Dienstag, 30. Oktober 2018

Rechtsradikaler gewinnt Stichwahl um das Präsidentenamt / Soziale Bewegungen kündigen Massenproteste an

Schweigeminute für Brasiliens Demokratie



Für einen kurzen Moment herrscht Totenstille, dann beginnt das Schluchzen. Menschen liegen sich in den Armen, vielen steht die Panik und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Denn gerade wurde das bekannt gegeben, was viele befürchtet hatten: Der Rechtsradikale Jair Bolsonaro hat die Stichwahl um die brasilianische Präsidentschaft gewonnen und den Kandidaten der Arbeiterpartei PT, Fernando Haddad, geschlagen. Mit 55,13 zu 44,87 Prozent fiel der Wahlsieg deutlich aus.
Seine Partei hatte am Sonntagabend in ein Hotel im Zentrum von São Paulo geladen. Die gesamte Führungsriege der Partei, Mitglieder von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften sowieso Pressevertreter aus der ganzen Welt sind anwesend. So auch der ehemalige Senator der PT, Eduardo Suplicy. »Das ist ein sehr trauriges Resultat für uns«, sagt die sichtlich geschockte Kultfigur der Arbeiterpartei dem »nd«. »Jetzt müssen wir reflektieren, was falsch gelaufen ist.«

