Dienstag, 25. Oktober 2016

Wer? Wie lange? Wie oft?


Jobcenter befragt Schwangere unter Strafandrohung nach ihren Sexualkontakten. So will es den Kindesvater ausfindig machen

Von Susan Bonath
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Und von wem kommen die Kinder? Manches Jobcenter scheut sich nicht, auch die intimsten Informationen nachzufragen
Wer Hartz IV benötigt, wird vom Jobcenter durchleuchtet. Die Behörden wollen es genau wissen: Hat der Betroffene verwertbares Vermögen deponiert? Verschweigt er einen Partner, den man zum Unterhalt verdonnern könnte? Das Jobcenter Stade (Niedersachsen) geht noch weiter. Es verlangte nun von einer schwangeren Mandantin der Bremer Rechtsanwaltskanzlei »Rightmart« unter Strafandrohung detaillierte Auskünfte über ihr Intimleben und ihre Sexualpartner. Außerdem nötigte es sie zu eigener Recherche. Ziel sei es, den unterhaltspflichtigen Vater ausfindig zu machen. Das Dokument unter dem Titel »Zusatzfragebogen -ungeborene Kinder- (Kindesvater unbekannt)« veröffentlichte die Kanzlei Ende vergangener Woche.
Darin soll die werdende Mutter die Namen und Geburtsdaten der Männer auflisten, mit denen sie »in der gesetzlichen Empfängniszeit Geschlechtsverkehr hatte«. Nach Bürgerlichem Gesetzbuch (BGB) umfasst letztere 181 bis 300 Tage vor dem errechneten oder tatsächlichen Geburtstermin. Sollte die Betroffene keine Angaben machen können, mahnt das Jobcenter, habe sie dies »ausführlich und nachvollziehbar« zu begründen. Außerdem soll sie darlegen, welche »intensiven Nachforschungen zur Ermittlung des Kindesvaters« sie selbst angestellt habe. Schließlich verlangt ihr das Amt eine Erklärung ab. In dieser soll sie nicht nur versichern, dass ihre Angaben wahr sind. Sie soll sich darüber hinaus verpflichten, jede Erkenntnis zum möglichen Kindesvater umgehend dem Jobcenter mitzuteilen. Ferner soll sie bekunden: »Ich wurde hiermit ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich eine strafbare Handlung begehe, wenn ich den Kindesvater absichtlich verschweige oder vorsätzlich falsche Angaben gemacht habe.«
»Wir dachten zuerst, es handele sich um einen bösen Scherz«, sagte Rechtsanwalt Jan Strasmann im Gespräch mit junge Welt. Inzwischen zweifelt er nicht mehr an der Echtheit des Papiers. Er habe schon allerlei Jobcenterschikanen erlebt, berichtete er. »Dass aber derart weitgehend rechtliche und moralische Grundsätze verletzt werden, ist eine neue Qualität.« Eigentlich sei es Sache der Jugendämter, Kindesväter ausfindig zu machen, so Strasmann. Diese fragten die Frauen, ob sie die Väter kennen würden. Das Jobcenter sei hier »definitiv zu weit gegangen«. Strasmann will Konsequenzen prüfen.
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Da das Jobcenter Stade nicht über eine eigene Pressestelle verfügt und in der Regel keine Telefondurchwahlen veröffentlicht, fragte jW zunächst bei der dortigen Arbeitsagentur an. Diese gab die Anfrage an den stellvertretenden Geschäftsführer des Jobcenters, Marco Noetzelmann, weiter, der sich am Freitag zurückhaltend äußerte: Die Angelegenheit werde intern überprüft. Dann komme er darauf zurück. Eine Stellungnahme seiner Behörde erreichte jW bis zum Redaktionsschluss am Montag nicht.
Welche Repressionen der Schwangeren drohen, beschreiben das Zweite Sozialgesetzbuch (SGB II) und dazu von der Bundesagentur für Arbeit (BA) erlassene Dienstanweisungen. Zum einen kann das Jobcenter eine Sanktion verhängen, also ihren Regelsatz wegen eines Pflichtverstoßes drei Monate um 30 Prozent kürzen. Zweitens könnte es eine »Ersatzpflicht bei sozialwidrigem Verhalten« geltend machen (siehe auch jW vom 12. September), also fiktiven Unterhalt als »Einkommen« anrechnen.
Drittens könnte das Amt seine nicht ausreichend beantworteten Fragen gesondert als Ordnungswidrigkeit verfolgen (siehe auch jW vom 4. Oktober). Danach darf es die werdende Mutter unabhängig von sonstigen Sanktionen mit einem Bußgeld von bis zu 5.000 Euro belangen, wenn sie, »vorsätzlich oder fahrlässig«, geforderte »Angaben nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig macht«. Die zugrunde liegende BA-Anweisung räumt den Sachbearbeitern in Jobcentern zum Ermitteln, Verfolgen und Bestrafen »ähnliche Kompetenzen wie Staatsanwälten« ein. Nur einsperren dürfen sie danach niemanden. Wie zuerst Bild am Montag unter Berufung auf eine weitere BA-Anweisung berichtete, droht Betroffenen dennoch Erzwingungshaft, falls sie Buß- oder ebenso mögliche Verwarngelder von 55 Euro nicht zahlten. Wovon am Existenzminimum Lebende dies berappen sollen, bleibt ein amtliches Geheimnis.

Spielplatz hinter Stacheldraht


Hamburg eröffnet »Ausreisegewahrsam« für von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge. Die ersten Insassen sollen nach Afghanistan »rückgeführt« werden

Von Kristian Stemmler
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Familiengerechte Internierung: Die Stadt Hamburg ließ sich ihre Vorreiterrolle bei Abschiebungen einiges kosten
In Hamburg tritt der »rot-grüne« Senat aktuell den Beweis an, dass sich der Zynismus der deutschen Asylpolitik immer noch steigern lässt. Am Flughafen Fuhlsbüttel nimmt in dieser Woche ein Abschiebeknast seinen Betrieb auf, der von den Medien als »bundesweit erster Ausreisegewahrsam« bezeichnet wird. Bevor abgelehnte Asylbewerber von hier aus in Krieg und Elend zurückbefördert werden, verwöhnt der deutsche Staat sie noch mal so richtig: Die Zimmer haben WLAN und TV, es gibt ein Raucherzimmer und vor der Tür einen Spielplatz für die Kinder. Abschiebung de luxe, dieser Eindruck soll vermittelt werden.
Innenstaatsrat Bernd Krösser (parteilos) legte bei der Pressepräsentation der Anlage mit ihren rund 90 Containern am Freitag Wert auf die Feststellung, es handle sich eben »nicht um einen Abschiebeknast«, wie das Hamburger Abendblatt berichtet. Die Einrichtung sei vielmehr ein »ergänzendes Instrument zur Durchführung von Rückführungen von Ausländern, die hier nicht bleiben dürfen«. In einer Abschiebehaftanstalt dürften Menschen bis zu 18 Monate lang untergebracht werden, so Krösser, in der Einrichtung am Flughafen jedoch nur bis zu vier Tage.
»Vorreiter in Deutschland und hartnäckig bei Abschiebungen« – dieses Bild von sich habe der Senat bei dem Termin am Flughafen vermitteln wollen, schreibt Welt. Dafür ist in einer Stadt, in der Stadtteilinitiativen und Bürgerhäuser unter ständigen Kürzungen leiden, viel Geld da: Mehr als eine Million hat der Bau gekostet, die Betriebskosten beziffert Welt auf mindestens 1,188 Millionen Euro im Jahr. Und das für 20 Plätze, von denen Hamburg 15 nutzt und Schleswig-Holstein fünf.
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Die Anlage, die kein Knast sein soll, umgibt ein zwei Meter hoher Zaun mit Stacheldraht, der einen grotesken Kontrapunkt zum dahinterliegenden Spielplatz setzt. Dass es auch sonst nicht immer idyllisch zugehen wird, verrät der »sichere Raum« für randalierende »Insassen«. Streichhölzer und Feuerzeuge sind in der Anlage verboten, Zigaretten muss man sich im Raucherraum an einem »Glimmautomaten« anzünden. Die Mitarbeiter seien geschult, Suizidgefahr zu erkennen, schreibt das Abendblatt.
Kritik kam von kirchlicher Seite. Der Ausreisegewahrsam sei »vor allem ein sehr teures und verfassungsrechtlich bedenkliches Symbol«, sagte Gabi Brasch vom Vorstand des Diakonischen Werks Hamburg gegenüber junge Welt. »1,5 Millionen Euro gibt Hamburg dafür im Jahr aus – für 20 Menschen, die nichts verbrochen haben. Dieses Geld könnte viel sinnvoller für Flüchtlingsschutz, für die Integration von Flüchtlingen oder auch für die Förderung der freiwilligen Rückkehr ausgegeben werden.«
Noch deutlicher wurde der Geschäftsführer von Pro Asyl, Günther Burkhardt. »Das ist der Beginn einer Brutalisierung der Abschiebepraxis in Deutschland«, sagte er laut Medienberichten. Einrichtungen wie der Ausreisegewahrsam könnten dazu führen, »dass Menschen außer Landes gebracht werden, die nie außer Landes gebracht werden dürften«. Burkhardt bezog sich auf das »Rücknahmeabkommen«, das die Bundesregierung Anfang Oktober mit der afghanischen Regierung abgeschlossen hat.
Hamburg kann es offenbar nicht erwarten, dieses Abkommen umzusetzen. Die taz berichtete am Freitag, bereits am kommenden Donnerstag solle ein Flugzeug mit 50 Passagieren nach Afghanistan abheben. »Das eigentlich Unvorstellbare droht einzutreten: die Abschiebung von Geflüchteten in ein Land, in dem Krieg und Terror herrschen«, sagte Christiane Schneider, flüchtlingspolitische Sprecherin der Linksfraktion. Den Grünen fiel dazu nur ein, mit der SPD in der Bürgerschaft die Wiedereinführung eines »Abschiebemonitorings« zu beantragen. Dabei sollen Abschiebungen beobachtet werden, um »Konflikten in der oft angespannten Situation im Flughafen« vorzubeugen. Der beinharten Law-and-Order-Politik des Ersten Bürgermeisters Olaf Scholz haben die Grünen nichts entgegenzusetzen.

Letzte Chance für Peltier


USA: Internationale Kampagne fordert Begnadigung des seit 40 Jahren inhaftierten politischen Gefangenen

Von Michael Koch
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Leonard Peltiers Sohn Chauncey am 2. Oktober bei einem von Harry Belafonte organisierten Festival in Chattahoochee Hills

