaft Sachsen-Anhalt in Naumburg ein. Sie werde das Verfahren »eng begleiten«. Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad informierte am Freitag, er werde bis Montag deren Zuständigkeit überprüfen. Das Justizministerium hatte bereits die Ermittlungsarbeit von der Polizeidirektion Ost an die Direktion Süd in Halle übertragen.
Gegen die Polizeidirektion Ost geht Bittmann derweil mit einer Anzeige vor. Sie habe Dienstgeheimnisse gegenüber Medien verraten. Laut MDR geht es um entdeckte DNA-Spuren. Dies könnte Sebastian F. animiert haben, sich am Montag freiwillig bei der Polizei zu melden – ohne ein Geständnis abzulegen.
Laut Stefan Brodtrück, Sprecher des Landesinnenministeriums, prüft das Landeskriminalamt, ob die Mutter schon vergangene Ermittlungen gegen ihren Sohn behindert haben könnte. Laut MZ ging es dabei etwa um Brandstiftung. Auch im Oktober 2015 stand das Paar im Fokus der Justiz. Damals war ihr gemeinsames Kind verstorben. An der offiziellen Version »plötzlicher Kindstod« gab es Zweifel. Derzeit seien Stiefvater und Mutter krankgeschrieben. Das Ministerium prüfe ihre Versetzung aus Dessau.
Auf eine Nachfrage von jW zu den Vorwürfen reagierte Bittmann am Freitag bis zum Redaktionsschluss nicht. Damit muss eine weitere Ungereimtheit offenbleiben: Wer außer den Ermittlern hat Zugang zu den Facebook-Profilen der Tatverdächtigen? Im Laufe des Donnerstags wurden diese um Inhalte bereinigt. Ihre Inhaber sitzen allerdings in Untersuchungshaft – und haben keinen Internetzugang.

Am Ende eines Aufbruchs


Nach eineinhalb Jahrzehnten linker Hegemonie von Argentinien bis Venezuela drängen reaktionäre Kräfte erneut an die Macht. Zur Rechtswende in Lateinamerika (Teil I)

Von Dieter Boris, Achim Wahl
Brazil_Political_Cri_48980045.jpg
Präsident der Straße: Brasiliens Exregierungschef Luiz Inácio Lula da Silva auf einer Kundgebung von Anhängern der vorläufig aus dem Amt gedrängten Staatschefin Dilma Rousseff am 16. April 2016
Dieter Boris ist Hochschullehrer im Ruhestand an der Universität Marburg. Achim Wahl ist Lateinamerikanist und war von 2002 bis 2004 Büroleiter der Rosa Luxemburg Stiftung in Brasilien
Seit etwa drei Jahren befinden sich die linken Regierungen in mehreren lateinamerikanischen Ländern in der Defensive. In unterschiedlichem Ausmaß sind sie mit sinkender Wählerzustimmung, Massenprotesten, ökonomischen und sozialen Problemen sowie verengten Verteilungs- und Handlungsspielräumen konfrontiert. Manche sprechen vom »Auslaufen eines Zyklus«, so etwa der Historiker und Sozialwissenschaftler Guillermo Almeyra. Mit der Protestwelle des Junis und Julis 2013 in Brasilien, dem Tod des venezolanischen Staatschefs Hugo Chávez im März 2013 und den darauf folgenden gewalttätigen Ausschreitungen der rechten Opposition waren markante Wendepunkte erreicht. Auf den Sieg des neoliberalen Konservativen Mauricio Macri bei den Präsidentschaftswahlen in Argentinien im November 2015 folgte im Dezember desselben Jahres der nächste Paukenschlag, als in Venezuela die vereinigte Rechte der Regierung unter Chávez’ Amtsnachfolger Nicolás Maduro eine herbe Niederlage bei den Parlamentswahlen beibrachte und eine Zweidrittelmehrheit in der Abgeordnetenkammer gewann – welche allerdings einige Wochen später, nach mehreren Anfechtungen, vom Obersten Gerichtshof des Landes gekippt wurde. Der bolivianische Präsident Evo Morales verlor im Februar 2016 ein Referendum, das ihm eine vierte Amtszeit nach 2019 ermöglichen sollte. Im April wurde schließlich in Brasilien gegen die noch vor 18 Monaten mit knapper Mehrheit im Amt bestätigte Präsidentin einer Mitte-links-Regierung, Dilma Rousseff, von der konservativen Mehrheit des Abgeordnetenhauses ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet. Nachdem am 12. Mai auch im Senat eine Zweidrittelmehrheit für eine Amtsenthebung der Präsidentin votiert hatte, wurde sie für ein halbes Jahr suspendiert und von ihrem bisherigen Vizepräsidenten, dem Neoliberalen Michel Temer, als Interimspräsident abgelöst. Dieser »weiche« beziehungsweise institutionelle Putsch, der in ähnlicher Form bereits 2009 in Honduras und 2012 in Paraguay gegen gewählte, fortschrittliche Präsidenten zu beobachten war, leitete einen scharfen politischen Richtungswechsel mit Kurs auf eine Rückkehr zum Neoliberalismus ein.
Zwar sind weitere Links- beziehungsweise Mitte-links-Regierungen in Bolivien, Ecuador, Uruguay, Nicaragua, El Salvador und Chile nach wie vor im Amt, doch sind die jüngsten Umbrüche in den ökonomisch und politisch bedeutenden Ländern Argentinien, Venezuela und vor allem Brasilien für die Gesamtentwicklung des Subkontinents von großer Tragweite. Es muss daher die Frage gestellt werden, ob damit die Periode der Linksregierungen zu Ende geht und welche Gründe es für die genannten Prozesse gibt.