ndTrend-Newsletter

Nicht soviel Zeit? Dann empfehlen wir Ihnen unseren Wochenrückblick ndTrend mit den meistgelesenen Texten der sieben Tage! Der Überblick über die Themen, die wirklich wichtig waren. Hier anmelden!
Auf der Pressekonferenz in einem überfüllten Konferenzraum wird eine Schweigeminute für die Demokratie und die Opfer der rechten Gewalt gehalten. Dann hält Fernando Haddad an der Seite von Ex-Präsidentin Dilma Rousseff eine kurze Rede. Von seinen Anhängern wird er zwar bejubelt, dennoch überwiegen an diesem Abend Traurigkeit und Fassungslosigkeit.
Nur wenige Straßenzüge entfernt, sieht es ganz anders aus. Tausende Anhänger von Jair Bolsonaro haben sich auf der Avenida Paulista, der Prachtstraße der Megametropole, versammelt. Schon von weitem hört man Feuerwerkskörper, Autohupen und Gebrüll. Die für den Verkehr gesperrte Straße gleicht einem Meer aus Gelb und Grün. An jeder Ecke stehen Straßenverkäufer*innen, die T-Shirt und Fahnen mit dem Konterfei von Bolsonaro verkaufen. Polizisten posieren gut gelaunt mit Bolsonaro-Fans für Fotos. Mehrfach wird die Nationalhymne gesungen, es wird getanzt, gesungen, gelacht.
Doch der friedliche Schein trügt: Die Stimmung schwankt zwischen Volksfest und Pogrom. So wird ungeniert gegen politische Gegner gehetzt und offen die blutige Militärdiktatur (1964-1985) verherrlicht. Ein junger Mann zeigt mehrmals den Hitlergruß, während ein Redner die Politiker der Arbeiterpartei von der Bühne aus vulgär beschimpft. Mehrere Anwesende tragen Uniformen des Militärs, kleine Kinder formen ihre Hände zu Pistolen und immer wieder rufen die Anwesenden den Schlachtruf »Brasilien über alles.« Die Anhänger Bolsonaros haben die menschenverachtende und faschistoide Rhetorik ihres Idols verinnerlicht.
Auch Daniel Souza hat Bolsonaro gewählt. »Jetzt werden wir endlich einen nicht-korrupten Präsidenten haben«, sagt der 25-Jährige dem »nd«. Zwar sei er Demokrat, aber bestimmte Werte, die das Militär verkörpere, müssten jetzt in Brasilien umgesetzt werden. Cristiane Silva verspricht sich von Bolsonaro vor allem eine Verbesserung der Sicherheitslage. »Ich muss endlich in der Lage sein, ohne Angst auf die Straße zu gehen.«
Bis spät in die Nacht dauern die Feiern der Bolsonaro-Fans. Zwischenzeitlich geraten Gegner*innen und Befürworter*innen Bolsonaros aneinander, die Polizei setzt Gummigeschosse und Tränengas ein.
Lange Zeit sah es so aus, als würde Bolsonaro einen erdrutschartigen Sieg einfahren. Doch in der letzten Woche war Haddads Zustimmungswerte in den Umfragen immer weiter gestiegen. Seine Anhänger und engagierte Antifaschist*innen hatten im ganzen Land einen offensiven Straßenwahlkampf geführt, um die Wahl Bolsonaros doch noch irgendwie zu verhindern. Dass es am Ende doch nicht gereicht hat, könnte auch an der mangelnden Unterstützung gelegen haben. Viele Politiker*innen anderer Parteien gaben keine Wahlempfehlung für Haddad ab oder unterstützen sogar offen Bolsonaro. Auch dem drittplatzierten Sozialdemokraten Ciro Gomes wird nun vorgeworfen, sich mit Unterstützung für Haddad zurückgehalten zu haben. Dieser war lange Zeit farblos geblieben und hatte es schwer mit seiner sachlichen Art dem auf Fehlinformationen und plumpen Populismus fußenden Wahlkampf von Bolsonaro etwas entgegenzusetzen.
Nach seinem Wahlsieg erklärte der Rechtsaußenpolitiker: »Ich werde das Schicksal des Landes verändern. Jetzt wird nicht weiter mit dem Sozialismus, dem Kommunismus, dem Populismus und dem Linksextremismus geflirtet.« Die Wahl des ultrarechten Bolsonaro, der von vielen als Faschist bezeichnet wird, könnte einen radikalen Politikwechsel nach sich ziehen. Der frühere Fallschirmjäger will den Zugang zu Waffen erleichtern, wichtige Ministerien mit Militärs besetzen und möglicherweise aus dem Pariser Klimaschutzabkommen aussteigen. »Bolsonaro steht für Autoritarismus und Rückschritt. Ich sehe eine klare Parallele zum Militärputsch von 1964«, sagt Silvia Perreira, die seit vielen Jahren Mitglied in der PT ist und zur Zeit der Diktatur aufgewachsen ist.
Vor wenigen Tagen kündigte Bolsonaro an, »Säuberungen« durchführen zu wollen: Dazu will er politische Gegner aus dem Land werfen und soziale Bewegungen als terroristische Vereinigungen einstufen lassen. »Das ist eine explizite Kampfansage an die Demokratie. Mit ihm wird ein Klima der Verfolgung installiert«, sagt der PT-Aktivist William Osake dem »nd«.
Aus mehreren Städten wurden bereits Angriffe gemeldet. In Curitiba sollen Rechte am Wahlabend einen Schwulenclub angegriffen haben. Am Samstag wurde ein junger Mann auf einer PT-Kundgebung erschossen, der Täter soll den Namen Bolsonaros gerufen haben. Ebenfalls am Samstag haben Rechte ein Camp der Landlosenbewegung MST angegriffen und mehrere Zelte in Brand gesetzt. Aktivist*innen befürchten, dass die Gewalt gegen Linke, LGBTI und Journalist*innen nun stark zunehmen wird. Soziale Bewegungen haben angekündigt, gegen den Rechtsradikalen auf die Straße zu gehen. Am Dienstag sollen in São Paulo und Rio de Janeiro Demonstrationen stattfinden.