Aufruf: Kundgebung in Berlin

In den USA sind derzeit knapp 2,3 Millionen Menschen eingesperrt, weitere etwa 4,2 Millionen unterliegen staatlicher Aufsicht und haben zum Großteil keine Bürgerrechte mehr. Auffällig dabei ist, dass ein überproportional großer Teil der Gefangenen People of Color sind, darunter viele Afroamerikaner, Hispanics und Indigene. Beinahe allen Gefangenen gemeinsam ist, dass sie über keine eigenen finanziellen Mittel verfügen, um sich vor der Justiz angemessen zu verteidigen.
Ein treibender Faktor bei der Masseninhaftierung in dem »Land of the free« ist dabei der ökonomische Anreiz zur beinahe kostenlosen Abschöpfung der Arbeitskraft dieser Gefangenen in der staatlichen und privaten Gefängnisindustrie.
Die Masseninhaftierung in den USA ist in ihrem Ausmaß derzeit beispiellos und nichts anderes als Fortsetzung der Sklaverei unter anderem Namen. Innerhalb und außerhalb der Gefängnisse steigt der Widerstand gegen diese Rechtslosigkeit und gegen eine Gesellschaft, in der Menschen ohne materiellen Wohlstand versklavt werden.
In Berlin hat sich das Bündnis »Free them all« aus Gruppen und Einzelpersonen gebildet, die Kämpfe der Gefangenen und ihrer Angehörigen unterstützen wollen. Zu diesem Zweck führt »Free them all« kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen am 29. Oktober eine Kundgebung vor der US-Botschaft in Berlin durch (15 Uhr, Pariser Platz). Ein Schwerpunkt wird dabei auf dem indigenen Gefangenen Leonard Peltier sowie der generellen Lebenssituation der Native Americans in den USA liegen. Weiter geht es um die Gefängnisindustrie und die gesundheitliche Versorgung von Langzeitgefangenen am Beispiel der Nichtversorgung von an Hepatitis C Erkrankten im US-Bundesstaat Pennsylvania, unter ihnen der Journalist Mumia Abu-Jamal. Dieser hat selbst in einem Statement aus dem Gefängnis zur Teilnahme an der Kundgebung aufgerufen.
Geplant sind zudem Grußbotschaften von weiteren Gefangenen, Livemusik und Beiträge über Frauen in den Haftanstalten, Solidaritätsarbeit mit Gefangenen und aktuelle europäische Beispiele von Widerstand gegen die Gefängnisindustrie. (jW)
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Die Solidaritätsaktionen für den seit 1976 in den USA inhaftierten indianischen Aktivisten Leonard Peltier halten an. So fand im Juli ein Autokorso statt, der vor dem Hochsicherheitsgefängnis in Coleman/Florida endete, in dem Peltier inhaftiert ist. Im »Red Warrior Camp«, das Gegner der Dakota Access Pipeline errichteten (jW berichtete), wird mit Flugblättern über den Gefangenen informiert. In vielen Städten der USA finden Mahnwachen, Demonstrationen, Kundgebungen und Konzerte statt, auf denen die Forderung nach einer Begnadigung Peltiers erhoben wird. Die Menschenrechtsorganisationen Amnesty International und Human Rights Action Centre Washington informierten mit Videos über den Fall des Gefangenen. Die Musikerlegende Harry Belafonte kam mit Peltiers Sohn Chauncey zusammen. Auch diesseits des Atlantiks beteiligen sich Unterstützergruppen an der Kampagne. In Frankfurt am Main finden monatlich Mahnwachen vor dem US-Generalkonsulat statt. Konzerte und Lesungen sorgten in zahlreichen Städten für Aufmerksamkeit. Mehrere tausend Postkarten und über 10.000 Unterschriften für die Freilassung des Gefangenen wurden an das Weiße Haus übersandt. Anfang Oktober fand zudem im Deutsch-Amerikanischen Institut Heidelberg ein dreitägiges Symposium »Free Peltier – Leonard Peltier und der Kampf der Native Americans in den USA« statt.
Die Aktionen sind an Barack Obama gerichtet. Traditionell begnadigen die US-Präsidenten kurz vor dem Ende ihrer Amtszeit eine Reihe von Gefangenen. Die Solidaritätsbewegung will nun erreichen, dass Obama Peltier in die Liste der Inhaftierten aufnimmt, die freigelassen werden sollen. Doch auch die Gegner einer solchen Entscheidung sind aktiv. Die Bundespolizei FBI und reaktionäre Polizeiorganisationen, rechte Politiker und Indianerhasser machen Stimmung gegen Peltier.
Der 1944 in Grand Forks, North Dakota, geborene Leonard Peltier ist ein Anishinabe-Lakota und musste bereits als Kind rassistische Anfeindungen erleben. Als Jugendlicher wurde er aufgrund seiner Anwesenheit bei einem »Sonnentanz« verfolgt, da bis Mitte der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts alle spirituellen Zeremonien der Indigenen in den USA verboten waren. Zudem wurden damals die meisten staatlichen Unterstützungsleistungen für Native Americans eingestellt. Viele Alte, Kranke und Kleinkinder verhungerten.
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Medienberichte über massive Polizeigewalt gegen indianische Fischer empörten und politisierten Peltier, der sich ab 1972 im American Indian Movement (AIM) engagierte. Dort kümmerte er sich um Erwerbslose, Alkohol- und Drogenabhängige sowie Kriminalisierte in den indianischen Großstadtghettos. Später nahm er an diversen Besetzungsaktionen teil und wurde Sicherheitschef von AIM-Mitbegründer Dennis Banks.
1975 kam Peltier aufgrund eines Hilferufs von Lakotahäuptlingen und Stammesältesten in die Pine-Ridge-Reservation (South Dakota). Dort hatte eine anhaltende Mordserie an traditionellen Lakota sowie jungen politischen Aktivisten die Einwohner alarmiert. Verantwortlich für diese Morde war der korrupte Stammespräsident Richard »Dick« Wilson, der mit den »Guardians of the Oglala Nation« (GOON) eine Todesschwadron aufgebaut hatte. Waffen, Munition und Geld kamen indirekt vom FBI und dem Bureau of Indian Affairs. In diesem Klima des Terrors rasten am 26. Juni 1975 zwei bewaffnete FBI-Agenten auf der Jagd nach einem mutmaßlichen Kleinkriminellen mit Zivilfahrzeugen in ein AIM-Camp. Es entwickelte sich ein Schusswechsel, bei dem ein junger AIM-Aktivist sowie beide FBI-Beamte getötet wurden.
Bis heute ist unklar, wie der Schusswechsel begann und wer die tödlichen Schüsse abgab. Im Rahmen eines skandalösen Verfahrens wurde Leonard Peltier verurteilt. Er ist inzwischen mehr als 40 Jahre in Haft. Der heute 72jährige leidet seit vielen Jahren an den Folgen eines Schlaganfalls, Bluthochdruck, Diabetes, an dem schleichenden Verlust seiner Sehkraft und aktuell an einem Bauchaortenaneurysma, an dem er jederzeit innerlich verbluten kann.
Der bevorstehende Wechsel im Präsidentenamt ist für Peltier die möglicherweise letzte Chance, in Freiheit zu gelangen. Bereits 2000 stand er auf der Begnadigungsliste des damals scheidenden Präsidenten William Clinton, sein Name wurde aber in letzter Sekunde auf Druck des FBI gestrichen.

Hollande lässt räumen


Französische Regierung löst »Dschungel« in Calais auf. 8.000 Flüchtlingen drohen Monate in Auffanglagern in »feindlicher« Umgebung

Von Hansgeorg Hermann, Paris
Während in Syrien und im Irak Bomben fallen und die französische Armee in Mali und Zentralafrika aufmarschiert, sehen die Opfer der von der atlantischen Allianz dort mitzuverantwortenden Kriege einer ungewissen Zukunft entgegen. Die sozialdemokratische Regierung des Staatschefs François Hollande und seines Premierministers von Premierminister Manuel Valls lässt seit Montag morgen das Flüchtlingslager in Calais an der Kanalküste, genannt »Dschungel«, von mehr als 1.200 Polizisten, Gendarmen und Militärs auflösen. Die von Hollande als »humanitäre Aktion« verkaufte Räumung verlief bisher weitgehend friedlich, weil die seit Monaten vor dem Eurotunnel ausharrenden Menschen den nahen Winter fürchten. Vor allem Familien erwarten von den Behörden Hilfe für sich und ihre Kinder.
Nach Schätzung der Hilfsorganisationen vor Ort waren im »Dschungel« zuletzt bis zu 8.000 Flüchtlinge aus den genannten Kriegsgebieten sowie aus Afghanistan, Pakistan, Sudan, Eritrea, Somalia, Libyen und anderen Armutszonen des afrikanischen Kontinents, unter ihnen rund 1.300 Minderjährige ohne Eltern oder andere erwachsene Begleitung. In den kommenden drei bis vier Tagen sollen sie in rund 450 Auffanglager gebracht werden, wo sie wohl monatelang werden ausharren müssen.
Die »Evakuierung« – so die offi­zielle Regierungssprache – des riesigen Hüttendorfs und Zeltlagers vor dem Eingang zum Eurotunnel begann am Morgen gegen 6 Uhr und soll in dieser Woche abgeschlossen werden. Mit der Zerstörung der von den Flüchtlingen notdürftig zusammengezimmerten Unterkünfte wollen die vom Staat eingesetzten Abrissunternehmen bereits am heutigen Dienstag beginnen. Die ersten rund 3.000 Flüchtlinge wurden in 60 Bussen in alle Landesteile verschoben. Auch in Gegenden, wo ihnen – vor allem im Süden und Südosten Frankreichs – eine »feindliche« Umgebung droht.
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In ihrem Wahlkreis Vaucluse ließ Marion Maréchal-Le Pen, Parlaments­abgeordnete des extrem rechten Front National (FN) und Nichte der FN-Führerin Marine Le Pen, am Wochenende bereits ihre Kampftruppen aufmarschieren. Unter Maximen wie »Frankreich muss französisch bleiben« und »Unsere Gemeinden ohne Immigranten« wollen Maréchal-Le Pen und der FN gegen die Unterbringung von Flüchtlingen in ihrem Departement vorgehen. Gegendemonstranten versicherten vor Fernsehkameras: »Es sind nicht die Flüchtlingsfamilien, die uns Angst machen, seit heute sind es leider unsere Nachbarn.« Von den rund 700 gegenwärtig in Calais arbeitenden Journalisten aus aller Welt befragte junge Afrikaner wie der Sudanese Suleyman erklärten vor Fernsehkameras, sie wollten »doch nur im Frieden leben«.
Die meist nicht mehr als 40 Jahre alten Kriegsopfer werden zunächst drei Monate mit ihrem Asylantrag beschäftigt sein. Die Wartezeit für die Entscheidung der Behörden wird derzeit mit 14 Monaten angegeben. Danach sollen die »genehmigten« Flüchtlinge möglichst auf europäische Nachbarländer verteilt oder – im Fall der Ablehnung eines Antrags – in die Türkei oder andere »sichere« Länder abgeschoben werden. Wie die Zeitung L’Humanité in ihrer Montagausgabe vorrechnete, sind in Afrika sowie im Nahen und Mittleren Osten derzeit rund zwei Millionen Menschen auf der Flucht vor Krieg und sozialem Elend.

Papa, wir werden nie einen essen? (Monika Köhler)


Vor uns – ein Riesen-Aquarium? Menschen bewegen sich darin, lautlos. Das Glas dichtet ab, Isolierglas, die Wände eines Bungalows. Von draußen sind Grillen zu hören, außen – da, wo wir Zuschauer sitzen. Eine gottverlassene Gegend, in die dieses Eigenheim gebaut wurde. Es ist das Hamburger Schauspielhaus. »Hysteria – Gespenster der Freiheit«, eine Uraufführung nach Motiven von Luis Buñuel. Regie führte die Intendantin Karin Beier. War es im Thalia-Theater die Wut (Ossietzky 19/2016), ist es hier die Angst, die wie eine Käseglocke sich über alle stülpt.

Am Anfang, Pantomimen hinter Glas. Eine Familie, die aus Asien zurückgekehrt ist, wo der Vater arbeitete. Vorbereitungen für eine Einweihungsparty im neuen Haus. Streit. Rotwein auf dem Jackett. Der Hausherr Robert reibt nicht nur an den Scheiben – ein Permanentwischer. Er will im günstigen Licht erscheinen vor seinem Chef Hugo, einem dunkelhäutigen Mann, der ständig am Handy hängt. Der Wischer befürchtet seine Entlassung. Mit den Gästen ist die Sprache ins Stück gekommen. Aufgedrehte Albernheiten. Als Gastgeschenk ein kleiner Buddha mit ausgestrecktem Arm, ein Grüß-August. Verlegenheit. Eine Trommel wird dem Chef hingeschoben – ein Schwarzer muss doch trommeln. Ein Satz, genauso deplatziert: »Ich dachte, die wäre schon tot«, ruft Micky erstaunt, als sie die schmächtige Margret sieht. Besichtigung des Glasbaus. »Wie will er das abbezahlen?« raunt einer. Tanzen in der Gruppe, jeder einzeln. Ein unbekannter und ungebetener Gast kommt, ein Nachbar. Er bringt Unruhe und Unsicherheit, passt nicht zu den Gästen. Von weitem habe er das Licht entdeckt, von außen, alles gut einsehbar. Er schürt Ängste. Unsichere Gegend. Nachts kommen sie. Sein Haus sei zwanzig Minuten entfernt, sonst nichts hier. Nur die Tierversuchsanstalt. Bauarbeiter verschwinden. Die Taxifahrer sprechen vom »Bermuda-Viereck«. Eine Bürgerwehr wurde schon gegründet. Der Arzt geht nach draußen, die Gegend zu erkunden. Kommt mit blutender Wunde am Kopf zurück. Nur gestolpert sei er, keiner glaubt ihm. »Die kommen immer in Gruppen«, stachelt der Nachbar an. Er solle doch jetzt gehen, was er überhört. Ein neuer Mann kommt dazu. Kein Gast. »Wo ist das Geld?« ruft er. Ganz zu Recht, denn er ist Elektriker, Sergej, sein Lohn steht noch aus.