Erklärungen und Interpretationen

Viele bisher vorgebrachte Erklärungsansätze erscheinen unzureichend, da sie sich häufig auf einzelne Faktoren oder oberflächliche Erscheinungen fokussieren: Das schlichte Nebeneinanderstellen von positiven und negativen Resultaten linker Regierungstätigkeit bleibt ebenso unbefriedigend wie der Hinweis auf Führungsschwächen oder auf die gegenwärtige (welt-)wirtschaftliche Rezessionsphase. Auch die von mancher Seite zu hörende Erklärung, dass nun – mit der starken Abschwächung der Weltmarktpreise für Rohstoffe – das Wirtschaftsmodell des »Neoextraktivismus« (der intensiven Ausbeutung eigener natürlicher Ressourcen) endgültig an seine Grenzen stoße, kann kaum überzeugen. Ebenso wenig schlüssig erscheint die gern vorgebrachte pauschale Behauptung, die politischen und ökonomischen Transformationsversuche der Linksregierungen seien ohnehin von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen.
In Lateinamerika selbst werden die Entwicklungen der letzten Jahre in einer intensiven und äußerst kontrovers geführten Debatte ergründet. Dabei wird gelegentlich sogar denjenigen, die ein Auslaufen oder eine Erschöpfung des »progressiven Zyklus« konstatieren, unterstellt, sie wollten dessen Ende »herbeireden« oder seien bestenfalls geschichtsphilosophischen Spekulationen erlegen.
Im folgenden soll der Versuch einer materialistischen Analyse unternommen werden. Diese muss die Ausgangsbedingungen der Gesellschaften in den links regierten Ländern vor Beginn des jeweiligen Transformationsvorhabens berücksichtigen. Sie muss die Kräfteverhältnisse bei der Zurückdrängung des Neoliberalismus untersuchen und die zentralen, auf Veränderungen zielenden Maßnahmen der Linksregierungen sowie deren Wirkungen auf die jeweiligen Gesellschaften herausarbeiten – in bezug auf die sozioökonomische Lebenslage, auf Sicherheit, Aufstiegsmöglichkeiten, Bewegungsfreiheiten sowie die politischen und gewerkschaftlichen Artikulationsmöglichkeiten.
Dabei fällt auf, dass die Linksregierungen bis etwa 2013 mehrheitlich große Zustimmungswerte seitens der Bevölkerungen ihrer Länder erzielten. Dies lässt sich anhand von empirischen Daten, statistischen Materialien, Umfragewerten und mehreren gewonnenen Wiederwahlen nachvollziehen. Dennoch scheint es innerhalb ihrer bisherigen Basis schon bis zu diesem Zeitpunkt Unmut gegeben zu haben. Die Frage ist, warum und wann die Befürwortung in Ablehnung umschlug, welche politischen und ökonomischen Maßnahmen wachsendes Missfallen hervorgerufen haben.
Dabei sind innere und äußere Bedingungen ebenso wie unterschiedliche gesellschaftliche Ebenen und Akteure ihrer jeweiligen Bedeutung nach einzubeziehen. Die wachsende Unzufriedenheit in Teilen der bisherigen sozialen Basis und Wählerschaft und das offensivere Auftreten der jeweiligen nationalen Rechten – inklusive ihrer allzeit bereiten auswärtigen Unterstützer – scheint ein wechselseitiger, sich aufschaukelnder Prozess zu sein, der letztlich in einer deutlichen Veränderung der Kräfteverhältnisse zuungunsten der Linksregierungen mündet.