Berliner Regierungsfraktionen wollen Hartz-IV-Sanktionen für Junge abschaffen


Forderung an die Landesregierung, eine Bundesratsinitiative zu starten / In Berlin wurden 2017 143.601 Sanktionen verhängt


Berlin. Die Berliner Regierungsfraktionen SPD, Grüne und LINKE setzen sich dafür ein, manche Hartz-IV-Sanktionen abzuschaffen. Aus ihrer Sicht sollten jungen Leuten unter 25 Jahren und Familien mit Kindern keine Leistungen gekürzt werden. Die Fraktionen fordern ihre Landesregierung deshalb in einem Antrag im Abgeordnetenhaus dazu auf, eine entsprechende Bundesratsinitiative zu starten.
Geht es nach den Berliner Regierungsfraktionen, sollen Jobcenter auch bei den Wohnkosten künftig nicht mehr kürzen dürfen. Die Sanktionen seien ein Grund, warum Menschen ihre Wohnung verlieren, erklärte der Grünen-Abgeordnete Stefan Ziller zu dem Antrag. Angesichts der aktuellen Lage auf dem Berliner Wohnungsmarkt sei das »völlig unverhältnismäßig«.
Die Hartz-IV-Gesetze ändern kann aber nur der Bund. Über die Länderkammer hoffe man, die Große Koalition zum Handeln zu bewegen, sagte Ziller.
Die Sanktionsregelungen gelten seit 2007. Seitdem kann das Jobcenter Hartz-IV-Betroffenen den Grundbetrag oder Sachleistungen kürzen, etwa wenn sie nicht zu Terminen erscheinen, eine Arbeitsstelle verweigern oder Nebeneinkommen verschweigen. Junge Hartz-IV-Betroffene dürfen laut Gesetz härter bestraft werden als ältere. Ihnen kann der Hartz-IV-Satz vollständig gestrichen werden, wenn sie zweimal nicht zum Termin erscheinen. Dann kann auch der Mietzuschuss gekürzt werden.
In Berlin wurden 2017 laut Bundesagentur für Arbeit insgesamt 143.601 Sanktionen verhängt. 31.389 der Sanktionen richteten sich gegen Jugendliche. Bei 23,1 Prozent wurden Leistungen gekürzt, im Schnitt um 102 Euro.
Erst im August hatte die SPD-Bundesvorsitzende Andrea Nahles die Diskussion mit ihrer Forderung angeheizt, die Sanktionen gegen Jugendliche abzuschaffen. Im Juni waren zwei Anträge der Fraktionen der Grünen und der Linkspartei im Bundestag zur kompletten Abschaffung der Sanktionen gescheitert. Auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hatte Nahles unterstützt und eine Überprüfung der Sanktionen gefordert.
Außerdem plädiert Müller für ein solidarisches Grundeinkommen. Nach seinen Vorstellungen könnten Langzeitarbeitslose unbefristet versicherungspflichtige Tätigkeiten im gemeinnützigen kommunalen Bereich übernehmen und dafür einen Lohn erhalten, von dem sie auch leben können. Im Rahmen eines möglichen Pilotversuchs in Berlin sollen sie nach Tariflohn oder dem Landesmindestlohn bezahlt werden. dpa/nd

Europa und der neoliberale Extraktivismus in Südafrika

IMI-Studie 2018/08


Ungleiche Entwicklung und die Externalisierung von Gewalt

von: Simon Lang | Veröffentlicht am: 26. Oktober 2018


AusdruckOktober2017-Cover


Europa und der neoliberale Extraktivismus in Südafrika
hier herunterladen

INHALTSVERZEICHNIS
1. Einleitung – 2
2. Neoliberaler Extraktivismus – 2
2.1. Die neoliberale Wende– 2
2.2. Mechanismen neoliberaler Rohstoffaneignung – 4
3. Die Handels- und Rohstoffpolitik der Europäischen Union – 5
4. Südafrika und der Handel mit der Europäischen Union – 6
4.1. Die Neoliberalisierung Südafrikas – 6
4.2. Südafrikas Handelsbeziehungen mit der Europäischen Union – 7
5. Die Gewaltförmigkeit des neoliberalen Extraktivismus – 8
6. Die Remilitarisierung Südafrikas – 9
6.1. Südafrika als eigenständiger Sicherheitsakteur – 9
6.2. Die Paramilitarisierung der südafrikanischen Polizei – 10
7. Das Massaker von Marikana – 12
7.1. Vorgeschichte, Verlauf und Aufarbeitung – 12
7.2. Der Bezug zu Europa – 14
8. Die Externalisierung extraktivistischer Gewalt – 15
Anmerkungen – 16
Ganze Studie hier herunterladen

Ähnliche Artikel 



Prozessbeginn am 18. Dezember 2018 in Hamburg // Solidarität mit den Frankfurter/Offenbacher G20-Gefangenen!