Blicke durch die Scheibe in die Nacht. »Das sind doch Zeichen«, sagt die halbwüchsige Tochter des Hauses, »das hat doch System, ist doch gewollt alles.« Ihre Mutter, die schwangere Hausherrin, die sich nicht aufregen darf – auch nicht bei Horrorgeschichten –, versucht zu beruhigen. Ein Dröhnen, Donnern – Explosion? Im »Tierseuchenzentrum«, wie der Nachbar vermutet. Er hat plötzlich eine Pistole in der Hand. Die Angst expandiert. Woher hat die Schwangere das Gewehr? Etwas knallt gegen die Scheibe, ein großer Vogel – oder es könnte auch eine kleine Drohne sein. Die Fenster und Türen werden verbarrikadiert. Die Gäste wollen bleiben – in Muttis Bett. Die Drehbühne lässt in alle Räume sehen, aber die Sicht wird schlechter. Der Arzt, nackt, will duschen. Es kommt kein Wasser mehr. Handy und Telefon bleiben stumm. Die Schwangere hackt mit einer Axt ein Loch in die Wand: Wasser fließt. Ein Wunder. Die junge Kranke, Margret, sackt an der Scheibe zusammen. Wo sind ihre Tabletten? Auf dem Dach steht einer (von den Gästen?) im weißen Tarnanzug, als bewache er von oben ein Gefängnis. Und alles dreht sich und dreht sich. Essen und Trinkwasser werden knapp. Im Abstellraum, Wühlen im Mülleimer. Immer wieder apokalyptische, poetische Sätze, wer spricht sie? Keine Nahrung? »Papa, wir werden nie einen essen, nicht wahr?« fragt die Tochter den Hausherrn. Nein, »weil wir die Guten sind«, die Antwort. Sie skeptisch: »So?« Alles wird irgendwie angetippt. Verschwörungstheorien. Wer ist schuld? Die anderen, die von außen Kommenden. Das Wort »Flüchtling« wird vermieden. Bald herrscht Chaos im Haus: Man schießt, brüllt, um die Angst zu übertönen. Sterben und auferstehen, vergewaltigen und ein Kind bekommen – oder eine Fehlgeburt. Die Hausfrau drückt etwas an ihre Brust – nun nicht mehr im schneeweißen Hosenanzug – alles ist beschmutzt und unkenntlich geworden. Die Angst hat alle verschlungen. Ist die Hausherrin die Letzte, die übrigbleibt? »Alles ist klar, alles ist Stille. Das ist mein Haus«, tönt sie von der Bühne und: »Wir werden frei sein und sicher hinter diesen Mauern – wir werden das Haus nie mehr verlassen.«

Leben in einer »Hartz IV«-Familie (Anja Röhl)


Der Ort: ein Plattenbau mit abblätternder Fassade in Fürstenwalde-Nord, vor der Tür spielende Kinder. Kein Spielplatz, nein, eine Freifläche vor dem Haus, Parkplatz oder Brache. Kinder rennen herum, fangen sich. Ein Spielmobil kommt einmal pro Woche auf einen Platz in der Nähe, doch dazwischen liegt eine Ausfahrtstraße, über die sich die Kinder nicht wagen. Hier, im hintersten Winkel, ebenerdig, vielleicht beherbergten die Räume mal einen Friseurladen, liegt »Kiez-Kom«, ein während der Wende von Frauen gegründeter Stadtteiltreff. Jetzt führt ihn Birgit Aslan mit kleinem Salär, fast ehrenamtlich, in Trägerschaft des Kulturvereins. Programm: Nähkurse, »Hartz IV«-Beratung, gemeinsame Feste, Veranstaltungen, Lesungen, Erziehungstipps. 90 Prozent der Bewohner im Umfeld sind auf »Hartz IV« angewiesen. »Das ist mein Leben«, sagt Birgit Aslan. Es sei eine sinnvolle Tätigkeit, den Menschen hier – viele von ihnen haben jede Hoffnung verloren – Auswege zu zeigen.

Ich besuche eine Lesung. Undine Zimmer stellt ihr Buch »Nicht von schlechten Eltern« vor, in dem sie von ihrer Kindheit erzählt. Keine Kindheit im goldenen Westen, sondern eine »in Abhängigkeit vom Amt«, bei Eltern, die es nie geschafft haben, von ihrer Arbeit leben zu können. Sie beschreibt stundenlanges Warten auf dunklen Amtsfluren und eine weinende Mutter, die gedemütigt wird. Sie beschreibt Faschingsfeste, wo andere Kostüme hatten und sie sich im letzten Moment etwas aus der Verkleidungskiste der Einrichtung suchen musste, sie beschreibt das Einkaufen und wie das Geld ab Mitte des Monats nicht mehr reichte. Doch Undine Zimmer lächelt, und der Schalk sitzt ihr in den Augen, wenn sie die andere Seite solchen Elends schildert, wie sie mit ihrer Mutter an ihrem Geburtstag Blumen im Park klaute, wie beide zusammen Phantasie und Witz entwickeln, um sich durch den Tag und den Monat zu bringen, und welche Sehnsüchte und Träume ein solches Kind sich schafft.

Zu Beginn der Lesung packt die Autorin einen Koffer aus, stapelt verschiedene Sachen vorn auf den Tisch: Ballettschuhe, einen Gummifrosch, ein Trinkpäckchen. »Hat jemand vielleicht eine Packung Zigaretten?« fragt sie ins Publikum, sie legt sie dazu, verspricht, sie zurückzugeben. Danach fordert sie die Zuhörer auf, jeweils eine der Sachen zu wählen, dann würde sie die entsprechende Passage aus ihrem Buch lesen. Sofort ruft eine Frau: »Ballettschuhe«. Und Undine Zimmer liest die Episode aus ihrem Buch vor.

Es ist immer ein Wagnis, etwas aus seinem Leben preizugeben, es kann peinlich und selbstbezogen wirken, es kann andere langweilen, kann nach Selbstmitleid klingen. Nicht hier. Nach der Lesung entspannt sich eine lange Diskussion, die Anwesenden erzählen von sich, öffnen sich. Undine Zimmers Buch endet mit dem Befund, dass ihre Eltern ihr Bestes gegeben haben, trotz ihrer Traurigkeit, ihrer Einsamkeit und der vielfachen Demütigungen, die die Gesellschaft für all jene, die ganz unten sind, bereithält – und das von Geburt an. Im Kindergarten, in der Schule oder der Ausbildung immer an Geld denken zu müssen, auf Klassenreisen verzichten zu müssen, all das. Undine Zimmer beschreibt es nüchtern mit etwas Witz und viel Liebe zu ihren Eltern, denen sie mit dem Buch ein Denkmal setzt. Exemplarisch diese Kindheit gegenwärtig für drei Millionen Kinder in Deutschland, denen es ebenso und schlimmer noch geht.

Undine Zimmer: »Nicht von schlechten Eltern. Meine Hartz-IV-Familie«, S. Fischer, 256 Seiten, Taschenbuch 9,99 €, gebunden 18,99 €

Bundespräsident aus der Garnisonkirche (Otto Köhler)


In seinem Kampf um die gesicherte Vizekanzlerschaft nach der Bundestagswahl 2017 darf der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel immer mehr Erfolge verzeichnen. Auf dem kleinen SPD-Parteitag hat er unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine Zweidrittelmehrheit von Funktionären hinter seinen Antrag für das Handelsabkommen CETA gebracht. Damit ist gegen den Willen der Basis eine Fortführung der schwarzroten Koalition gesichert.

Einen rotrotgrünen Präsidentschaftskandidaten Navid Kermani hat Gabriel inzwischen – man darf doch die besorgen Pegidabürger nicht unnötig reizen – auch erledigt und an seiner Stelle erst einmal Außenminister Frank Steinmeier ins Rennen gebracht. Damit aber scheint er – wie zu erwarten – an der Bundeskanzlerin Angela Merkel zu scheitern.

Für sie hat als erster der einflussreiche Westberliner Tagesspiegel einen Präsidentschaftskandidaten reaktiviert: den ehemaligen Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland Wolfgang Huber. Diesen Ex-Bischof von Berlin-Brandenburg wollte die Kanzlerin selbst schon einmal ins Rennen schicken, 2010 gegen den rotgelbgrünen Kandidaten und schließlichen Sieger Joachim Gauck. Am letzten September-Dienstag plädierte nun der Tagesspiegel dafür, dass Huber 2017 tatsächlich für das Amt kandidiere. Dass damit ein evangelischer Bischof einem evangelischen Pastor nachfolge, zähle nicht, plädierte Tagesspiegel-Chef Claus Hinrich Casdorff, beide seien ja nicht mehr in ihrem Kirchenamt. Aber, so fuhr er fort: »Ein klares Wertegerüst kann doch nun wirklich nicht schaden.«

So ein Gerüst dürfen wir von dem Ex-Bischof erwarten. In Cicero, der Zeitschrift für besorgte Bürger, warnte Huber vor einer »Islamisierung Europas«. Während diese Ossietzky-Ausgabe gedruckt wird, beschließt der kommende Bundespräsidentenkandidat den 12. Freiburger Mittelstandskongress mit dem von ihm selbst gestellten Thema »Führung neu denken«.

Eines verbindet Sigmar Gabriel und den nun mutmaßlich kommenden Bundespräsidenten: Sie hatten beide Nazi-Väter. Und das unterscheidet sie: Gabriel hasst den Nazi, der bis zu seinem Tod der kleine verstockte Nazi blieb, der er immer war, der ihm Literatur aufdrängen wollte, dass es einen Holocaust nie gegeben habe, schon gar nicht in Auschwitz, wohin der Jungsozialist Sigmar fuhr, um die Wahrheit zu erfahren.

Bischof Huber aber liebt – wie er öffentlich bekundete – seinen Vater Ernst Rudolf Huber, den Kronjuristen des Nazireiches »der die Ausscheidung des Judentums aus dem Volkskörper pries« und die dazu nützlichen »Nürnberger Gesetze« mitausarbeitete.

Solch altmodischen Antifaschismus, wie ihn sich Gabriel bis heute noch immer leistet, wird er abschminken müssen, wenn er unter dem Bundespräsidenten Huber, wie beabsichtigt, wieder Vizekanzler werden will.

Und er wird kein respektloses Wort über den Wiederaufbau der Potsdamer Garnisonkirche verlieren dürfen, jenem heiligen Ort, in dem sich Reichspräsident Paul von Hindenburg und Reichskanzler Adolf Hitler nach dem Reichstagsbrand die Hand zur nationalen Versöhnung reichten. Altbischof Huber gründete 40 Jahre, nachdem der bekannte Unrechtsstaat die Überreste des im Krieg zerstörten Weiheorts für das Dritte Reich beseitigte, als Vorsitzender das Kuratorium für den Wiederaufbau der Garnisonkirche.

Wer wissen will, was ein kommender Bundespräsident noch so alles vorhat, kann ihm am Montag, den 23. November, in der Berliner Urania begegnen. Dort hält er einen Werbevortrag für die Wiederherstellung der Garnisonkirche.

Noch könnte eine aufwachende Sozialdemokratie verhindern, dass ein Bundespräsident Huber den Festvortrag zur Einweihung der wiederaufgebauten Garnisonkirche hält, in der schon unter Wilhelm II. für den Krieg gepredigt wurde.

Labour Party auf Zukunftskurs? (Johann-Günther König)


Die altehrwürdige sozialdemokratische britische Labour Party, die unter Tony Blair und Gordon Brown unter dem Label »New Labour« in die gleiche historische Falle lief wie hierzulande die SPD unter Kanzler Schröder, wählte vor einem Jahr den Sozialreformer und EU-kritischen Antimilitaristen Jeremy Corbyn zum Vorsitzenden, der seit 1983 den Wahlkreis Islington North (London) im Unterhaus vertritt. Sein unerwartet erdrutschartiger Sieg kam übrigens nur zustande, weil einige Unterhausabgeordnete den Parteilinken zuvor durch »geliehene« Stimmen auf den Wahlzettel befördert hatten und damit zugleich halfen, die erforderliche 15-Prozent-Hürde der Parlamentsfraktion zu überwinden. Zwar unterstützten ihn in der Urwahl nur wenige Abgeordnete, bei der Brief- und Onlinewahl aber wählten die Parteimitglieder und Sympathisanten Corbyn mit überwältigender Mehrheit zum Labour-Parteivorsitzenden. Weil die Mehrheit der Labour-Abgeordneten im Unterhaus, sprich viele Angehörige des New-Labour-Lagers, mit dem neuen Parteiführer partout keine gemeinsame politische Sache machen wollen, tobt seitdem ein innerparteilicher Grabenkrieg, der die seit 2010 offenbare historische Krise der britischen Arbeiterpartei heftig befeuert. Zum offenen Aufstand der sogenannten Parliamentary Labour Party kam es nach dem Referendum, bei dem auch viele Labour-Mitglieder und Sympathisanten für den Brexit votiert hatten. Die Labour-Parlamentarier entzogen Corbyn mit dem Vorwurf, er hätte sich nicht entschieden genug für den Verbleib der Briten in der EU eingesetzt, das Vertrauen und erzwangen eine erneute Parteivorsitzwahl. Sie ging am 21. September über die Bühne, und als drei Tage später das Ergebnis verkündet wurde, hatte Jeremy Corbyn mit 61,8 Prozent der Stimmen ein noch besseres Ergebnis als 2015 erzielt. Sein Herausforderer, der smarte Abgeordnete Owen Smith erhielt lediglich 38,2 Prozent der Stimmen. (Andere Länder, andere Modalitäten: Seit 2015 wird der LP-Chef per Urwahl von den Mitgliedern bestimmt. Als der Parteivorstand am 12. Juli die Abstimmung ansetzte, wurde festgelegt, dass nur Mitglieder, die bereits seit sechs Monaten Labour angehören, zugelassen waren. Zusätzlich konnten auch »registrierte Unterstützer« ihre Stimme abgeben – gegen einen Beitrag von 25 Pfund. Sie mussten sich vom 18. bis 20. Juli registrieren, was immerhin 183.000 taten.)

