Sonntag, 28. Oktober 2018

Brasilien: Verteidigung der Demokratie


INTERVIEW

Günter Pohl im Gespräch mit Manuela d’Avila

|    Ausgabe vom 26. Oktober 2018
Manuela d’Avila (m.) im Wahlkampf vor der Stichwahl (Foto: Karla Boughoff)
Manuela d’Avila (m.) im Wahlkampf vor der Stichwahl (Foto: Karla Boughoff)

Ma­nue­la d’Avila von der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei Bra­si­li­ens (PCdoB) wird als Vi­ze­prä­si­dent­schafts­kan­di­da­tin ge­mein­sam mit dem Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten der Ar­bei­ter­par­tei (PT), Fer­nan­do Had­dad, am kom­men­den Sonn­tag in die Stich­wahl gehen. UZ sprach mit ihr über die ak­tu­el­le Lage in Bra­si­li­en, über Sieg­chan­cen und den fa­schis­ti­schen Kan­di­da­ten Bol­so­na­ro.

UZ: Liebe Ge­nos­sin Ma­nue­la, wir be­glück­wün­schen dich und den Prä­si­dent­schafts­kan­di­da­ten Fer­nan­do Had­dad zum Er­rei­chen der Stich­wahl. Geg­ner ist der offen rechts­ex­tre­me Jair Bol­so­na­ro. Wer un­ter­stützt ihn, wel­che Rolle haben dabei Agrar­in­dus­tri­el­le, Mi­li­tär, Rüs­tungs­in­dus­trie und evan­ge­li­ka­le Grup­pen?

Ma­nue­la d’Avila: Die Kan­di­da­tur von Jair Bol­so­na­ro drückt die Ideen und Werte der kon­ser­va­tivs­ten Krei­se Bra­si­li­ens aus. Sie zeigt eine ex­tre­me Rech­te, die sich bei den letz­ten Prä­si­dent­schafts­wah­len nicht ge­traut hatte, sich so klar zu äu­ßern. Sie ver­steck­te ihre Kam­pa­gnen als „Zen­trum“ oder ma­xi­mal „Mit­te-Rechts“. Sogar trotz der pro­gram­ma­ti­schen Be­grenzt­heit Bol­so­na­ros, vor allem in der Wirt­schaft, haben ver­schie­de­ne Grup­pen ihn un­ter­stützt, als sich seine Kam­pa­gne als er­folg­ver­spre­chend gegen das de­mo­kra­tisch-fort­schritt­li­chen Lager aus dem Erbe von Lula und Dilma Rousseff ent­wi­ckel­te. An der Seite des fa­schis­ti­schen Kan­di­da­ten ste­hen nun die gro­ßen Me­di­en, der Fi­nanz­markt, die Wirt­schafts­eli­ten, vor allem des Agrar­busi­ness, sowie brei­te Sek­to­ren der Streit­kräf­te und der Evan­ge­li­ka­len.
Man muss be­to­nen, dass all diese Un­ter­stüt­zun­gen sehr par­ti­ku­lä­ren In­ter­es­sen die­nen. Die In­ves­to­ren glau­ben an das Ver­spre­chen Bol­so­na­ros, das Fi­nanz­mi­nis­te­ri­um an sei­nen Wirt­schafts­be­ra­ter Paulo Gue­des, einen ul­tra­li­be­ra­len Fan von Pri­va­ti­sie­run­gen und wenig Staat, zu geben. Die Groß­grund­be­sit­zer set­zen auf Ent­las­tung bei den Löh­nen, mehr Fle­xi­bi­li­sie­rung von Ar­beits- und Um­welt­vor­schrif­ten, die Er­leich­te­rung des Tra­gens von Waf­fen auf dem Land und eine pro­tek­tio­nis­ti­sche­re Po­li­tik. Bol­so­na­ro hat es ge­schafft, die zu­nächst skep­ti­schen Mi­li­tärs über eine ul­tra­kon­ser­va­ti­ve Korps­geist­li­nie, die an den Kal­ten Krieg er­in­nert, für sich zu ge­win­nen. Nicht zu­fäl­lig hat die Kam­pa­gne klar ge­sagt, dass eine Re­form der So­zi­al­sys­te­me die Pri­vi­le­gi­en der Mi­li­tärs aus­klam­mern würde.
Hinzu kommt ein op­por­tu­nis­ti­scher Dis­kurs gegen die Kor­rup­ti­on und „für die bra­si­lia­ni­sche Fa­mi­lie“ mit­tels tau­sen­der Fake-News-Bot­schaf­ten über die Me­di­en. Bols­ana­ros Kan­di­da­tur bringt die De­mo­kra­tie in Ge­fahr und zeigt in Rich­tung Bar­ba­rei.