30.10.18
g20.Lasst unsere_Leute_frei-212x300Razzien am Main
Am Morgen des 27. Juni kam es bundesweit zu einer weiteren Durchsuchungswelle bei Anti-G20-Aktivist*innen. In Frankfurt und Offenbach wurden vier Personen durch die Polizei nach Hamburg verschleppt.
Den jungen Männern wird vorgeworfen, sich an Aktionen freitagmorgens in der Hamburger Elbchaussee beteiligt zu haben. Zwei der Festgenommen waren zum Tatzeitpunkt noch unter 18 Jahre alt und gelten somit vor dem Gesetz als so genannte Heranwachsende. Auf dieser Grundlage konnte erreicht werden, dass zumindest die Haftbefehle für die beiden Jugendlichen außer Vollzug gesetzt wurden. Diese mussten allerdings ihre Pässe abgeben und sind verpflichtet, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden. Die beiden volljährigen Männer befinden sich seitdem jedoch in Untersuchungshaft im Hamburger Gefängnis Holstenglacis.
Der Staat teilt aus
Die Anklage ordnet die Beschuldigten willkürlich dem Komplex Elbchaussee zu, um in der Öffentlichkeit „Schuldige“ präsentieren zu können und die Rechtsbrüche und die massive Polizeigewalt gegen Demonstrant*innen während der G20-Protestwoche zu kaschieren. Die harten Urteile, die bislang nach G20 gefällt wurden, reihen sich ein in die Faschisierung der Staatsapparate, am deutlichsten sichtbar in den neuen Präventiv- und Polizeigesetzen (etwa das bayerische PAG). Hinzu kommen die innere Aufrüstung und immer ausgedehntere Überwachung sowie die politische Repression und die harten Strafen gegen alle, die sich gegen die herrschenden Verhältnisse wehren.
Angesichts der verhältnismäßigen Stille bei Angriffen auf Geflüchtete(nunterkünfte), bei abertausenden Toten im Mittelmeer etc. erscheint es doch mehr als verwunderlich welche Empörung ein paar zerstörte Scheiben und Autos hervorrufen. Dass schon am selben Abend den Geschädigten eine Zahlung von 40 Millionen Euro zugesichert wurde (zum Vergleich: den Angehörigen der Opfer des NSU wurde nach jahrelanger Schikane, Kriminalisierung und Stigmatisierung insgesamt(!) eine Million Euro Entschädigung gewährt), verdeutlicht die massive Diskrepanz bei der Wahrnehmung des Wertes von Menschenleben im Vergleich zu Waren und Konsumgütern.
Vorwürfe? Kollektiv- und Kontaktschuld!
Der Zynismus von Polizei und Justiz ist in Anbetracht der Vorwürfe unerträglich. Am frühen Morgen des ersten Gipfeltages machten einige hundert Aktivist*innen ihrer Wut über die bestehenden Verhältnisse Luft und verdeutlichten ihre Unversöhnlichkeit unter anderem durch das Entglasen von Konsulaten, Banken und Ämtern und das Anzünden von Autos in der im Villenviertel gelegenen Elbchaussee. Obwohl es keinerlei polizeiliche Foto- oder Videoaufnahmen von den Geschehnissen gibt, hat die Polizei nun vier junge Männer aus dem Rhein-Main-Gebiet als vermeintliche Täter präsentiert. Die Vorwürfe – Brandstiftung, Landfriedensbruch und gefährliche Körperverletzung – basieren auf einem „Bewegungsprofil“, das die Polizei über die vier erstellt haben will: Sie habe die Gruppe auch zu anderen Gelegenheiten in Hamburg beobachten können, so etwa ganz ohne schwarze Vermummung beim Bäcker in Altona. Konkrete Taten werden ihnen nicht vorgeworfen, außer dass sie vor Ort gewesen sein sollen und einer der Beschuldigten eine Mülltonne auf die Straße gezogen habe. Es ist offensichtlich, dass es hier darum gehen soll, Menschen von künftigem politischem Protest abzuhalten und eine ganze Bewegung einzuschüchtern, indem Einzelne drakonisch bestraft werden.