Die Mehrheit der langjährigen, der wieder eingetretenen und der von Corbyn erfolgreich geworbenen neuen Parteimitglieder und Unterstützer war und ist mit den von Smith repräsentierten mittig-neoliberal ausgerichteten Politikvorstellungen alles andere als einverstanden. Sie drängt auf einen die »alte« Sozialdemokratie wiederbelebenden Kurs (die sozialistischen Parteien links von Labour sind in Großbritannien weit entfernt von der Möglichkeit, bei Kommunal- und Parlamentswahlen eine wahrnehmbare Rolle zu spielen). Bezeichnend war bei der Wiederwahl von Jeremy Corbyn nicht zuletzt, dass er aus dem Lager der sogenannten affiliated supporters, den Gewerkschaftsmitgliedern, mit 60 Prozent zwei Prozent mehr Stimmen erhielt, als noch 2015. Dave Prentis, Generalsekretär der mit 1,3 Millionen Mitgliedern größten Gewerkschaft (des Öffentlichen Dienstes) UNISON, feierte den Sieg des 67-jährigen Parteilinken mit den Worten: »Jeremy Corbyn hat gewonnen, weil er die Wünsche der Labour-Mitglieder verstanden hat. Sie sind begeistert von seinem Versprechen, die Austeritätspolitik zu beenden, die ruinierten öffentlichen Dienste wieder instand zu setzen und eine neuartige Wirtschaftspolitik zu etablieren.« (eigene Übers. nach Guardian, 24.9.2016)

Jeremy Corbyn rief gleich nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses die Mitglieder dazu auf, die tiefgreifenden strategischen, politischen, kulturellen und persönlichen Zerwürfnisse in der Partei zu überwinden. »Wir haben viel mehr Einigendes als Trennendes«, betonte er. Ob das gelingen kann und wird, ist gegenwärtig die große und historisch bemerkenswerte Frage. Jedenfalls haben seit einem guten halben Jahrhundert die Parteilinken in fast allen sozialdemokratischen Parteien Europas nicht mehr die Oberhand gewonnen.

Nun hat Corbyn während seiner Zeit im Unterhaus immer Distanz zur überwiegend rechten Parliamentary Labour Party gewahrt, hat generell die Interessen und Anliegen der Parteilinken sowie auch der außerparlamentarischen gesellschaftlichen Bewegungen zu seiner Sache gemacht. Sollte er als nun erneut berufener Parteichef die Herkulesaufgabe meistern, zahlreiche der New Labour-»Veteranen« in der Parlamentsfraktion für den von ihm gewünschten sozialistischeren Kurs zumindest ansatzweise zu gewinnen, könnten das die Sozialdemokraten auf dem Kontinent als Signal nehmen, ihrerseits den fast unisono eingeschlagenen Kurs in die historische Austeritäts-Sackgasse zu stoppen. Und zwar einschließlich der sozialdemokratischen Parlamentsmitglieder im Europäischen beziehungsweise de facto EU-Parlament. Wird es nicht höchste Zeit, dass sie sich wahrnehmbar gegen die fatal neoliberale Politik der EU-Kommission stellen?

Wird Jeremy Corbyn dereinst als großer Labour-Parteichef in die Geschichte eingehen? Wenn es ihm gelingt, die nach wie vor denkbare Aufspaltung der Partei zu verhindern, womöglich. Zur Erinnerung: 1916 spaltete sich die deutsche SPD in die Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands (MSDP) und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) auf. Die USPD ging aus der damals in der SPD-Reichstagsfraktion entstandenen Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft hervor, die gegen den Ersten Weltkrieg und die Kriegskredite war. Nach der Parteigründung im April 1917 engagierten sich USPD-Mitglieder bei den Massenstreiks im April 1917 sowie in der Novemberrevolution von 1918. Zudem wirkte die Partei im Rat der Volksbeauftragten mit – in den Freistaaten Bayern und Sachsen stellte sie mit Kurt Eisner und Richard Lipinski die Ministerpräsidenten. Ab den frühen 1920er Jahren verlor die USPD, die 1920 fast 900.000 Mitglieder zählte, durch Rücktritte, Absetzungen und Wahlniederlagen zunehmend an Einfluss. Maßgeblich zu ihrem historischen Verglühen trug die Abspaltung der Spartakusgruppe bei, die im Januar 1919 die Kommunistische Partei Deutschlands gegründet hatte.

Zunächst einmal muss es Jeremy Corbyn gelingen, eine wirksame Opposition gegen die seit dem 13. Juli 2016 regierende Premierministerin Theresa May aufzubauen. Dazu gehört auch eine zielführende Positionierung zum Brexit-Schlamassel, die bislang seitens Labour schlichtweg fehlt. Inzwischen sind zwei Bücher erschienen, die Mays U-Boot-Rolle (Submarine May) im Brexit-Getümmel hinterleuchten. Das eine stammt aus der Feder von Sir Craig Oliver, dem ehemaligen BBC-Nachrichtenchef, der ab 2011 in David Camerons Downing Street team mitarbeitete. Es trägt den Titel »Unleashing Demons: The Inside Story of Brexit”. Das andere kommt vom Politikchef der Sunday Times, Tim Shipmann: »All Out War: The Full Story of How Brexit Sank Britain’s Political Class”. Aus beiden Büchern geht hervor, dass sowohl die neue Premierministerin als auch ihr Schatzkanzler Philip Hammond ihren einstmaligen Chef und Ziehvater David Cameron mehrmals quasi im Regen stehen ließen, etwa als er mit ihnen seinen am 27. November 2015 dem britischen Volk verkündeten Plan erörterte, im Rat der EU auf eine Begrenzung der Einwanderung von Migranten aus EU-Mitgliedstaaten zu drängen. May und Hammond lehnten damals, wie die beiden Insider schreiben, Camerons Verhandlungsvorschlag ab. Allerdings nicht, um die unionseuropäische Personenfreizügigkeit unangetastet zu lassen, sondern weil es ihnen um drakonischere Maßnahmen ging – eben im Rahmen des inzwischen herbeigewählten Brexit. Ach ja, ein konkreter Zeitpunkt für das noch fehlende Austrittsgesuch steht immer noch nicht fest – laut Außenminister Boris Johnson soll es im Frühjahr 2017 erfolgen. Wie es scheint, will die Regierung das Unterhaus über das Gesuch selbst nicht abstimmen lassen, sondern lediglich gemäß der umstrittenen Royal Prerogative – der Befugnis der Exekutive, eine Entscheidung selbst zu fällen – informieren. Wie sagte noch Brexit-Minister David Davis am 12. September im Unterhaus sinngemäß: »Wir stehen vor der wohl kompliziertesten Verhandlung der Moderne, wenn nicht vor der kompliziertesten aller Zeiten.« Bis zu ihrem Beginn ist es wohl noch eine quälend lange, vor Überraschungen nicht gefeite Weile hin.

Johann-Günther Königs Taschenbuch »Die spinnen, die Briten. Das Buch zum Brexit« liegt nach kurzer Zeit jetzt in 2. Auflage vor (Rowohlt rororo, 128 Seiten, 10 €).

Die Linke und Russland (Christophe Zerpka)


Der Kalte Krieg ist wieder da. Die Friedensdividende aus den 1990er Jahren scheint aufgebraucht. Die Vorbereitungen für den »Verteidigungsfall« nehmen Konturen an. Letztes Indiz: Die Bevölkerung soll sich mit Nahrungsmitteln und Wasser eindecken. In den Medien wird schon länger vorgegeben, wer der Feind ist: Russland. Oder – weil heute alles gern personifiziert wird: Putin. Wer die Weltlage objektiv betrachtet und sich durch das mediale Dauerfeuer gegen Russland nicht beeinflussen lässt, muss feststellen, dass die militärische Einkreisung der ehemaligen Sowjetunion nach einer kurzen Pause Anfang der 90er Jahre munter weitergegangen ist. Die NATO-Osterweiterung, die Stationierung von US-Truppen an der östlichen Grenze von Polen und den baltischen Staaten, die Errichtung eines Raketenabwehrsystems in Polen und Rumänien angeblich gegen iranische Flugkörper, schließlich das Werben der NATO für einen finnischen Beitritt lassen kaum einen anderen Schluss zu.

Schließlich der Konflikt in der Ukraine. Sie war neben Weißrussland der letzte Pufferstaat zwischen der russischen Republik und den neuen NATO-Staaten. Mit der Annexion der Krim hat Putin vermutlich verhindert, dass in Sichtweite des Flottenstützpunktes Sewastopol eine NATO-Marinebasis entsteht. Der heutige Hegemon USA hatte 1962 in Kuba ähnlich reagiert, als dort sowjetische Raketen installiert wurden. Bei der Eingliederung der Krim, welche 1954 von Chruschtschow eher symbolisch der ukrainischen Teilrepublik übertragen wurde, spielte das Völkerrecht ebenso wenig eine Rolle wie im Kosovo, in Grenada oder im Irak, um nur einige Beispiele zu nennen.

Wie verhält sich die Linke in dieser neuen Unübersichtlichkeit? Einige Nostalgiker mögen an das durch Ernst Busch pathetisch vorgetragene Lied »Der heimliche Aufmarsch« denken. Dort, wo einst die Heimat der Arbeiterbewegung verortet wurde, wo die Internationale zeitweise die Nationalhymne war, befindet sich heute wie in vielen anderen Ländern eine korrupte Oligarchenrepublik. Wladimir Putin haben es die Russen zu verdanken, dass das Land nicht vollständig auf dem Weltmarkt verramscht wurde, aber mehr auch nicht. Das Land ist geprägt von brutalem Kapitalismus, sozialer Ungleichheit und Willkür. Der Präsident versucht mit Hilfe seiner Partei Einiges Russland eine Art Primat der Politik durchzusetzen, mit zweifelhaftem Erfolg. Linke Parteien sind in Russland marginalisiert, die Regierung pflegt freundschaftliche Beziehungen zu europäischen Rechtsparteien.

Es kann also für die Linke nicht darum gehen, die russischen Oligarchen oder Putin zu verteidigen. Es geht – schlichter kann man es nicht ausdrücken – um den Weltfrieden. Und der wird zurzeit nicht von Russland oder China bedroht. Die Atommächte, allen voran die USA sind dabei, ihre Atomwaffen zu modernisieren, kleiner, zielgenauer zu machen. 180 amerikanische Atomwaffen sind allein in Europa einsatzbereit, etwa 15.000 Atomwaffen sind weltweit gelagert. Die Warnung, dass ein Atomkrieg keinen Gewinner kennt, scheint zu verblassen. Vor allem die europäische Linke sollte ein vehementes Interesse daran haben, sich gegen die NATO und deren Einkreisungspolitik einzusetzen, denn der Kriegsschauplatz wird Europa sein. Die deutsche Linke sollte nicht in die Falle tappen, ihre Ablehnung des Nordatlantikbündnisses auf dem Altar der »Regierungsfähigkeit« zu opfern, wie es Teile der SPD und der Grünen fordern. Selbst Außenminister Steinmeier scheint zu ahnen, dass Europa Gefahr läuft, auf dem Altar einer Strategie der endgültigen Ausschaltung des »Störenfrieds« Russland geopfert zu werden. Wie anders wäre sein Werben um einen Interessenausgleich mit Russland zu interpretieren? Es gilt also, ein breites europäisches Friedensbündnis zu schaffen. Sonst könnte es sein, dass wir uns in gar nicht allzu ferner Zeit nach Lappalien wie Eurokrise und Flüchtlingsproblematik zurücksehnen.

Deutsche zu Gast in Leningrad (Ralph Hartmann)


Gedenktage gibt es zuhauf: seltsame, wie den Weltnudeltag oder den Anti-Diät-Tag, und politisch relevante. Vor einem Monat wurde ein Jahrestag begangen, der – obwohl vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages in seiner »Auswahl historischer Jahrestage« für 2016 aufgeführt – in der Monopolpresse keine Erwähnung fand und über den in der Bundesrepublik lediglich neues deutschland, der Freitag und die evangelische Wochenzeitung für Bayern, das Sonntagsblatt, berichteten. Scheinbar war es auch kein bedeutendes Jubiläum und keinesfalls eines, das der russophoben Ausrichtung des »deutschen Volkskörpers« dienen könnte: der 75. Jahrestag des Beginns der Blockade Leningrads durch die Hitlerwehrmacht am 8. September 1941. Und was war daran eigentlich so schlimm und erinnernswert?

Hitler hatte beschlossen, nicht zu versuchen, die zweitgrößte Stadt der Sowjetunion und einst langjährige Hauptstadt des Zarenreiches zu erobern, sondern sie auszuhungern, denn in Straßenkämpfen wäre sie angesichts des zu erwartenden erbitterten Widerstandes, wenn überhaupt, nur unter großen Verlusten der Wehrmacht einzunehmen gewesen. So schnitten Divisionen der Heeresgruppe Nord, unterstützt von finnischen Truppen, die Stadt von allen Landverbindungen ab. Zugleich wurde sie beschossen und bombardiert. Der folgenschwerste Luftangriff galt einem Lagerhaus-Komplex im Süden, wodurch nahezu alle Vorräte vernichtet wurden. Mit diesem Bombardement und dem darauffolgenden eisigen Winter 1941/42 begann eine der schrecklichsten Hungerkatastrophen der Menschheitsgeschichte. Täglich starben zwischen 3000 und 6000 Menschen. Die Hungersnot war so groß, dass die Bewohner der Stadt in ihrem Überlebenskampf selbst Rinde, Ratten, Katzen, Pferdekadaver aßen. Tausende von Familien starben aus, und die 12-jährige Tanja Sawitschewa schrieb in ihrem Tagebuch: »Mama ist am 13. Mai um 7 Uhr 30 gestorben. Die Sawitschewys sind gestorben. Alle gestorben. Nur Tanja ist geblieben.« Der russische Schriftsteller Daniil Granin, der selbst an der Leningrader Front kämpfte und das Grauen in der eingeschlossenen Stadt erlebte und überlebte, rief es 2014 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag in Erinnerung, um unter anderem festzustellen: »Die Blockade hielt fast drei Millionen Menschen im Würgegriff … Es war die Leningrader Front, wo der Krieg zu einem Krieg gegen die Einwohner einer Stadt wurde, indem man anstelle von Soldaten den Hunger einmarschieren ließ.«

Erst nach 871 Tagen gelang es der Roten Armee, die Stadtbelagerung zu durchbrechen, der rund eine Million Menschen zum Opfer gefallen waren. Am 27. Januar 1944 kündete ein Feuerwerk über der Newa vom Belagerungsende. In den nachfolgenden Jahrzehnten gab es keine Bewohner Leningrads, die nicht von dem von Deutschen begangenen grausamen Kriegsverbrechen betroffen waren. Wie würden deutsche Bürger wohl in dieser Stadt aufgenommen werden?