Keine Überlegungen zur Strategie

S 13.jpg
Präsident der Bosse: Brasiliens ins Amt geputschter geschäftsführender Staatschef Michel Temer beim Empfang seiner Getreuen im Mai 2016
Ausgangspunkt war die verkündete Abkehr von einer neoliberalen Politik, die sich jedoch nur in beschränktem Maß in konkreten politischen Maßnahmen niederschlug. Erweiterte Mitbestimmungsrechte für die Bürger, die Wiederherstellung der Staatlichkeit und des öffentlichen Raums gegenüber der Allmacht des Marktes und der fortschreitenden Privatisierungen sowie die Rückeroberung der nationalstaatlichen Souveränität waren die wichtigsten Zielpunkte der Linksregierungen. Zudem wurde eine Anerkennung und der gesetzliche Schutz der Lebenswelt der indigenen Bevölkerungsgruppen versprochen. Die Neuausrichtung wurde vor allem in den Staaten mit verfassunggebenden Versammlungen (Venezuela, Bolivien, Ecuador) diskutiert; für die neuen Verfassungen wurden entsprechende Ziele formuliert. Aber eine konkrete Festlegung auf die angestrebte Gesellschaftsform wurde dabei nicht vorgenommen. So ist es erstaunlich, dass die Diskussion über die Gesellschafts- und Staatsziele in der Öffentlichkeit und der Bevölkerung seit einigen Jahren offenbar kaum weitergeführt wurde.
Dadurch kann der Eindruck erweckt werden, dass es vor allem darauf ankomme, die bisher erreichten sozialen und politischen Verbesserungen (etwa die Verringerung der Armut, die Bekämpfung der Ungleichheit, die Steigerung der Löhne) zu halten und vielleicht auszubauen – aber nicht länger eine tiefer gehende gesellschaftliche Transformation anzustreben. Dies scheint einer der Gründe dafür zu sein, dass sich in einigen Ländern relativ überraschend soziale Bewegungen mit großer Öffentlichkeitswirkung zu Wort meldeten (so 2013 in Brasilien und 2014 in Venezuela), die auf Versäumnisse der Regierungen hinwiesen. Dabei wurde nicht immer klar, ob diese Proteste nun eher von »rechts« oder von »links« kamen. In bezug auf eine längerfristige politische Orientierung scheint das Verhältnis von Antineoliberalismus und Antikapitalismus kaum explizit von den Linksregierungen thematisiert worden zu sein.
Die Ansätze zur Umwandlung der ökonomischen Strukturen waren und sind in den verschiedenen Ländern unterschiedlich deutlich und weisen verschiedene Akzente auf. Ein wichtiges Kriterium dafür, in welchem Ausmaß der antineoliberale Anspruch realisiert und tiefgreifende Veränderungen begonnen wurden, kann in der quantitativen und qualitativen Entwicklung des staatlichen Bereichs der Wirtschaft gesehen werden. In dieser Hinsicht scheint das Kabinett von Ecuador unter den Linksregierungen an der Spitze zu liegen. Dies wird nicht nur anhand der überdurchschnittlichen regionalen Investitionsquote zwischen 2007 und 2013 (mit 24,5 Prozent gegenüber dem lateinamerikanischen Durchschnitt von ca. 20 Prozent) deutlich. In jenem Zeitraum wurden auch die öffentlichen Investitionen etwa verdreifacht. Dies schlug sich etwa im Bereich der Infrastruktur (Straßen, Häfen, Wasserkraftwerke et cetera) nieder. Auch der Bildungs- und Erziehungsberich sowie der Gesundheitssektor wurden ausgebaut und die Qualität der bestehenden Angebote wurde verbessert. Hinsichtlich der Ausgaben für Bildung und Gesundheit nimmt Ecuador in Lateinamerika den ersten beziehungsweise zweiten Platz ein. Bei manchen von Linksregierungen geführten Ländern ist die quantitative Ausweitung im Bildungssektor jedoch teilweise zu Lasten der Qualität und Effizienz gegangen, so etwa in Venezuela.
In den meisten Ländern gerät fortschrittliche Bildungspolitik – abseits von Konzeptions- und Umsetzungsmängeln – an Grenzen. Eine davon ist die traditionelle gesellschaftliche Wertschätzung verschiedener Arten von Bildung: So existieren privilegierte und stigmatisierte Einrichtungen und Schultypen. Diese lange tradierten Wahrnehmungsmuster lassen sich nur schwer kurzfristig überwinden. Bestehende Bürokratien, das Verhalten des Lehrpersonals gegenüber den Schülern sowie ein mangelnder gesamtgesellschaftlicher Konsens bezüglich der Maßnahmen zur Verringerung von Ungleichheit konterkarieren fortschrittliche Vorhaben. Letztere erschöpfen sich daher meist in einer Erhöhung der Zahl der Bildungseinrichtungen und in der Erleichterung von Zugangsmöglichkeiten. In seiner eingehenden Untersuchung der Bildungspolitik von Venezuela und Uruguay, deren Befund sich wahrscheinlich verallgemeinern lässt, gelangt der Sozialwissenschaftler Stefan Peters zu einem ernüchternden Ergebnis: »Mit der hierarchischen Fragmentierung des Bildungssystems, dem Dilemma progressiver Bildungspolitiken und den Grenzen der Bildungspolitik können drei Elemente ausgemacht werden, die einer Reduzierung sozialer Ungleichheiten mittels bildungspolitischer Reformen strukturell entgegenstehen«. Großen Hoffnungen auf grundlegende gesellschaftsverändernde Potentiale progressiver Bildungspolitik begegnet Peters mit dem Verweis auf zwei entscheidende »Leerstellen der Debatte«: »Weder berücksichtigen sie in angemessener Weise die jeweilige Ausgangslage und Strukturierung des Politikfeldes auf dem Reformen stattfinden, noch sind sie sensibel für tiefer liegende, strukturelle Hindernisse und generelle Begrenzungen der Reformpolitiken in Lateinamerika.«¹
UZ-Pressefest
Im Falle Brasiliens und Argentiniens zeigt sich im allgemeinen ein widersprüchliches Bild: Einerseits gibt es Versuche, den öffentlichen Sektor auszubauen: so etwa in Teilen des Bildungswesens, bei den Universitäten etwa, oder im Verkehrswesen. Andererseits gibt es in einigen Bereichen eine Zunahme privater Dienstleistungen. So dürfte etwa in Brasilien im Sekundarschulbereich gerade in den letzten Jahren schneller als das öffentliche das nichtstaatliche Angebot gewachsen sein. Obwohl in dem größten Land Südamerikas von 2003 bis 2010 die weltweit höchsten Steigerungen der Ausgaben für Bildung im Staatshaushalt erreicht worden sind und diese mittlerweile mit 6,1 Prozent des BIP über dem OECD-Durchschnitt von 5,4 Prozent liegen, »perpetuiert« das öffentliche Bildungssystem »weiterhin gesellschaftliche Ungleichheiten«, bemerkt dazu der Politikwissenschaftler Yesko Quiroga Stöllger, Leiter des Büros der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung in São Paulo. Ähnliches scheint im brasilianischen Verkehrs- und Gesundheitsbereich zu gelten.