Isolationshaft und Willkür
Die Absurdität der Vorwürfe knüpft an die bisherigen G20-Prozesse an, genauso wie die Anordnung von U-Haft wegen der angeblichen „Schwere der Tat“ und vermeintlicher „Fluchtgefahr“. Dazu die Schikanen, die die zwei im Knast ertragen müssen: Der jüngere war in den ersten drei Tagen durchgehend eingesperrt. Erst danach bekam er eine Stunde Hofgang täglich. Seitdem wurde seine Zelle mindestens viermal ohne Angabe von Gründen durchsucht und er selbst wiederholt spontanen Leibesvisitationen unterzogen. Die einzige Möglichkeit, die ihnen gelassen wird, um aus der Zelle raus zukommen und soziale Kontakte zu haben, ist, im Knast zu arbeiten. Auch wenn sich manches inzwischen gelockert hat, durften die beiden sich bis heute nicht sehen und sind immer wieder wahllosen Schikanen und der Willkür der Schließer ausgesetzt. Diese nannten als Begründung nur: „Weil wir es können“.
Druck machen!
Ganz offensichtlich dienen diese Haftbedingungen dazu, Druck auf die zwei auszuüben und sie zu Aussagen zu bewegen. In Anbetracht der mangelhaften Beweislage gegen sie ist das kein Wunder. Auch eine weitere Person sitzt seit Oktober ebenfalls im Hamburger Holstenglacis in Untersuchungshaft, nachdem sie per Europäischem Haftbefehl von Frankreich ausgeliefert wurde. Auch ihr werden Straftaten im Zusammenhang mit den Aktionen auf der Elbchaussee vorgeworfen. Die Polizei möchte nach mehr als einem Jahr Arbeit der eigens eingerichteten SoKo „Schwarzer Block“ gern Ergebnisse vorweisen, und das heißt „Schuldige“ bestrafen. Machen wir es den Inhaftierten leichter im Knast und erzeugen wir unsererseits Druck auf die Behörden! Der Prozess gegen alle vier Beschuldigten beginnt am 18. Dezember. Obwohl vor dem Jugendgericht geführt, wird er öffentlich sein – und lange dauern: Es sind bereits 30 (dreißig!) Prozesstage bis Mai terminiert. Die Anklageschrift besteht weitgehend aus der Beschreibung von beschädigten Autos sowie einer Handvoll Indizien, dass die vier Beschuldigten irgendwie vor Ort gewesen sein sollen. Dieser Show-Prozess muss begleitet und kritisiert werden!
Schreibt Postkarten und Briefe, kommt zum Prozess und zeigt ihnen, dass wir sie mit dieser Repression nicht allein lassen! Wir werden weiter Post schicken, mit eurer Hilfe alle Prozesstage begleiten und „den Scheiß aufdrehen“ bis sie wieder frei sind. Der Grund dafür ist einfach: Weil wir es können.
Weitere Prozesstermine, immer ab 9:30 Uhr:
Dienstag 8. Januar 2019
Donnerstag 10. Januar 2019
Dienstag 15. Januar 2019
Weitere Termine folgen
Spendenkonto:
Rote Hilfe e.V. Ortsgruppe Frankfurt
IBAN: DE24 4306 0967 4007 2383 90
BIC: GENODEM1GLS
Verwendungszweck: G20
https://rhffm.blackblogs.org