Im Frühsommer 1957 reiste eine junge DDR-Bürgerin, die am Moskauer Staatlichen Institut für Kinomategrafie studierte, gemeinsam mit einer estnischen Mitstudentin in die Stadt an der Newa, um am dortigen Lenfilm-Studio ein Praktikum zu absolvieren. Als sich die beiden per Zug auf die Reise machten, wussten sie nicht, wo sie in der fremden Großstadt eine Unterkunft finden würden. Die Estin hatte lediglich die Adresse einer Leningrader Familie, die sie im Jahr zuvor bei deren Aufenthalt in Tallinn ein wenig betreut hatte. So hofften sie, dort einen Rat zu erhalten, wo sie preiswert unterkommen könnten. Nach einigem Suchen fanden sie das Haus, in dem die Familie Sokolow wohnte, in einem Raum einer Zweizimmerwohnung, die sie sich mit einer anderen Familie bei gemeinsamer Nutzung von Küche und Bad teilten. Die beiden Studentinnen wurden freundlich aufgenommen und nach russischer Sitte bewirtet, mit allem, was der Kühlschrank hergab. Auf die Frage, wo sie ein vom Stipendium bezahlbares Quartier finden könnten, kam die völlig überraschende Antwort, weshalb sie denn suchen wollten, sie könnten doch in ihrer Wohnung logieren, zumal das Zimmer in der nächsten Zeit unbewohnt sei, da sie den Sommer in einer Datsche verbringen würden. Versuche der beiden Quartiersuchenden, das großzügige Angebot abzulehnen, wurden freundlich, aber bestimmt zurückgewiesen.

Und so geschah es. Die Deutsche und die Estin erhielten Wohnungsschlüssel und die Maßgabe, sich im gut gefüllten Kühlschrank zu bedienen. Nun waren die beiden Mitbewohner einer von zwei Parteien bewohnten Kommunalwohnung.

Als das Praktikum der DDR-Studentin zu Ende ging, besuchte sie ihr Jugendfreund, ebenfalls DDR-Bürger, der am Moskauer Institut für Internationale Beziehungen studierte, eine Woche lang in der Zeit der wunderbaren weißen Nächte und nahm mit ausdrücklicher Genehmigung der Sokolows ebenfalls in deren Wohnung Quartier. Während sie die Sehenswürdigkeiten Leningrads und seiner Umgebung – vom Winterpalais und der Eremitage bis zu Zarskoje Selo und dem Katharinenpark – besuchten und dank ihrer Russischkenntnisse mit recht vielen Russen ins Gespräch kamen und sich als deutsche Studenten zu erkennen gaben, hörten sie kein böses Wort über die Deutschen, die den Leningradern so unermessliches Leid zugefügt hatten.

Zum Abschluss ihres Aufenthaltes besuchten die beiden deutschen Studenten die Sokolows in ihrer Datsche am Finnischen Meerbusen. Diese waren gerade dabei, sich zum Mittagessen an den Tisch zu setzen. Selbstverständlich wurden die Gäste dazu eingeladen. Erst jetzt erzählten die Sokolows, dass sie die Blockade nur dank glücklicher Umstände überlebt hatten: Sie wurde über den vereisten Ladogasee evakuiert, er blieb als Arbeiter im Kirow-Werk bis zum Blockade-Ende in der Stadt. Die deutsche Praktikantin wollte auf keinen Fall die Wohnung der Sokolows kostenlos genutzt haben und bat eindringlich, ihr eine Summe zu nennen. Die Bitte wurde nahezu brüsk zurückgewiesen. Erst nach langem Drängen äußerte die Gastgeberin, dass sie sich über eine deutsche Gardine für ihr Zimmerfenster freuen würde. Dieser bescheidene Wunsch wurde ihr erfüllt. Nach ihrem herzlichen Abschied reisten die beiden Studenten am späten Abend mit dem Expresszug Krasnaja Strela (Roter Pfeil) nach Moskau zurück.

Wer das von der Hitlerwehrmacht, aber eben von den Deutschen, den Leningradern zugefügte Leid vor Augen hat, könnte meinen, dass die selbstlose Warmherzigkeit der russischen Familie ins Reich der Legende gehört. Aber das ist nicht der Fall: Die damalige DDR-Studentin ist inzwischen seit Jahrzehnten meine Ehefrau, und ich war der junge Mann von der Moskauer Diplomatenschule. Wer das Geschehen dagegen mit anderen Augen betrachtet, kann meinen, dass die Gastfreundschaft nur das Ziel verfolgte, in den Besitz einer der »wunderbaren« deutschen Gardinen zu gelangen. Denn so sind die Russen: hinterlistig, habgierig und verschlagen.

Unser Herr Bundespräsident widerspricht solchen Auffassungen, denn er liebt, wie er kundgab, das russische Volk »extrem«. Das ist auch der Grund, weshalb er in seiner langen Amtszeit keinen Tag Zeit hatte, Moskau oder gar die gepeinigte Heldenstadt Leningrad (heute Sankt Petersburg) zu besuchen.

Europa gegen Russland? (Daniela Dahn)


Es gab schon günstigere Zeiten, um für ein vertrauensvolleres Verhältnis Westeuropas zu Russland zu werben. Beide Seiten machen es einem damit gerade nicht leicht. Dabei haben die Spannungen einen Gefährlichkeitsgrad erreicht, der Annäherung als dringend geboten erscheinen lässt. Stattdessen hat man den Eindruck, die geballte Anklage-Kraft westlicher Rechercheteams, Medien, Untersuchungskommissionen, Geheimdienste und sonstiger Ermittler wird in letzter Zeit auf Russland geworfen. Ohne sich um die Frage zu scheren, wie sich das Bild wohl wandeln würde, wenn man mit dem gleichen Verfolgungseifer in alle Himmelsrichtungen schauen würde. Suchet, so werdet ihr finden. Suchet nicht, so werdet ihr Klagen unterbinden.

So geschehen im Ukraine-Konflikt, bei den Panama-Papers, beim Doping, bei den Vorwürfen zu Syrien, schließlich beim Abschuss von MH17. Wahrlich, es geht nicht um Avancen an einen Musterknaben. Aber bitte schön auch nicht um Avancen von Musterknaben. Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Rechtstreue, Solidarität – oh, du lieber Augustin, alles ist hin.

Wie soll man, so die westliche Unterstellung, mit Barbaren reden, die Verhungernden und Verdurstenden die Hilfskonvois bombardieren? Beweise für derartige Schuldzuweisungen sind offenbar nicht mehr nötig, in diesem chaotischen Krieg, in dem vor dem militärischen Eingreifen der Russen schon fünf Jahre lang bezahlte Söldner der Saudis, der Kataris, der Amis, der Briten, der Franzosen und jetzt auch der Türkei wild durcheinander bomben. Wer in welcher Absicht den Konvoi des Syrischen Arabischen Roten Halbmondes angegriffen hat, ist völlig unklar. Hilfslieferungen, die ihr Ziel im von den islamistischen Terroristen kontrollierten Ost-Aleppo erreicht hatten und wohl weitgehend entladen waren. 21 Tote, 21 LKW schwer beschädigt. Ein Video lässt Allahu-Akbar-Rufe vernehmen und eine hochauflösende russische Aufklärungsdrohne hat neben dem Konvoi ein Fahrzeug der sogenannten Rebellen mit großkalibrigem Granatwerfer ausgemacht. Keinerlei Bombenkrater. Aber Leute aus dem Anti-Assad-Bündnis können es schon deshalb nicht gewesen sein, weil man den Eigenen sowas vor der Weltöffentlichkeit grundsätzlich nicht zutraut. Da bleibt eben nur der Russe. So wieder im jüngsten Spiegel (40/16).

Nach einem halbwegs logischen Motiv fragt niemand. Immerhin hatten zwei Tage zuvor Kampfjets der US-Koalition vier Angriffe auf eine Garnison der syrischen Armee am Flughafen in Deir ez-Zor geflogen. Mitten in der mühsam ausgehandelten Waffenruhe. Die damit von einem ihrer Unterhändler höchst selbst beendet wurde. 62 Tote und hundert Verletzte. Getötet mit den präzisesten Waffen der Welt. Aus Versehen. Keine Entschuldigung. Die außer Gefecht gesetzte Position ist umgehend von IS-Kämpfern eingenommen worden, auf dem Airport können Versorgungsflugzeuge für die eingeschlossene Bevölkerung nicht mehr landen. Aber darüber findet sich in den Großmedien nichts, seit es den angeblich russischen Angriff auf den Konvoi gibt. Das Denken in Zusammenhängen wird als Verschwörungstheorie denunziert. Das ist Bestandteil der Propagandaschlacht.

»Ich möchte mich nicht an Verschwörungstheorien beteiligen«, grüßte im Spiegel den Gesslerhut auch der Luftfahrtexperte David Cenciotti. »Aber ich stelle fest, dass einige Teile des Gesamtbildes fehlen.« Das bezog sich auf die westliche Darstellung zum Absturz von MH17 und ist zwei Jahre alt. Aber dieselben Fehlstellen scheint auch der jüngste Untersuchungsbericht aufzuweisen, der Moskau belastet. Mit modernster Technik und größter Akribie konnte nachgewiesen werden, dass die ostukrainischen Separatisten eine Flugabwehrrakete angefordert haben, eine moderne Buk-Rakete aus Russland auch geliefert bekamen, und diese nach Absturz der Maschine wieder abgezogen wurde. Aber wer hatte tatsächlich die Absicht, eine Passagiermaschine zu treffen? Wer hat damals den schon gesperrten Luftraum über dem Kriegsgebiet für Passagiermaschinen wieder freigegeben? Befehl, Tathergang – darüber könnten die Teile des Gesamtbildes Aufschluss geben, die immer noch geheim gehalten werden: die Angaben der Flugsicherung, Radarbilder, Satellitenaufnahmen, die Daten des Flugschreibers der Boeing 777. Alle Beweisführungen sind parteiisch, sind machtpolitisch, unwürdig gegenüber den Opfern.

So überfällt einen große Trauer und Ratlosigkeit angesichts der Bilder und Meldungen aus Syrien. Jahrelang hat die westliche Allianz die islamistischen Söldner gerüstet und damit den Krieg befeuert, statt ihn zu stoppen. NATO-Partner Türkei hat das Sarin geliefert, das Terroristen der al-Nusra-Front und des IS im syrischen Ghouta und später nahe Aleppo einsetzten, um den Verdacht auf Assad zu lenken (siehe Ossietzky 1 und 2/16). Die von Experten längst widerlegte Beschuldigung Assads wird, wie ebenfalls im jüngsten Spiegel, bis heute aufrechterhalten. Dabei ging es dem Westen nicht um Menschenrechte, auch nicht um die, die Assad tatsächlich brach. Vielmehr steht dessen Regierung strategischen und ökonomischen Interessen im Wege, man kennt das alles. Auch die Russen haben schließlich nicht aus reiner Nächstenliebe zu den Waffen gegriffen. Auch sie kämpfen um Einfluss. So mancher, der eigentlich jegliche militärische Gewalt ablehnt, ertappt sich jetzt bei dem Wunsch, der Schrecken ohne Ende möge von den in dieser Region strategisch überlegenen Russen durch ein Ende mit Schrecken beigelegt werden. Doch es geht nicht darum, den Krieg zu gewinnen. Der Friede muss gewonnen werden.

So wie einst durch die Rote Armee. Die 900.000 verhungerten Leningrader hatten nicht mal die Fluchtkorridore, die es in Syrien trotz allem noch gibt. Womit unumgänglich daran zu erinnern ist, dass wir schon aus Gründen unserer schuldbeladenen Vergangenheit verpflichtet sind, den Nachkommen des von der Wehrmacht begangenen Völkermords, die uns unbegreiflicher Weise dennoch vergeben haben, mit Anstand zu begegnen. Man erinnere sich an die ergreifende Rede des 95-jährigen Schriftstellers Daniil Granin im Bundestag:
»Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad gekämpft habe, konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie 900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. Sie vernichteten Menschen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Das war Nazismus in seiner ehrlosesten Ausprägung, ohne Mitleid und Erbarmen und bereit, den russischen Menschen das Schlimmste anzutun … Die Aussöhnung war für mich keine leichte Sache. Mir war klar, dass Hass ein Gefühl ist, das in eine Sackgasse führt. Hass hat keine Zukunft, er ist kontraproduktiv. Mir war klar, dass man vergeben können muss, aber auch nichts vergessen darf.«

Die Art und Weise des Umgangs Europas mit Russland ist wie ein Rausch des Vergessens. Schuldzuweisungen, Sanktionen, ungleiches Maß in der Geschichtsschreibung. 1783 hatte die aus Deutschland kommende Zarin Katharina in Sewastopol den Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte begründet. Im Zweiten Weltkrieg hat ihn die deutsche Wehrmacht besetzt – seine Rückeroberung 1944 durch die Rote Armee hat einen hohen Stellenwert im russischen Geschichtsbewusstsein. Durch den vom Westen beförderten Machtwechsel in Kiew war der Stützpunkt erneut gefährdet. Wieviel Geschichte darf man rückabwickeln, wenn Mehrheiten dies wollen? Zu dieser Frage, die auch in der deutschen Vereinigung eine Rolle spielte, gibt es international keine ernsthaften Debatten unter Völkerrechtlern, Politologen und Politikern. Wenn nicht billigen, so könnte man doch bedenken, warum die von der übergroßen Mehrheit der Bewohner gewollte Abtrennung der Krim als Akt verteidigungspolitischer Notwehr gesehen wird. Nötig, bevor man durch weitere Landnahme der NATO nicht mehr handlungsfähig ist.