Problem regressiver Steuern

Die in den links regierten Ländern insgesamt geringe Ausweitung der öffentlichen Dienstleistungen und des öffentlichen Sektors hängt vor allem auch damit zusammen, dass die in der Regel regressiven Steuersysteme Lateinamerikas auch unter den progressiven Regierungen nicht tiefgreifend verändert wurden. Ein regressives Steuersystem zeichnet sich dadurch aus, dass Bürger prozentual umso weniger Abgaben zahlen, je höher ihr Einkommen ist. Zwar ist das Steueraufkommen insgesamt fast überall gestiegen, doch war dies vor allem auf verbesserte Eintreibungsmechanismen, eine gute Binnenmarktentwicklung, Einkommenssteigerungen und deutlich gestiegene Exportsteuern zurückzuführen. Allerdings liegt das nicht nur an der Passivität der Regierungen, sondern auch am Widerstand derjenigen sozialen Gruppen, die von einer steuerlichen Mehrbelastung für Unternehmen und Vermögende selbst profitieren würden. Hier ist zweifellos noch viel Aufklärungsarbeit seitens der politischen Linken zu leisten.
Deutlich wird dies am Beispiel Ecuadors. Der Anfang 2015 von der Regierung unter Rafael Correa eingebrachte Gesetzesentwurf, der auf höhere Steuern für Reiche, sehr große Erbschaften und Spekulationsgewinne aus dem Immobiliengeschäft abzielte, traf schnell auf erbitterten Widerstand. Große Demonstrationen bestimmten im Jahr 2015 das politische Klima im Land. Die Regierung musste den vergleichsweise moderaten Entwurf zunächst zurückstellen. Dafür verantwortlich war wahrscheinlich weniger das Gesetzesvorhaben selbst. Eine entscheidende Rolle spielte vielmehr der Umstand, das die Regierung vorher schon eine gründliche Verwaltungsreform unter Einschluss einer soliden Ausbildung für Steuerbeamte durchgeführt hatte. Die von den geplanten Erhöhungen Betroffenen konnten also nicht darauf hoffen, dass das Vorhaben wie jeder Ansatz einer progressiven Steuerreform durch Schlupflöcher und andere Umgehungsmöglichkeiten umgehend verwässert worden wäre.
Auf diesen wichtigen Zusammenhang hat der Steuerexperte für Lateinamerika, Andreas Boeckh, aufmerksam gemacht: »Versuche, die regressive Wirkung des Steuersystems abzumildern, konnten zum Teil auch unter schwierigen politischen Voraussetzungen abgeblockt werden, und dann, wenn tatsächlich ein progressives Steuersystem etabliert wurde, scheiterte dies an einer überforderten und korrupten Steuerverwaltung. Nicht umsonst wurden die Proteste gegen staatliche Reformversuche besonders schrill, wenn es darum ging, mit Hilfe einer verbesserten Steuerverwaltung schon bestehende Steuergesetze auch wirklich anzuwenden.«² Genau dies scheint der Hintergrund der Proteste in Ecuador gewesen zu sein.