Berufungsverfahren gegen NoG20 Aktivisten aus Bremen – Solidarität erwünscht!


29.10.18
g20 17.03-300x171Der Bremer NoG20 Aktivist Patrick hatte im Juni 2018 einen ersten Prozesstermin vor dem Amtsgericht Altona. Der Vorwurf lautete, er habe einen Stein auf Polizeibeamte geworfen und bei seiner Festnahme Widerstand geleistet.
Die Staatsanwaltschaft forderte 1 Jahr und 4 Monate OHNE Bewährung. Der Richter entschied jedoch auf Freispruch, da die vorgeworfenen Taten auch anhand des Videomaterials nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden konnten und die Zeugenaussagen der Cops widerspüchlich waren. Die Staatsanwaltschaft legte daraufhin Berufung ein und nun geht der Prozess in die zweite Instanz. Am 26.11. um 9.15 Uhr muss Patrick erneut vor Gericht erscheinen. Wir würden uns sehr über eine solidarische Prozessbegleitung freuen.
United we stand!
26.11.18
9.15 Uhr
Amtsgericht Mitte
Sievekingplatz 3
Raum 162

Thomas Meyer-Falk: “JVA Freiburg vor personellem Kollaps?”


29.10.18
freiburgDie personelle Situation in der Justizvollzugsanstalt Freiburg ist aktuell so angespannt, dass regelmäßig behandlerische Maßnahmen ebenso entfallen, wie Freizeitangebote und sogar die Anstaltsbetriebe vorzeitig schließen müssen. Bedienstete sprechen von „gefährlichen Zuständen“, einer fast nicht mehr beherrschbaren Situation.
Oktober 2018
Zum wiederholten Male wurden am 19. Oktober die Gefangenen um 11 Uhr ins vorzeitig beginnende Wochenende geschickt. In der Strafanstalt gibt es um 11:45 Uhr Mittagessen, danach eine Stunde Spaziergang im Hof und anschließend werden alle Zellen verschlossen. „Einschluss!“ – bis zum nächsten Morgen um 8:05 Uhr.
Freizeitgruppen, schulische Angebote, die in der Freizeit durchgeführt werden, behandlerische Gruppen, alles entfällt. Die massive Unruhe unter den Gefangenen ist mit Händen greifbar, denn ein vorzeitiger „Feierabend“ bedeutet unmittelbar einen herben finanziellen Verlust, da der sowieso sehr spärliche Knastlohn von ca. 200 € noch schmaler ausfällt, denn die fehlenden Arbeitsstunden werden finanziell nicht entschädigt. Ferner verbringen die Gefangenen dann noch mehr Zeit isoliert in ihren winzigen Zellen, zu zweit zusammengepfercht auf weniger als 10 m², die Kloschlüssel nur durch eine Holzwand und einen Vorhang notdürftig abgetrennt. Auch in Folge dieser beengten Situation kommt es vermehrt zu Schlägereien.
Der Hintergrund
Wie Bedienstete berichten, hätte eine verfehlte Personalpolitik des baden-württembergischen Justizministeriums zu der jetzigen Krisensituation geführt. Der Strafvollzug sei personell nicht nur „auf Kante genäht“, sondern mittlerweile würden auch die letzten Sicherheitsfäden reißen.
Zum einen gibt es Bedienstete im uniformierten Dienst, die mittlerweile schlicht ausgebrannt seien, angesichts der zahllosen Überstunden, der Unplanbarkeit des Lebens, da man immer öfter an eigentlich freien Tagen zum Dienst beordert werde. Dies beschert der Anstalt dann einige „Dauererkrankte“ und mitunter steht morgens der Dienstleiter da und ist zusätzlich mit spontanen Erkrankungen konfrontiert.
Und zum anderen seien einige Bedienstete derart frustriert, dass sie sich bei anderen Behörden bewerben würden; so habe sich eine zweistellige Zahl der Freiburger Vollzugsbeamten beim Zoll beworben und werde mit hoher Wahrscheinlichkeit die Anstalt verlassen. Was freilich die Krise verschärfen dürfte, denn – wie das im Bürokratendeutsch so nett heißt – „unplanmäßige Abgänge“ sind nicht eingeplant, so schnell wie Bedienstete die Anstalt verlassen, wird kein Ersatz eingestellt werden können.