»Die Grundprinzipien der europäischen Friedensarchitektur« sind eben nicht erst durch die »Annexion der Krim« in Frage gestellt worden, wie unser Außenminister klagt, sondern spätestens 1999 durch die NATO. Auch damals ging es um Separatisten – kroatische, slowenische, vom Westen unterstützt, auch um russischen Einfluss zu schwächen. Vier Jahre nach dem Gemetzel in Srebrenica, als die Konflikte längst weitgehend unter Kontrolle waren, hat der Westen mit aktiver deutscher Beteiligung unter dem fadenscheinigen Vorwand einen Völkermord verhindern zu wollen, einen sinnlosen, zerstörerischen Angriffskrieg gegen Restjugoslawien geführt. Da spielten das Völkerrecht und territoriale Unversehrtheit keine Rolle, da wurden vom Verbündeten Russlands Gebiete abgetrennt, neue Grenzen gezogen und im Kosovo ungefragt die größte ausländische Militärbasis der US-Armee errichtet.

Alle sind schuldig, vor allem wir Politiker, bekannte Putin vor nunmehr 15 Jahren in seiner heute ebenfalls verdrängten Rede vor dem Bundestag. Wir hätten es noch nicht gelernt, uns von den Stereotypen des Kalten Krieges zu befreien. Soviel selbstkritisches Entgegenkommen hört man von westlichen Politikern selten. Aber ohne eine moderne europäische Sicherheitsarchitektur lasse sich kein Vertrauensklima schaffen, so Putin. Danach hat es auch von russischer Seite immer wieder Versuche gegeben, das Unmögliche zu ermöglichen. Etwa im März vorigen Jahres, als versichert wurde, man wolle »nicht der Totengräber der Rüstungskontrolle« sein, sondern einen Vertrag, der die Realitäten berücksichtige.

Doch von einem Bündnis unter Einbeziehung Russlands wollte die NATO nichts wissen. Sie setzte auf verharmlosend »Abschreckung« genannte existentielle Bedrohung: NATO-Osterweiterung, Modernisierung taktischer Atomwaffen, Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien, die auch Angriffssysteme sind, wirtschaftliche Sanktionen und Truppenbewegungen an der russischen Grenze, auch Bundeswehreinsätze in Ex-Sowjetrepubliken, in denen einst die Wehrmacht wütete. Wandel durch Annäherung hat zu Entspannung geführt, nicht Wandel durch Abschreckung.

Russland ist kein Gegensatz zu Europa, sondern sein Bestandteil. Bis zum Ural auch geografisch. Seine Kunst hat die europäische tief beeinflusst: Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow, Eisenstein, Tschaikowski, Schostakowitsch, Chagall, El Lissitzky und ungezählte andere, bis heute. Europa verstümmelt sich mit der Absonderung von Russland – kulturell, ökonomisch, touristisch, menschlich. Europa ist auf Russland angewiesen, um in Frieden zu leben. Wir sind verdammt, uns zu vertragen. Und das ist gut so.

Krisenbewältigung durch Austeritätspolitik? (Thomas Kuczynski)


Der Begriff Austeritätspolitik bezeichnet eine Politik des ausgeglichenen Staatshaushalts und der Verringerung der Staatsschulden. Wolfgang Schäuble, Schwabe und Bundesfinanzminister, hat auf beiden Feldern viel erreicht. Der ausgeglichene Staatshaushalt – die ominöse »schwarze Null« – scheint momentan nahezu gesichert, und die Staatsschulden sind im letzten Jahr nur noch um 0,7 Prozent gestiegen. Wer nur die Finanzdaten sieht, und das scheint ja im Zeitalter der »Finanzialisierung« legitim, ist begeistert. Wer die Wirkungen auf das reale Leben betrachtet, ist es nicht.

Gewiss, die Arbeitslosigkeit sinkt seit Jahren, und zwar nicht nur wegen der geschönten Statistiken – aber auf wessen Kosten? Die Zahl der Vollbeschäftigten ist in Deutschland so niedrig wie noch nie im vergangenen Vierteljahrhundert, dagegen war die Zahl der kurzzeitig oder geringfügig Beschäftigten, der Zeitarbeitskräfte und sogenannten Minijobber noch nie so hoch. Das Resultat ist ein sich verengender Binnenmarkt. Das hatte in der Vergangenheit zumeist Produktionssenkungen und erhöhte Arbeitslosigkeit zur Folge. Aber auch davon ist hierzulande wenig zu spüren. Die Leute sind mit ihrer sozialökonomischen Lage zwar nicht zufrieden, aber starker Widerstand kommt in der Regel nicht auf. Ein Vergleich mit der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932 und den katastrophalen Ergebnissen der restriktiven Haushaltspolitik des damaligen »Hungerkanzlers« Heinrich Brüning übersieht, dass das deutsche Großkapital und seine Regierenden sich ihrer Herrschaft zur Zeit ziemlich sicher sein können, ganz im Unterschied zur Situation in manchen anderen Ländern der Europäischen Union. Vielleicht ist ja Austeritätspolitik doch ein Mittel zur Krisenbewältigung. Schäuble-Deutschland scheint den Beweis dafür geliefert zu haben.

Wer so argumentiert, blendet die Tatsache aus, dass diese Austeritätspolitik nach innen symbiotisch verbunden ist mit einer ökonomischen Expansionspolitik nach außen. Was stört das deutsche Großkapital eine Verengung des Binnenmarktes, wenn der Absatz im Ausland gesichert ist? Und der ist dann besonders sicher, wenn die Lohnstückkosten im Inland niedriger sind als die im Ausland, also der Binnenmarkt weiter verengt wird. Nach wie vor gilt auch für deutsche Unternehmen das Wort aus dem »Kommunistischen Manifest«, dass »die wohlfeilen Preise ihrer Waren« als »schwere Artillerie« im Kampf gegen ihre Konkurrenten dienen. Da fällt es leicht, die deutschen »Sekundärtugenden« Fleiß und Disziplin der angeblich in Südeuropa so verbreiteten Faulheit und Schlamperei gegenüberzustellen und darauf zu pochen, dass auch dort Haushaltskürzungen vorgenommen werden und die Staatsschulden verringert werden, kurzum, dass von Deutschland endlich gelernt werde, wie erfolgreich Austeritätspolitik ist.

Was wäre das Resultat einer auf ganz Europa verallgemeinerten Austeritätspolitik? Um ein Bild zu gebrauchen: Es würde dasselbe passieren, wie in einem Kino mit schlechten Sichtverhältnissen, wo jemand aufsteht, um besser zu sehen, danach alle anderen auch und schließlich niemand mehr etwas sieht. Bei einer auf ganz Europa verallgemeinerten Austeritätspolitik wären deren Ursachen keineswegs beseitigt, und überdies würde die deutsche Industrie ihrer Absatzmärkte verlustig gehen. Es wäre daher, längerfristig betrachtet, sogar im Interesse des deutschen Großkapitals, dass die bislang betriebene Austeritätspolitik durch eine andere ersetzt wird.

Das Hauptargument für eine Fortsetzung der Austeritätspolitik war und ist die Staatsverschuldung. Es müsse um einen ausgeglichenen Haushalt gekämpft werden, und dieser Kampf verbiete eine weitere Staatsverschuldung. Das Argument ist ebenso einleuchtend wie falsch.

Schulden zu haben, das ist für die meisten der sogenannten einfachen Leute eine ganz schlimme Sache, nicht nur ökonomisch, auch moralisch. Deshalb sagen sie, wenn sie das Geld zurückgeben an jemanden, der für sie ein Bier oder einen Kaffee bezahlt oder ihnen ein paar Euro gepumpt hat, sie würden »sich ehrlich machen«. Sie meinen das zumeist auch so. Und sie zeigen sich einsichtig, wenn ihnen erklärt wird, dass der Staat kein Geld habe und deshalb »alle« den Gürtel enger schnallen müssten. Sie tun das, weil ja auch sie, im Falle des Verlusts von Arbeit und damit Einkommen, trotzdem die Raten für das noch nicht abbezahlte Auto und so weiter aufbringen, also den Gürtel enger schnallen müssen.

Aber Schulden sind immer eine Sache der Gegenseitigkeit. Wer Schulden hat, schuldet jemandem etwas. Bei wem ist der Staat verschuldet? Wer sind seine Gläubiger? Von den Auslandsschulden abgesehen kann der Staat (also hierzulande Bund, Länder, Kommunen und Gemeinden) keine anderen als ausschließlich private Gläubiger haben; den Löwenanteil von etwa zwei Dritteln der Kreditsumme stellen die Banken. Sie sind die eigentlichen Gewinner der Staatsverschuldung.

Deshalb haben Kapitalisten im Allgemeinen eine andere Sicht auf diese Dinge: »Schulden gehören mit zum Vermögen«, lautete die erste Regel des vor 1933 aktiven Großbankiers Carl Fürstenberg, und der Reedereibesitzer Wilhelm Cuno erklärte in seinem Amt als Reichskanzler 1922 zur sogenannten Reparationsfrage: Man kann auch stark sein als Schuldner, man muss nur genügend Schulden haben, dass der Gläubiger seine Existenz mitgefährdet sieht, wenn der Schuldner zusammenbricht. Der offenherzige Zynismus Cunos macht übrigens klar, warum die sogenannten einfachen Leute das ganz anders sehen müssen: Die haben nie so viel Schulden, dass deren Gläubiger ihre eigene Existenz gefährdet sähen.

Selbst wenn jemand einer Bank Tausende schuldet, hat er das Problem, und nur wenn er ihr Millionen schuldet, hat die Bank das Problem. Wenn es nun aber in der Europäischen Union um Milliarden und inzwischen Billionen geht, hat die Europäische Zentralbank (EZB) das Problem. Und die Banken finden es nach wie vor nicht sonderlich lukrativ, mit dem Geld Unternehmen der Realwirtschaft zu kreditieren, um auf diese Weise Arbeitsplätze zu schaffen und eine daraus resultierende zahlungsfähige Nachfrage. Sie kaufen vielmehr Schuldverschreibungen des Staates, damit der wenigstens seine Zinsen an sie zahlen kann.

Es ist kein Wunder, dass das Phänomen des »verschuldeten Steuerstaats« während des Ersten Weltkriegs entdeckt wurde, denn Krieg ist nach Auffassung von Marx »unmittelbar ökonomisch dasselbe, als wenn die Nation einen Teil ihres Kapitals ins Wasser würfe«. In der Tat, wenn die jährlich etwa anderthalb Billionen Euro, die für die Rüstung weltweit ausgegeben werden, in die Konversion von Rüstungs- zu Zivilindustrie und in andere friedenswirtschaftliche Maßnahmen investiert werden würden, dann sähe die Weltlage sehr anders aus, und auch erste Schritte zum Abbau der Staatsverschuldung könnten unternommen werden. Erste Schritte, denn die deutschen Staatsschulden allein sind mit zwei Billionen Euro höher als die weltweiten Rüstungsausgaben.

Der Krieg war zwar nicht Ursache, wohl aber Anlass für den Entdecker dieser »Staatsform«, den österreichischen Ökonomen Rudolf Goldscheid, nach einem Ausweg zu suchen, und 1917 glaubte er, ihn im Übergang zum »Unternehmerstaat« gefunden zu haben. Das war nur eine Variante dessen, was einer seiner zeitgenössischen Kritiker, Joseph Schumpeter, den Übergang zum Staatskapitalismus genannt hat. Dieser Übergang hat sich allerdings stets als umkehrbar erwiesen, eben weil es in dieser Gesellschaft letztlich immer um die Sozialisierung der Verluste und die Privatisierung der Gewinne geht.

Jedoch hat der Staat immer auch die Möglichkeit, sich seiner Schulden unter der Verletzung der Rechte seiner Gläubiger zu entledigen, einfach den Schuldendienst zu verweigern. Berühmt geworden ist der Ausspruch des Abbé Terray, von 1768 bis 1774 Finanzminister unter Ludwig XV.: Eine Regierung müsse mindestens alle hundert Jahre den Schuldendienst verweigern, um die reichen Kreditgeber an der Finanzierung des Staates zu beteiligen (wobei der Abbé selbstverständlich die Feststellung des Vaters seines Königs kannte: L'état – c'est moi; der Staat – das bin ich). Terray hätte sich auf eine Reihe hochberühmter Amtsvorgänger berufen können: Sully, Richelieu, Mazarin, Colbert – sie alle hatten bei ihrem Amtsantritt einfach die bis dahin aufgelaufenen Zahlungsverpflichtungen nicht anerkannt. Und niemand wird behaupten wollen, dass die Genannten damit die Gesellschaftsordnung gestürzt haben, deren Repräsentanten sie doch gewesen sind.