Ökonomische Defizite

Auch Einflussmöglichkeiten auf wirtschaftliche Entwicklung wurden nicht genutzt. Dies gilt ebenfalls für die Veränderung der ökonomischen Grundstrukturen in Richtung einer stärkeren Diversifizierung und internen Verkettung der Zweige und Sektoren.
Selbst in jenen Ländern, in denen das industrielle Wachstum gegenüber dem Wachstum des gesamten Bruttoinlandsprodukts überproportional war (wie etwa in Argentinien zwischen 2003 und 2009), blieben die Probleme im wesentlichen die gleichen. Das bedeutete auch, dass sich nach einigen Jahren des Zusammentreffens günstiger Faktoren die alten Schieflagen in Form von steigendem Inflationstempo, wachsendem Minus im Staatshaushalt, Handelsbilanzdefiziten und dem Schwund der Devisenreserven erneut einstellten. Der argentinische Ökonom Lo Vuolo hat die bestehenden Probleme treffend für sein Land zusammengefasst. Vieles lässt sich auch auf die anderen Länder mit linken Regierungen übertragen:
1. konzentrierte Spezialisierung und Einbindung in den Weltmarkt auf der Basis von Rohstoffen,
2. profunde Unterschiede der Produktivität zwischen Branchen, Unternehmen und Regionen,
3. sehr ungleiche Konsummuster, die zudem stark von Importen abhängen,
4. Devisenknappheit wegen negativer Handelsbilanz und Kreditverpflichtungen beziehungsweise Schuldendienst,
5. regressive Steuern, die nicht reichen, um die versprochenen öffentlichen Ausgaben finanzieren zu können,
6. größere ökonomische Konzentration (und des Reichtums) sowie eine noch stärkere Auslandskontrolle bei den Topunternehmen,
7. hohe Gewinne bei Aktivitäten mit Rentencharakter (wobei viele davon mit staatlichen Sektoren verbunden sind).
Diese Tendenzen, in Verbindung mit einer mehr oder minder deutlichen Verringerung der Bedeutung der Industrieproduktion, werden in manchen Ländern – wie etwa Brasilien – durch einen hohen Leitzins und eine häufige Überbewertung der Landeswährung verstärkt. Dadurch werden Investitionen in die verarbeitende Industrie immer unattraktiver. Die nach wie vor vorhandenen Machtkonstellationen in der Wirtschaft privilegieren also eindeutig den nationalen und internationalen Finanzsektor. Diesen ökonomischen Defiziten entsprechen fortdauernde soziale Probleme:
1. ein immer noch hoher Anteil prekärer Arbeitsverhältnisse,
2. sehr ungleiche Verteilung der Einkommen und des Reichtums,
3. soziale Systeme mit schlechtem Zugang zu Dienstleistungen und Transfers für die Ärmsten,
4. ein hohes Armutsniveau, wobei die Einkommen sich bei starkem ökonomischen Wachstum verbessern. Während die Armutsquote dann vorübergehend sinkt, steigt sie in Perioden der Rezession rasch wieder an. Dies scheint in den letzten beiden Jahren in vielen Ländern Lateinamerikas der Fall gewesen zu sein.
Anmerkungen
1 Peters, Stefan: Bildungsreformen und soziale Ungleichheiten in Lateinamerika. Kontinuität im Wandel in Venezuela und Uruguay. Nomos, Baden-Baden 2013
2 Boeckh, Andreas: »Staatsfinanzierung und soziale Gerechtigkeit in Lateinamerika«. In: Wehr, Ingrid / Burchardt, Hans-Jürgen: Soziale Ungleichheiten in Lateinamerika. Nomos, Baden-Baden 2011, 71–90.

Review: Brachiales Industrial-Gewitter über Dresden. Laibach auf „The Sound of Music“ Tour (16.04.2016, Dresden)