Der Sozialdienst
Mit den Engpässen hat freilich nicht nur der uniformierte Dienst zu kämpfen, sondern auch der Sozialdienst der Anstalt. Der Personalschlüssel lässt zumindest im Strafhaftbereich kaum eine sinnvolle, an den einzelnen Insassen und auf deren Bedürfnisse eingehende Arbeit zu. Ein/e SozialarbeiterIn ist dort mitunter für über 100 Gefangene zuständig. Wenn man weiß, dass für jeden Insassen jährlich eine schriftliche und umfängliche Vollzugsplanung zu erstellen ist, für Anträge auf Entlassung Stellungnahmen zu verfassen sind, es zahlreiche Dienstbesprechungen abzuhalten gilt, Krisenintervention zu leisten ist, bleibt für eine tiefergehende Arbeit am und mit den Menschen kaum Zeit. Erkrankt dann noch ein/e Bedienstete/r kann es auch mal passieren, dass ein/e SolzialarbeiterIn für 150 Menschen zuständig ist. Für Menschen, die aufgrund ihrer besonderen Situation als Inhaftierte eigentlich ganz besonders auf Unterstützung angewiesen wären, eine untragbare und indiskutable Lage.
Auch der Bereich Sicherungsverwahrung (SV) ist betroffen; zwar herrscht hier ein geradezu „paradiesischer“ Personalschlüssel. Auf eine/n SozialarbeiterIn kommen maximal 16 Insassen (zum Vergleich: Wie oben erwähnt, in der Strafhaft sind es bis zu 10 mal so viele), aber da eine Sozialarbeiterin mit erheblichen gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hat und regelmäßig für Wochen erkrankt, muss deren Arbeit von ihren KollegInnen aufgefangen werden. In wenigen Wochen verlässt zudem Sozialarbeiter S. die SV: Erst gehe er in Elternzeit, wie er offen berichtete, danach ziehe er weg. So dass ab Dezember zwei Sozialarbeiterinnen die Arbeit von zuvor vier werden erledigen müssen. Denn bis Ersatz gefunden, sicherheitsüberprüft, eingestellt und eingearbeitet ist, wird Zeit ins Land gehen. Erst 2017 hat eine Sozialarbeiterin der SV-Abteilung ihr Heil bei der Bundeswehr gesucht und wurde dort als Offiziersanwärterin angenommen. Ein als Arbeitstherapeut Beschäftigter meinte ganz offen, das hier sei kein wirklicher Behandlungsvollzug und wechselte in eine psychiatrische Anstalt der Schweiz. Freiburg ist manchmal eine sehr kleine Stadt: Da saß dann ein ehemaliger Sozialarbeiter aus der SV-Anstalt, der obwohl er hätte verbeamtet werden können, lieber kündigte und die Anstalt verließ, mit Freunden am Tisch und erzählte von dem aus seiner Sicht praktizierten Verwahrvollzug, wohl nicht ahnend, dass mit am Tisch jemand sitzt, der mich kennt.
Aus Insassensicht ist es doch auch erleichternd, dann von (ehemaligen) Beschäftigten zu hören, dass die eigene Wahrnehmung über die desolate Situation hier nicht pure Einbildung ist.
Kritik von Uniformierten
Kritisch äußern sich vereinzelt männliche Vollzugsbeamte über den steigenden Teil weiblicher Kolleginnen, denn diese würden in überschaubarer Zeit doch „eh Kinder kriegen“, dann in Mutterschutz und Elternzeit gehen. Und wenn sie überhaupt zurückkämen, dann in Teilzeit mit einer 30 % oder einer 40 %-Stelle, aber letztlich damit eine Vollzeitstelle blockieren, da das Land für den anteiligen Stellenrest nicht neues Personal einstellen würde. So dass die vorhandene Belegschaft das alles stemmen müsse.