Und auch die von Goldscheid ausgesprochene Motivation für den Umbau des »verschuldeten Steuerstaats« zu einem staatskapitalistischen Gebilde hat heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren: »Es hat keinen Sinn, Klagelieder über die Höhe der sozialen Lasten anzustimmen, ist es doch die Wirtschaft selber, die diese produziert. Will man also soziale Lasten vermeiden, so gilt es gesellschaftliche Maßnahmen zu treffen, welche den Menschen Lebens- und Arbeitsbedingungen schaffen, die sie nicht unentrinnbar nötigen, dem Gemeinwesen immer wieder zur Last fallen zu müssen. Denn unbehobenes Leid kehrt vermehrt wieder als öffentliche Last.«

Das wurde 1928 geschrieben, vor Ausbruch der Großen Weltwirtschaftskrise, und ist achtundachtzig Jahre später von ungebrochener Aktualität.

Aufrüstung und Militarisierung (Rolf Gössner)


Die Reaktionen auf die mörderischen Anschläge in Frankreich, Belgien und Deutschland 2015 und 2016 zeigen in aller Deutlichkeit, dass wir uns wieder mitten in einer fatalen Aufrüstungsdynamik befinden – mit altbekannten sicherheitspolitischen und medialen Reflexen: Neben der Beschwörung »unserer westlichen Werte« und »unserer Art zu leben« erschallt der immer gleiche hilflose Schrei nach dem starken Staat: nach abermaligen Gesetzesverschärfungen, verfassungswidrigen Militäreinsätzen im In- und Ausland, weiterer Polizei- und Geheimdienst-Aufrüstung, nach noch mehr Überwachung und Erfassung der Bevölkerung, nach zügiger Abschiebung von Flüchtlingen bis hin zu Forderungen, Burkas zu verbieten, eine Nationalgarde mit Reservisten einzurichten und Lebensmittelvorräte für Notfälle zu bunkern.

Angst ist das Schmieröl der Staatstyrannei – diese Erkenntnis verweist darauf, dass Verunsicherung und Angst als Herrschaftsinstrumente nutzbar sind. Die Umsetzung dieser Politik mit der Angst beschränkt abermalig die Grund- und Freiheitsrechte aller und schädigt Demokratie und Rechtsstaat – das hat sich seit 9/11 immer wieder deutlich gezeigt. Damit werden gerade jene viel beschworenen Werte beschädigt, die es doch zu schützen gilt: Demokratie und Bürgerrechte, Freiheit und Offenheit. Außerdem gerät dabei in Vergessenheit, dass es weder in einer hoch technisierten Risikogesellschaft, in der wir ja leben, noch in einer offenen und liberalen Demokratie absoluten Schutz vor Gefahren und Gewalt geben kann.

Trotz dieser Erkenntnisse, trotz Edward Snowdens NSA-Enthüllungen, trotz der skandalösen Praktiken bundesdeutscher Geheimdienste, ihrer Ineffizienz und strukturellen Kontrolldefizite kommt es nicht etwa zu begrenzenden Reformen, sondern zu einer weiteren Aufrüstung der prinzipiell demokratiewidrigen Geheimdienste. Anstatt Bevölkerung und Unternehmen endlich wirksam vor Ausforschung zu schützen, werden »Verfassungsschutz« und »Bundesnachrichtendienst« noch weiter personell, finanziell und technologisch aufgestockt, stärker zentralisiert, mit Polizei und ausländischen Sicherheitsbehörden enger vernetzt. Der »Verfassungsschutz« darf sich inzwischen ganz legal krimineller V-Leute bedienen; und er darf künftig, wie auch der BND, soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter & Co. anlasslos und systematisch ausforschen.

So unglaublich es klingen mag: Die bisherigen Skandale und illegalen Praktiken werden kurzerhand in Gesetzesform gegossen und legalisiert. Mit dem Effekt, dass unsere Geheimdienste aus der Krise gestärkt hervorgehen, massenüberwachungstauglicher werden und sich so vom Großen Bruder NSA emanzipieren. Darüber hinaus wird demnächst eine Bundesbehörde namens »Zitis« aufgebaut (Zentrale Stelle für Informationstechnik im Sicherheitsbereich), die alle Sicherheitsbehörden mit Software versorgen soll, um mittels Entschlüsselungsprogrammen und Staatstrojanern verdächtige Bürger, Firmen, Organisationen und Netzwerke ausspionieren sowie bei Bedarf in lebenswichtige Infrastrukturen einbrechen zu können, wie etwa in Gesundheits-, Verkehrs-, Strom- und Wasserversorgungsnetze. Übrigens entwickelt auch die Bundeswehr solche operativen Fertigkeiten – sowohl zur Cyberverteidigung als auch zu Cyberangriffen. Das bedeutet: die Befähigung zum globalen Cyberkrieg und damit die Eröffnung eines weiteren Schlachtfelds.

Verfechter einer solchen Hochrüstung behaupten, nur so könne man Terroranschläge verhindern, was auch schon passiert sein soll – eine eher gewagte Behauptung, die schon aus Geheimhaltungsgründen kaum überprüfbar ist. Das alles erinnert mich an einen nachdenklichen Aphorismus von Wolfgang Bittner: »Geplanter Anschlag / Keine konkreten Hinweise, / doch der Innenminister warnt / vor Terroranschlägen. / Wer weiß, / was er plant.«

Im Zuge der skizzierten Antiterrorpolitik erleben wir einen dramatischen Strukturwandel vom demokratischen Rechtsstaat zum bisherige Grenzen überschreitenden Sicherheits- und Präventionsstaat, in dem die Eingriffsschwellen immer weiter abgesenkt werden. So kommt es seit Jahren nicht nur zu einer machtkonzentrierenden Vernetzung von Polizei und Geheimdiensten, sondern – neben der Militarisierung der Außenpolitik – auch zu einer Militarisierung der »Inneren Sicherheit«, wie sie aktuell wieder forciert betrieben wird. Im Mittelpunkt steht dabei der Bundeswehreinsatz im Inland, der in Einzelfällen längst schon Realität ist, selbst gegen Demonstrierende, aber noch ausgeweitet und abgesichert werden soll – geschichtsvergessen muss man sagen und unter Missachtung jener wichtigen Lehren aus der deutschen Geschichte, wonach Polizei und Militär, ihre Aufgaben und Befugnisse strikt zu trennen sind.

Die Bundeswehr, längst von einer Verteidigungs- zu einer weltweit agierenden Interventionsarmee mutiert, soll künftig selbst in Friedenszeiten – also ohne militärischen Angriff von außen – im Innern des Landes flexibler eingesetzt werden. Und zwar nicht nur im bereits zulässigen Fall von Katastrophen und schweren Unglücken, nicht nur im Spannungs- oder Notstandsfall nach den umstrittenen Notstandsgesetzen, sondern quasi auch als nationale Sicherheitsreserve im Inland, als »Hilfspolizei« mit eigenen hoheitlichen Kompetenzen und militärischen Mitteln. So etwa zur Terrorabwehr – einer klassischen Aufgabe der Polizei. Nachdem die Bundeswehr während des Münchner Amoklaufs bereits in Alarmbereitschaft versetzt worden war, soll sie nun mit Bundes- und Länderpolizeien gemeinsame Manöver zur Bewältigung »terroristischer Großlagen« durchführen.

Diese schleichende Entgrenzung des Militärs vollzieht sich in Etappen:
Erstens: Das Bundesverfassungsgericht hat 2012 den Bundeswehreinsatz im Innern zur Gefahrenabwehr auch unterhalb der Notstandsschwelle für grundgesetzkonform erklärt: Militäreinsätze im Inland sollen danach auch in »Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes« – also etwa bei schweren Terrorangriffen im Inland – erlaubt sein, und zwar auch mit militärischen Kampfmitteln. Damit hat sich das Gericht praktisch als Gesetzgeber geriert und die Verfassung nicht nur interpretiert, sondern geändert – unter Umgehung der für Verfassungsänderungen erforderlichen Hürde einer Zweidrittelmehrheit des Bundestags. In seinem Minderheitsvotum hat Verfassungsrichter Reinhard Gaier diese Entscheidung moniert: Es müsse stets berücksichtigt werden, »dass der Einsatz von Streitkräften im Inneren mit besonderen Gefahren für Demokratie und Freiheit verbunden ist« und »die Streitkräfte niemals als innenpolitisches Machtinstrument« mit militärischen Waffen eingesetzt werden dürften. Nun ist genau das möglich.

Zweitens: Die EU entwickelt sich in »Strategischer Partnerschaft« zum verlängerten »Kriegsarm« der NATO, aber auch parallel dazu und in Abgrenzung zu den USA in Richtung eines eigenen Militärbündnisses – mit Kurs auf weltweite Kriseninterventions- und Out-of-area-Einsätze, auch zur militärischen Sicherung europäischer (Wirtschafts-) Interessen. Mit dem EU-Vertrag von Lissabon verpflichten sich die Mitgliedstaaten zur schrittweisen Aufrüstung ihrer Armeen – ein einzigartiger Vorgang in der europäischen Verfassungsgeschichte. Die Solidaritätsklausel dieses Vertrags erlaubt gegenseitige Militäreinsätze auch zur (präventiven) Terrorabwehr im Hoheitsgebiet von EU-Staaten. Nach den Terroranschlägen in Frankreich rief die Regierung bekanntlich den (mehrmals verlängerten) Ausnahmezustand aus und aktivierte die Beistands- und Hilfsverpflichtung gemäß EU-Vertrag. Übrigens: Legt man die weite Terrorismus-Definition der EU zugrunde, dann können hierunter neben urban violence selbst Streiks und Blockaden fallen, sobald diese kritische Infrastrukturen gefährden, wie Versorgungseinrichtungen, Telekommunikationsnetze, Behörden oder Banken.

Drittens: Liest man das kürzlich erschienene Weißbuch 2016 des Verteidigungsministeriums, das im Kontext mit EU und NATO die künftige Ausrichtung der Bundeswehr festlegt, so wird schockartig klar, dass es sich um ein Dokument der Aufrüstung und Militarisierung nach außen und nach innen handelt. Danach sollen Auslandseinsätze der Bundeswehr zur militärischen Krisenbewältigung und für geostrategische Interessen flexibler und vermehrt möglich sein – wie es heißt, wegen der »gewachsenen globalen Verantwortung« und »sicherheitspolitischen Verpflichtung Deutschlands in der Welt«. Ein klarer Verstoß gegen das völkerrechtskonforme Verteidigungskonzept, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg bis Ende des Kalten Krieges für Europa, NATO und Bundesrepublik zumindest prinzipiell gegolten hat.

Zum anderen gilt laut Weißbuch der Militäreinsatz im Innern zur Abwehr von Terror und »hybriden Bedrohungen« unterhalb der Verteidigungsschwelle und mit hoheitlichen Zwangsbefugnissen als verfassungsrechtlich abgesichert. Dabei verweisen flexibilisierte Militärinterventionen sowohl nach außen als auch im Innern auf einen fatalen Zusammenhang: Je mehr sich deutsche und EU-Außenpolitik an Militäreinsätzen weltweit beteiligt und gewisse Staaten auch durch Waffenlieferungen als Kriegsparteien wahrgenommen werden, desto größer wird auch die Gefahr von Terroranschlägen gegen die beteiligten Staaten. Das heißt: Die Regierungen wappnen sich gegen mögliche Reaktionen auf ihre eigene Außen- und Kriegspolitik mit Militäreinsätzen im Innern. Kollateralschäden an der Heimatfront inbegriffen.

Demgegenüber ist klar und deutlich festzuhalten: Innere Sicherheit, Gefahrenabwehr und Strafverfolgung sind – auch im Fall von Terroranschlägen – klassische Aufgaben der Polizei und nicht der Bundeswehr. Soldaten sind keine Hilfspolizisten, sie sind nicht für polizeiliche Aufgaben nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern zum Kriegführen ausgebildet und mit Kriegswaffen ausgerüstet; und sie sind auch nicht dafür da, personelle Defizite bei der Polizei auszugleichen, die es aufgrund von Einsparmaßnahmen tatsächlich gibt.

Fazit: Mit der inneren Aufrüstung und der Entgrenzung des Militärischen droht der demokratische Rechtsstaat zu einem präventiv-autoritären Sicherheitsstaat zu werden – einem Staat im permanenten Ausnahmezustand, in dem der Mensch zum Sicherheitsrisiko mutiert, Rechtssicherheit und Vertrauen der Bürger verloren gehen. Insgesamt gesehen gibt es eine fatale Tendenz, den Rechtsstaat radikal umzubauen und die verfassungsrechtlichen Grenzen zwischen Polizei und Geheimdiensten zu schleifen, die Grenzen zwischen Innerer Sicherheit und Außenpolitik, zwischen Verteidigung und Intervention, Militär und Polizei zu verwischen – kurz: das Instrumentarium des Ausnahmezustands zu normalisieren und zu schärfen.