125
Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Zugegeben ich bin jetzt nicht der größte Laibach-Fan bzw. kenne mich ganz genau mit den Werken der Band aus. Der Name ist natürlich bekannt, wie auch der ein oder andere Track bzw. die markante Kopfbedeckung des Sängers – aber so richtig auf meinem musikalischen Schirm sind die Slowenen bei mir erst seit den letzten beiden Veröffentlichungen „Spectre“ und „Volk“ bzw. dem Soundtrack zum Film „Iron Sky“ gelandet. Dass Mute Records schon seit Ende der 80er die Alben rausbringt, spricht ja definitiv für sich. Habe mir aber von wirklichen Laibach(aus)kennern sagen lassen, dass ich das Gesamtkunstwerk der Band sowieso erst richtig verstehen würde, wenn ich sie mal live und in Farbe gesehen habe. Am besagten Samstag bot sich nun also für mich diese Gelegenheit…
Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Alter Schlachthof, einer der ersten sonnigen Frühlingstage. Fußball ist in der Luft und Laibach hatten bereits tags zuvor ein Konzert in Leipzig gespielt. Soviel zu den Eckdaten. Der kleine Saal vom Dresdener Schlachthof war jedenfalls mit einem schwarzbunten und teilweise durchaus älteren Publikum gut gefüllt, aber auch nicht rappelvoll. Viel Zeit zum Sinnieren darüber war jedenfalls nicht. Kurzer Blick Richtung Bühne, vor einer ziemlich großen Leinwand waren passend zur aktuellen Besetzung ein Schlagzeug, drei Keyboards/Synthesizer bzw. ein einzelnes Standmikro aufgebaut, was darauf schließen ließ, dass es keine Vorband geben würde, und dann ging es auch schon pünktlich zur achten Stunde los.
Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Ein brachiales Industrial-Gewitter leitet den ersten Track oder besser gesagt die ersten drei EBM-Stampfer ein, welche auf slowenisch intoniert und fast im Dunkeln gespielt wurden. Einen Wiedererkennungseffekt – nicht nur visuell – hatte ich erst bei „Eurovision“, wo die typischen Sterne sogar durch die Beleuchtung auf die Bühne übertragen wurden. Danach folgten u.a. „Walk With Me“ und „No History“ vom immer noch aktuellen Longplayer „Spectre“, bei Denen auch schön das gesangliche Wechselspiel zwischen der hohen, klaren Stimme von Mina Spiler und der eintönig Tiefen von Milan Fras zum Vorschein kam.
Pause?!?
Pause, auf U-Musik-Konzerten eher unüblich, hat das schon mehr Theater-Stil! Ein 15min-Countdown lief runter und gab somit allen Anwesenden Zeit das so eben Erlebte noch einmal Revue passieren zu lassen bzw. für Nachschub in Sachen Genussmittelverzehrung zu sorgen. Ich nahm den Merch-Stand unter die Lupe und kann diesen wirklich weiterempfehlen, auch online. Denn neben den üblichen Shirts- & Tonträger-Kram, konnte man dort u.a. Laibach-Briefmarken, Hygieneartikel und auch ein Party-Buch erwerben. Was mich schon sehr an Sachen von der Satire-Partei „Die Partei“ erinnert hat.
3-2-1
Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Pause vorbei – auf der Videowand wurde es ziemlich bunt, teilweise schon mangamäßig bunt und farblich ein ziemlicher Gegensatz zum restlichen Schwarz auf, an und neben der Bühne. Es folgen jetzt die Stücke zum gleichnamigen Tournamen aus dem Musical „The Sound of Music“, welches die Band zwar ins laibachische Korsett gepresst hat, trotzdem ein wenig eingängiger klang (um mal das Wort popig zu vermeiden), als die Tracks aus dem ersten Teil der Show. Da ich persönlich kein großer Freund dieser Form der Unherhaltungskunst aus Tanz, Gesang bzw. Schauspiel bin, kannte ich die Stücke aus dem Original nicht, aber die Versionen der slowenischen Band haben durchaus das gewisse Etwas und Songs neu zu interpretieren ist für Laibach auch nicht mehr wirklich unbekanntes Terrain.
Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Was mir während das ganzen Konzertes aufgefallen war, dass die Band nicht direkt mit dem Publikum kommunizierte, sondern entweder durch Botschaften auf der Leinwand oder Sprecheransagen vom Band, so auch beim Zugabenteil, wo sich mein persönlicher Wiedererkennungswert von Laibach-Stücken wieder erhöhte. Denn es folgte mit „B Maschina“ ein Song aus „Iron Sky Soundtrack“(den sie auch produziert hat) und auf der Leinwand waren ebenso Ausschnitte aus besagtem Film zu sehen. Anschließend „Live is Life“ – einer der bekanntesten Tracks und das Opus Cover war wahrscheinlich mit der Höhepunkt des Abends. Meiner Meinung nach eine der wenigen Neuinterpretationen von Songs, die wirklich besser klingen als das Original. Das Publikum sah es offensichtlich ähnlich, der Refrain wurde lauthals mitgebrüllt und eben wegen diesen frenetischen Konzertbesuchern gab es noch eine weitere Zugabe. Abschließend erschien auf der Videowand noch ein Trailer zu einer Dokumentation „Laibach The Movie“ über den umstrittenen Auftritt der Band zum 70. Jahrestag des Bestehen von Nordkorea – das war das erste Konzert einer westlichen Band überhaupt in dem Land – der bei den dort anwesenden Einheimischen allerdings ein wenig andere Reaktionen auslöste, als beispielsweise der Stones-Auftritt letztens auf Kuba.
Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Fazit:
Laibach sind als quasi als lebendes Gesamtkunstwerk zu verstehen, hatten u.a. ja auch schon einen Auftritt in der Londoner Gallery of Modern Art und haben mich mit ihrer Performance sehr an Konzerte von Kraftwerk, Einstürzende Neubauten bzw. Rammstein erinnert. Wo es auch gewisse Gemeinsamkeiten gibt, wenn man mal die tiefe prägnante Stimme samt sofortigem Wiedererkennungswert zwischen Milan Fras und der von Lindemann vergleicht und Letztere haben in Interviews auch schon erzählt von Laibach beeinflusst zu sein. Dafür haben sich die Slowenen dann wiederum mit dem Remix zu „Ohne Dich“ revanchiert. Mit den Neubauten haben Laibach sicherlich nicht nur das Gründungsjahr 1980 gemein, sondern auch den sehr industrial-lastischen kompromisslosen Sound der ersten Alben – höchstwahrscheinlich anfänglich ohne von einander zu wissen, schließlich gab’s in der 80er noch kein Internet, außerdem existierte auch noch der sogenannte Eiserne Vorhang – welcher dann über die Jahre mehr und mehr eingängiger bzw. melodischer wurde. Von Kraftwerk sind Laibach sicherlich audiovisuell mit beeinflusst, denn wie es bei den Pionieren der elektronischen Musik üblich ist, dass die Musiker auf der Bühne in den Hintergrund treten, um mehr Raum der Musik zur Verfügung zu stellen, welche zusätzlich von Videoprojektionen unterstützt wird, so war dies auch bei dem Konzert von Laibach der Fall. Wer also demnächst die Chance hat ein Konzert der slowenischen Band zusehen (und Diese noch nicht live erlebt hat), unbedingt hingehen. Es ist zwar ganz hilfreich, den doppelten bzw. dreifachen Boden zu verstehen und einordnen zu können, wenn man wie ich noch ein paar Jahre im Sozialismus hinter der Mauer aufgewachsen ist, ist aber für den mitdenken Konzertbesucher nicht zwingend erforderlich.
Unsere Galerie vom Abend:
Laibach (16.04.2016, Dresden) [22]

Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Laibach (Foto: Kristin Hofmann)
Setlist:
    1. Olav Trygvason (Edvard Grieg cover)
    2. Smrt za smrt
    3. Brat Moj
    4. Now You Will Pay 
The Great Divide
    5. 
Eurovision
    6. Walk with Me
    7. 
No History
    8. Resistance Is Futile
    9. Do-Re-Mi (Rodgers & Hammerstein cover)
    10. Edelweiss (Rodgers & Hammerstein cover)
    11. The Sound of Music (Rodgers & Hammerstein cover)
    12. My Favorite Things (Rodgers & Hammerstein cover)
    13. We Are Millions and Millions Are One
    14. Ballad of a Thin Man (Bob Dylan cover)
    15. Bossanova
      Encore:
    16. B Mashina (Siddharta cover)
    17. Opus Dei (Opus cover)
    18. Each Man Kills the Thing He Loves (Jeanne Moreau cover)
Links:
www.laibach.org
Anschauen: Laibach The Movie“; „The Videos“
Reinhören: „An Introdiction To… Laibach“; „Anthems“
Weiterhören:
„Spectre“; „Volk“; „WAT“; „Jesus Christ Superstar“; „NATO“; „Kapital“; „Sympathy For The Devil“; „Let It Be“; „Opus Die“; „Nova Akropola“; „Laibach“

Solidarität den Protestierenden der Nuit Debout in Frankreich!

Helft uns!
Die Bewegung der Arbeiter_innen und der Jugendlichen kann ihre Verletzten nicht mehr zählen. Es sind Hunderte und es ist ein Wunder, das es noch keine Toten gab.
Die Gewalt der französischen Regierung um den Widerstand zu brechen wird immer mehr. Diese Regierung wird immer drohender gegen unsere gewerkschaftlichen und politischen Organisationen, vor allem gegen die größte französische Gewerkschaft, die CGT.
Was in Frankreich passiert, ist ein neues Kapitel in der Agression, die sich in Europa und in der Welt gegen die Jugend und die Arbeiter_innen entfaltet, um die Interessen der Reichsten und der Bourgeoisie auf diesem Planeten zu bewahren.
Dies ist ein wichtiger Augenblick in der sozialen Schlacht und wir brauchen die Hilfe der Arbeiter_innen und Jugendlichen in Italien, Spanien, Algerien, China, Südkorea, Schweiz, Belgien, Deutschland, Großbritannien, Irland, Schottland, Polen, Portugal, Marokko, USA, Türchei, Slovakei, Tschechien, Rumänien, Griechenland, Kanada, - überall dort, wo französische Unternehmen, die diese Regierung in dieser Agression gegen uns finanziert haben, wichtige Interessen haben.

Helft uns!
Die Profite des französischen Kapitalismus blockieren!
Kein Schiff darf Waren und Rohstoffe nach Frankreich verladen!
Kein Zug darf nach Frankreich fahren!
Kein LKW darf die Industrie- und Handelsmaschine des französischen Kapitalismus versorgen;
Kein Tropfen Öl, kein Kubikmeter Gas, kein Energieaustausch, bis die französische Regierung aufgehört hat, die Rechte der Arbeiter_innen anzugreifen. Bis dahin kein LKW, kein Zug, kein Schiff.
Protestiert vor den französischen Botschaften! Protestiert vor den französischen Unternehmen in Italien, vor den Einkaufszentren, den Fabriken!
Vor allem gegen die französischen Banken (die Griechenland stranguliert haben)! Protestiert überall wo es französische Interessen gibt. Eure Herren sind unsere Herren und sie zählen auf unsere Spaltungen. Ein Sieg der Areiter in Frankreich wäre ein Sieg der Arbeiter_innen in Europa.
Es ist möglich.
Helft uns!!!