Sicherheitstechnisch sei zudem äußerst bedenklich, andere sprechen auch von konkreten Gefahren, dass Auszubildende (sogenannte SekretärsanwärterInnen) jeweils alleine Stationsdienst machen müssten, d.h. Stationen mit 50 oder 60 Insassen alleine betreuen. Man würde ja auch einem/einer Krankenpfleger/Schwester-Auszubildenden alleine keine Intensivstation übertragen. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis es da „krache“.
Rechtlich, so merkte ein Beamter an, sei es auch problematisch, wenn hoheitliche Aufgaben von noch nicht verbeamteten Azubis ausgeführt würden. Manche Bedienstete fürchten um die eigene Sicherheit, da das aggressive Klima auch Angriffe auf sie wahrscheinlicher mache.
Kritik von Insassen
Erst vor wenigen Tagen beschwerten sich lautstark Sicherungsverwahrte gegenüber der therapeutischen Leiterin der SV-Anstalt, Frau Dr. S. über die unmittelbaren Folgen der Personalknappheit: Kurzfristig abgesagte Ausführungen (d.h. das Verlassen der Anstalt unter Bewachung entfällt mitunter kurzfristig), oder Sport werden gestrichen, therapeutische Angebote entfielen (wodurch dann Gruppentherapien unverhältnismäßig lange dauern würden. Denn entfallene Sitzungstermine verschöben das Ende solcher Therapien immer weiter in die Zukunft). Was alles zusammen genommen letztlich eine Verlängerung der Haftzeit bewirke. Außerdem leide das Stationsklima, da immer mehr Bedienstete gefrustet seien. Ein Insasse empfahl dem Personal etwas wagemutig, sie mögen es wie ihr KollegInnen in Frankreich machen, nämlich streiken und vor dem Knasttor Reifen anzünden, dabei allerdings den rebellischen Geist des Personals etwas überschätzend.
Warum dieser Text heute?
Man könnte einwenden, weshalb macht jemand wie ich die Personalnot in einem Gefängnis zum Gegenstand eines ausführlichen Beitrages. Eigentlich müsse mir das doch recht sein, denn die Personalknappheit befördere eine Zuspitzung der Lage, könne vielleicht auch Aufstände auslösen, die Gefangenen dazu bewegen, die Freiräume zu nutzen um aufzubegehren. Derartiges wird aber wohl eher nicht passieren. Die Anstalt hat schon vor einigen Jahren „vorgesorgt“ und eine strikte Trennung einzelner Stationen untereinander eingeführt. Es wurde sogar der gemeinsame Hofgang beschränkt. Konnten noch 2013 und 2014 alle Gefangenen zusammen in den Hof, wurden nun mehrere verschiedene Hofgruppen eingeführt, so dass nie wieder alle Insassen zusammen unterwegs sein können. Die meisten Insassen sind in der Regel eingeschlossen; wenn die einen im Hof sind, sitzen sie in ihren engen Zellen. Gehen sie dann in den Hof, werden zuvor die anderen weggeschlossen. Was allerdings zunehmen wird sind Schlägereien in den Zellen oder auch auf den Fluren, denn eingepfercht in den kleinen Zellen steigt der Frust von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag.
Nicht wenige sprechen von einer Rückentwicklung zum Verwahrvollzug der 60’er Jahre. Weil also die personelle Situation unmittelbaren und vor allem negativen Einfluss auf die Lebenslage der Menschen hat, die hier leben müssen, sollte auch auf diese Seite des Vollzugslebens einmal hingewiesen werden. Freilich unterscheidet sich die prekäre personelle Situation, wie die nicht minder prekäre Lebenslage der Insassen hier im Freiburger Gefängnis nicht von derjenigen, die an den unterschiedlichsten anderen existenziellen Peripherien, beispielsweise Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäuser, vorzufinden ist.
Thomas Meyer-Falk, z. Zt. JVA (SV), Hermann-Herder-Str. 8,- D-79104 Freiburg
https://freedomforthomas.wordpress.com
http://www.freedom-for-thomas.de