Wie sich das reiche Europa abschottet (Ulla Jelpke)


»Politisch Verfolgte genießen Asylrecht«, hieß es früher in Artikel 16 des Grundgesetzes. Seit dem sogenannten Asylkompromiss von 1992 steht der Satz zwar immer noch drin, aber jetzt erst in Artikel 16a und gefolgt von vier langen Absätzen, in denen alle möglichen Einschränkungen formuliert sind.

Bevor ich die wichtigsten Elemente dieser bis heute mehrfach modifizierten Politik vorstelle, möchte ich eine grundsätzliche Bemerkung machen: Das reiche Europa, das sich gegen Flüchtlinge abschottet, ist nicht zuletzt deswegen reich, weil es weniger entwickelte Länder ausbeutet. Mit dieser Politik schafft Europa Fluchtursachen – und zugleich versucht es sich von den Flüchtenden abzuschotten. Das ist nicht nur ein humanitärer Skandal, es zeugt von widerlichem Zynismus.

Zu den wichtigsten Einschränkungen des Grundgesetzes gehörte 1992 die Einführung sogenannter sicherer Drittstaaten beziehungsweise sicherer Herkunftsstaaten.

Sicherer Drittstaat, das bedeutet: Wer auf seiner Flucht durch einen Staat kommt, in dem – nach Meinung der Bundesregierung – keine politische Verfolgung stattfindet, der kann sich auf das Asylrecht in Deutschland nicht berufen. Eine 1:1-Umsetzung des Gesetzes würde bedeuten, dass niemand, der auf dem Landweg einreist, in Deutschland noch Asyl erhalten könnte. Denn als sichere Drittstaaten gelten unter anderem alle EU-Staaten und die Schweiz.

Der Luftweg ist ebenfalls ausgeschlossen – denn Fluggesellschaften, die Passagiere ohne Visum befördern, müssen bis zu 5000 Euro Zwangsgeld pro Einzelfall bezahlen. Im vergangenen Jahr wurde in 1287 Fällen ein solches Zwangsgeld erhoben, im Wert von insgesamt 2,1 Millionen Euro. Hinzu können noch Verwaltungskosten einschließlich der Kosten für eine etwaige Abschiebehaft kommen.

Der Dublin-Mechanismus ist die logische Ergänzung der sicheren Drittstaaten-Regelung: Ein Asylantrag soll regelmäßig in jenem EU-Mitgliedsland durchgeführt werden, das ein Flüchtling zuerst betreten hat. Über Jahre hinweg hat das für Zehntausende Flüchtlinge, die es nach Deutschland geschafft hatten, bedeutet, dass sie wieder nach Griechenland, Italien und in andere EU-Länder zurückgeschoben wurden. In der Theorie läuft die Dublin-Regel darauf hinaus, dass die Mittelmeer-Anrainer alle Asylverfahren allein durchführen sollen. Vor allem in Italien und Griechenland ist das Asylsystem deswegen regelrecht kollabiert, so dass schon seit langem die Rückführungen dorthin ausgesetzt oder stark eingeschränkt sind.

Das Prinzip der sicheren Drittstaaten wird ergänzt durch das der sogenannten sicheren Herkunftsstaaten (HKS). Ein Flüchtling aus einem solchen Land gilt grundsätzlich nicht als verfolgt. Mit dem Anspruch, dass jeder einzelne Asylantrag gleich ernsthaft und unvoreingenommen geprüft wird, ist eine solche Unterstellung nicht vereinbar. Die Betroffenen haben es viel schwerer, eine Verfolgung nachzuweisen.

Die Einstufung als sicherer HKS erfolgt nach rein politischen Erwägungen. In den Jahren 2014 und 2015 waren es die Balkanstaaten. Damit wurde auf zunehmende Anträge von dortigen Bürgern reagiert, unter ihnen viele Roma (diese stellten aus Serbien beispielsweise bis zu 90 Prozent der Antragsteller). Die Anträge werden jetzt in vereinfachten und beschleunigten Verfahren geprüft, wobei die Antragsteller in sogenannten besonderen Aufnahmeeinrichtungen untergebracht werden. Dort, zum Beispiel im bayerischen Manching, unterliegen sie einer verschärften Residenzpflicht. Das ist offensichtlich reine Schikane und soll auch der Abschreckung dienen.

Außerdem ist es ungerechtfertigt, denn besonders für Roma ist die Situation auf dem Balkan gefährlich. So haben etwa im Kosovo unmittelbar nach den Bombardierungen 1999 regelrechte Pogrome gegen Roma stattgefunden. Bis heute wird ihnen die Rückkehr in ihre Häuser verweigert. Roma werden auf dem Balkan bei der Arbeitsplatzvergabe benachteiligt, ebenso bei Sozialleistungen. Ihre Wohnviertel haben die schlechteste Infrastruktur. Die systematische, rassistisch motivierte Ausgrenzung nimmt Formen einer kumulativen Verfolgung an, die durchaus asylrelevant sein kann.

Noch willkürlicher ist die Einstufung Marokkos, Tunesiens und Algeriens als sichere HKS, die im Frühjahr 2016 vom Bundestag beschlossen wurde (im Bundesrat gab es noch keine Abstimmung).

In allen drei Ländern werden Homosexuelle verfolgt. In Tunesien bekommen Bürger, die kritisch über die Sicherheitskräfte berichten, Ärger mit der Polizei. In Marokko wird verfolgt, wer den König kritisiert oder sich gegen die völkerrechtswidrige Besetzung der Westsahara ausspricht. In der offiziellen Asylstatistik schwanken die bisherigen Anerkennungszahlen für marokkanische Schutzsuchende zwischen zwei und fünf Prozent. Das sind Fakten und Zahlen, die den pauschalen Verdacht, dass alle Antragsteller Betrüger seien, absolut unzulässig machen.

Wie sehr Abschottung und Abschreckung einhergehen, zeigt sich mittlerweile auch im Fall von Bürgerkriegsflüchtlingen. Syrer beispielsweise haben noch bis Ende vorigen Jahres zu fast 100 Prozent Asyl erhalten. Mittlerweile erhalten sie fast nur noch den sogenannten subsidiären Schutzstatus, das heißt nur ein einjähriges Bleiberecht. Damit werden ihre Integrationschancen erheblich verringert. Zudem ist mit dem Asylpaket 2 der Familiennachzug für subsidiäre Flüchtlinge bis März 2018 ausgesetzt worden. Die SPD hatte damals argumentiert, das treffe nur ganz wenige – damals waren die Zahlen tatsächlich noch im Promillebereich. Aber seit die Neuregelung beschlossen wurde, werden immer mehr Schutztitel nur als subsidiäre vergeben. Mittlerweile sind es um die 60 Prozent, Tendenz steigend.

Ein weiteres wichtiges Instrument zur Abschottung Europas besteht darin, die Nachbarn der EU quasi als Türsteher zu engagieren. Dazu bilden die EU-Staaten ausländische Grenzschutzeinheiten aus und beliefern sie mit Ausrüstungen.

Der Schwerpunkt für solche Maßnahmen liegt auf dem Balkan und in Nord-afrika, also in wichtigen Transitländern. Da geht es nicht um Schusswaffen und so weiter, sondern ganz simpel darum, den Grenzschutz überhaupt arbeitsfähig zu machen. Dazu gehören etwa Lehrgänge zur Dokumentenprüfung und zum Umgang mit Funkgeräten. Der serbische Grenzschutz erhielt im Sommer durch die Bundespolizei einen Kurs zur Nutzung von Wärmebildtechnik, unter dem Titel »Grenzüberwachung Land« – ein Beitrag zur Abriegelung der Balkanroute.

Wie »erfolgreich« das Prinzip funktioniert, sieht man am Beispiel Spanien: Vor einigen Jahren kamen noch nahezu täglich Flüchtlinge an die Strände der Kanarischen Inseln. Bis Spanien anfing, unterstützt von Frontex, die Guardia Civil in den Häfen Mauretaniens patrouillieren zu lassen. Mauretanien wie auch Marokko erhalten Geld und militärische Ausrüstung, damit sie Flüchtlinge daran hindern, nach Europa zu kommen.

Das gleiche Verfahren hatte Italien unter Berlusconi mit Unterstützung der EU gegenüber Libyen – damals noch unter Gaddafi – angewandt. In Libyen wurden Flüchtlinge in Gefängnisse geworfen und nach ihrer Freilassung oftmals irgendwo in der Wüste ausgesetzt.

Trotzdem versorgte Italien Libyen mit Hubschraubern, Waffen und Militärfahrzeugen. Im Jahr 2007 empfahl Frontex nach dem Besuch einer Delegation in Libyen, trotz der Menschenrechtsverletzungen Kommandostände, Überwachungsradargeräte, Patrouillenboote und andere Ausrüstung zu liefern.

Das Gleiche strebte die EU auch nach dem Sturz Gaddafis an. Vor drei Jahren begann sie eine Polizeimission mit dem Ziel, in Libyen Border Guards, also einen Grenzschutz, auf die Beine zu stellen.

Eine funktionierende Regierung gibt es in Libyen allerdings nicht. Die hat die NATO weggebombt. Mittlerweile hat sich auch der IS in Libyen festgesetzt. Dementsprechend ist der Grenzschutz in der Praxis nur eine Miliz im Kampf gegen andere Milizen. Die Mission ist mittlerweile fast eingestellt, die Beteiligten aus der EU wurden aus Sicherheitsgründen aus Libyen evakuiert.

Die Flüchtlingsabwehr im Mittelmeer wird zunehmend militarisiert. Seit Juni 2015 macht die Bundeswehr bei der EU-Mission EUNAFVOR MED mit, die inzwischen »Sophia« heißt. Ziel ist die Bekämpfung von Schleusern. Die Kriegsmarinen der EU sollen die Schleuserstrukturen aufdecken und ihre Boote identifizieren, diese dann auch kapern und zerstören dürfen. Doch dass überhaupt Schleuser in Anspruch genommen werden, ist eine direkte Folge davon, dass sich die EU weigert, Menschen in Not legale Möglichkeiten zu belassen, in Europa einen Asylantrag zu stellen.

Mehr Tote: Man kann bereits deutlich sehen, was diese Militarisierung der Abschottungspolitik für die Flüchtlinge bedeutet. Die Schleuser setzen, um ihre Kosten niedrig zu halten, noch wackligere Boote ein, und sie weichen auf andere Routen aus, neuerdings wird Ägypten zum Ausgangspunkt. Die Überfahrten werden gefährlicher. Seit 2014 sind nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration 10.000 Menschen auf dem Mittelmeer bei der Flucht umgekommen. Allein in diesem Jahr waren es schon 3000.

In der Ägäis wird seit diesem Frühjahr das gleiche Prinzip verfolgt: Der Deal zwischen der EU und Erdoğan sieht vor, dass die Türkei Abfahrten von Flüchtlingsbooten auf die griechischen Inseln unterbindet. In diesen Plan ist auch die NATO eingebunden, deren Kriegsschiffe in der Ägäis helfen, »verdächtige Boote« zu identifizieren und der griechischen und türkischen Küstenwache zu melden. Die Flüchtlinge werden aufs türkische Festland zurückgebracht. Bis zum 1. August hat die NATO 109 »Migrationsbewegungen« gemeldet, 24 dieser Meldungen stammten von der deutschen Marine. Durch diesen Einsatz werden Menschen aktiv daran gehindert, Zugang zum Asylrecht zu erhalten.

An diesem Deal hält die EU verbissen fest, obwohl sich Erdoğan in den letzten Monaten nicht nur zunehmend zum Diktator aufschwingt, sondern auch die kurdische Bevölkerung mit einem blutigen Krieg überzieht und so bereits eine halbe Millionen neue Flüchtlinge im eigenen Land geschaffen hat. Für das Ziel, sich gegenüber Flüchtlingen abzuschotten, paktiert die EU auch mit Diktatoren.

Wichtig ist es, dem Asylgedanken des Grundgesetzes wieder Geltung zu verleihen. Es darf nicht sein, dass jemand sein Leben riskieren muss, nur um ein Recht in Anspruch zu nehmen, das immer noch im Grundgesetz verankert ist.

Ganz vorne steht für die Linkspartei deswegen die Forderung nach Schaffung sicherer und legaler Möglichkeiten für Flüchtlinge, in der EU Asyl zu beantragen. Die EU-Richtlinie, die Transportunternehmen Strafen für die Beförderung von Menschen ohne gültige Visa auferlegt, muss weg.

Langfristig müssen wir an die Fluchtursachen ran. Das wird ein langer Kampf gegen die Dogmen des Freihandels und des Neoliberalismus. Wir brauchen faire Wirtschaftsbeziehungen, einen fairen Außenhandel. Wir dürfen nicht länger durch den Export subventionierter Lebensmittel und Billigprodukte lokale Märkte zerstören. Mit dem Unsinn, in vom Hunger bedrohten Regionen auf Agrarflächen statt Lebensmittel Bio-Treibstoff anzubauen, muss Schluss sein. Deutsche Firmen, die im Ausland arbeiten, müssen in Deutschland zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie gegen Menschenrechte oder ökologische Mindeststandards verstoßen.

Das alles bedeutet einen Bruch mit den scheinbaren Selbstverständlichkeiten des Kapitalismus – aber dieser Bruch ist notwendig im Kampf gegen die Barbarei.