Pascal Pascal
Roquebrune-Cap-Martin, Frankreich
SI Cobas Torino
Aus Frankreich

Die Kulturrevolution: Schrecken für Reaktionäre – Vorbild für Revolutionäre

Die Kulturrevolution: Schrecken für Reaktionäre – Vorbild für Revolutionäre
Mao Zedong - Anführer der chinesischen Revolution
50 Jahre Große Proletarische Kulturrevolution in China
Am 8. August jährt sich zum 50. Mal der Beginn der Großen Proletarischen Kulturrevolution in China. Mit dem damaligen Beschluss der knappen Mehrheit des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei (KP) Chinas wurde unter Führung Mao Zedongs eine in der Geschichte der Menschheit noch nie dagewesene Massenbewegung zur Verhinderung einer Restauration des Kapitalismus eingeleitet
In China hatte 1949 die Revolution gesiegt, aber das heißt eben nicht, dass der Aufbau des Sozialismus ungehindert vorankommt. Der Klassenkampf ging – teils in neuen Formen – weiter. Die alten Mächte setzten mit Sabotage bis zur bewaffneten Aggression alles daran, ihre Macht wieder zu erobern. Noch größere Gefahren entwickelten sich aus der Bürokratie in Partei, Staat und Wirtschaft: Teile dieser Kräfte entarteten mit Privilegien, Karrierismus und Selbstsucht und steuerten schließlich die Machtergreifung als neue bürokratische Kapitalistenklasse an. Genau das war 1956 in der Sowjetunion passiert. Das wollten die Marxisten-Leninisten in China mit der Großen Proletarischen Kulturrevolution verhindern.
Zum Jahrestag der Einrichtung einer Arbeitsgruppe zur Vorbereitung der Kulturrevolution bei einem ZK-Plenum der KP Chinas im Mai 1966 traten bürgerliche Massenmedien eine Schlammlawine antikommunistischer Hetztiraden über die Kulturrevolution los. Woher kommt dieser blinde Hass – nach immerhin 50 Jahren?
Für die Hasser der Kulturrevolution – auch in der heutigen sozialimperialistischen chinesischen Führung – handelt es sich bei der Kulturrevolution um „zehn verlorene Jahre“ oder „zehn Jahre Chaos“1. Das Volk sei von Mao Zedong „in einen Sturm von Raserei und Gewalt verstrickt“ (ebenda) worden, um seine persönlichen Machtgelüste zu befriedigen. Solche Behauptungen, meist gepaart mit frei erfundenen Millionenzahlen von Opfern, entbehren jeder – erst recht wissenschaftlichen – Grundlage.
Maos Ansprachen an die Genossinnen und Genossen der Partei, seine millionenfach publizierten Weisungen sind überprüfbar. Sie mobilisierten eben nicht für persönliche Motive, sondern zum Klassenkampf zur Rettung des Sozialismus. Eine solche Massenbewegung gegen bürokratische Erscheinungen und ihre Vertreter ist natürlich „kein Deckchensticken“, wie Mao es selber sagte. Es gab auch Entgleisungen und Übergriffe. Dabei gingen solche Gewaltakte meist von den Parteirechten aus. Sie hetzten eigene, konkurrierende „Rote Garden“ auf – die die jugendliche Massenbewegung attackierten. Aber auch diese waren nicht frei von Überspitzungen, zum Beispiel, wenn in Versammlungen als Bürokraten entlarvte Parteifunktionäre persönlich diffamiert oder attackiert wurden. Das wurde von Mao Zedong und anderen Revolutionären stets kritisiert.
Mao Zedong zog aus der Entwicklung die vorausschauende Schlussfolgerung: „Die gegenwärtige große Kulturrevolution ist nur die erste ihrer Art. In Zukunft werden unausweichlich noch viele andere folgen. Die Frage, wer die Revolution gewinnen soll, kann nur innerhalb eines langen historischen Zeitraums entschieden werden. Wenn nicht aufgepasst wird, kann jederzeit eine kapitalistische Restauration erfolgen.“2
Typisch für den herrschenden Antikommunismus ist die Behauptung des Deutschlandfunks, die Wirtschaft in China sei in der Kulturrevolution zusammengebrochen, aufgrund einer „staatlich verordneten Anarchie“3.
Die Produktionszahlen der damaligen Jahre demonstrieren etwas anderes. „Zwischen 1965 (dem letzten Jahr vor der Kulturrevolution) und den letzten Jahren, über die einige Informationen vorliegen, hat es keine Stagnation gegeben. Die Elektrizitätserzeugung ist von 42 auf 108 Mrd. kwh … gestiegen. Die Stahlproduktion ist von 12,5 auf 23,8 Mio. t angewachsen (1974), die Kohleerzeugung hat sich von 220 auf 389 Mio. t gesteigert (1974) … Angesichts dieser Fakten von einer langen Periode der Stagnation oder sogar von Regression zu sprechen, steht im völligen Widerspruch zur Realität. Was mit dieser Behauptung bezweckt wird, ist eine Verleumdung der Kulturrevolution selbst.“4
Wie sollten solche Produktionssteigerungen unter Bedingungen von Chaos, Massenmord und Massenterror möglich sein, wie sie nach der antikommunistischen Propaganda geherrscht hätten? Der Grund für die große Leistung der Volksmassen: Das sozialistische Bewusstsein wurde unter Führung Mao Zedongs zur Haupttriebkraft der Produktion.
Gewaltige, für alle spürbare Veränderungen hatten sich im ganzen Land vollzogen: Überall übernahmen die Massen in Form der Revolutionskomitees die direkte Machtausübung – nicht eingesetzt, sondern wählbar und abwählbar.
Die leitenden Kader in Industrie und Landwirtschaft wurden verpflichtet, an der körperlichen Arbeit teilzunehmen. Die Verfassung garantierte das Recht auf Streik, Wandzeitungen und Massenversammlungen. Jahrtausende alte Traditionen wie die Unterdrückung der Frau wurden aufgebrochen, der bewusste Kampf um die Einheit von Mensch und Natur erfuhr eine Höherentwicklung. So gelang der bis dahin weltweit erstmalige Übergang zur Kreislaufwirtschaft und des vollständigen Müll-Recyclings. Hatten vor der Kulturrevolution nur 15 Prozent der Bauern überhaupt eine ärztliche Versorgung, gelang durch die Barfuß-Ärzte-Massenbewegung die Versorgung der ganzen Bevölkerung.5
Wie es in China trotzdem im späteren Verlauf zu einer Wiederherstellung kapitalistischer Verhältnisse kam, darauf gehen wir in einer späteren Ausgabe ein.
Weitere Artikel zur Kulturrevolution in „Rote Fahne“-Magazin 9 und 10/2016
1 „Süddeutsche Zeitung“ 14.5.2016
2 J. Myrdal, „China: Die Revolution geht weiter“, S. 195
3 „Deutschlandfunk“, 4.5.2016
4 Charles Bettelheim, zitiert in REVOLUTIONÄRER WEG 19, S. 532
5 Siehe Medizin-Nobelpreis 2015 unter anderem an Youyou Tu
Artikelaktionen