UZ: Wie wirkt sich der Wahl­auf­ruf von Ciro Gomes für euch aus? Än­dert sich der Cha­rak­ter des Wahl­bünd­nis­ses? Wie gut schätzt du die Sieg­chan­cen ein?

Ma­nue­la d’Avila: Fer­nan­do Had­dad und Ciro Gomes haben kurz nach Be­kannt­ga­be der Er­geb­nis­se der ers­ten Runde te­le­fo­niert. Ciro und seine Par­tei, die PDT, haben an­ge­sichts der Ri­si­ken für unser Land durch Bol­so­na­ros Kan­di­da­tur Un­ter­stüt­zung für uns si­gna­li­siert. Das hatte Ge­wicht für uns, spe­zi­ell für den Nord­os­ten, wo Ciro gro­ßes Pres­ti­ge hat.
Unser Ideal war der Auf­bau einer Links­front, durch die Ko­ali­ti­on von PT, PCdoB und der „Re­pu­bli­ka­ni­sche Par­tei der so­zia­len Ord­nung“ (Pros). Aber in der zwei­ten Runde ist Had­dad, wegen der fa­schis­ti­schen Be­dro­hung, nun nicht mehr nur der Kan­di­dat der Lin­ken, son­dern eines brei­ten und his­to­ri­schen de­mo­kra­ti­schen La­gers, mit un­zäh­li­gen Par­tei­en, Be­we­gun­gen, In­sti­tu­tio­nen und Per­sön­lich­kei­ten. An­wäl­te und Ju­ris­ten haben ein Ma­ni­fest mit mehr als 1 500 Un­ter­schrif­ten für un­se­re Kan­di­da­tur her­aus­ge­bracht.
Un­se­re Platt­form der Ver­tei­di­gung der De­mo­kra­tie, der Frei­heit und der Wahr­heit stärkt sich zu­se­hends; so kön­nen wir am 28. Ok­to­ber noch ge­win­nen.
UZ: Wie ist die der­zei­ti­ge so­zia­le und wirt­schaft­li­che Lage in Bra­si­li­en? Wel­che Rolle spielt die Kor­rup­ti­on tat­säch­lich?

Ma­nue­la d’Avila: Die Kor­rup­ti­on ist eine Kon­stan­te in der bra­si­lia­ni­schen Ge­sell­schaft. Wer nicht un­ter­sucht wird, wird nicht be­straft – aber sie dient doch immer als Vor­wand für Ma­nö­ver und Staats­strei­che. So ge­sche­hen mit den frü­he­ren Prä­si­den­ten Getúlio Var­gas, João Goul­art, Lula da Silva und Dilma, die sich weder an der Po­li­tik be­rei­chert hat­ten noch kor­rup­te Prak­ti­ken hat­ten, aber un­er­bitt­lich ver­folgt wur­den.
Mit der Ver­fas­sung von 1988 schuf Bra­si­li­en Me­cha­nis­men zur Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung. Da­nach war es zwei­fel­los die Re­gie­rung Lula, die die meis­ten Maß­nah­men gegen il­le­ga­le Be­rei­che­rung an öf­fent­li­chen Gel­dern durch­setz­te. Kon­troll­or­ga­ne wur­den ge­stärkt, was er­mög­lich­te, dass noch mehr Ver­fah­ren ein­ge­lei­tet und Ver­bre­chen be­straft wur­den. Trotz der Fort­schrit­te hat­ten wir kei­nen ge­nü­gen­den Er­folg. Wie Fer­nan­do Had­dad sagt, sind die staat­li­chen Be­trie­be we­ni­ger ge­schützt als die Mi­nis­te­ri­en – und die Kor­rum­pie­ren­den, vor allem die Un­ter­neh­mer, ge­nie­ßen of­fen­sicht­lich mehr Pro­tek­ti­on bei ihren dunk­len Ver­ein­ba­run­gen mit der Jus­tiz, für die es oft keine Be­wei­se gibt. Als PCdoB sind wir dafür, dass nach allen Be­wei­sen und nach allen In­stan­zen die Schul­di­gen be­straft wer­den müs­sen, ohne Aus­nah­me.
Un­se­re Geg­ner haben das Thema ge­nutzt, um eine mehr mo­ra­li­sche als pro­gram­ma­ti­sche Wahl­kam­pa­gne zu füh­ren. Bol­so­na­ro selbst hat ein Re­gie­rungs­pro­gramm vor­ge­stellt und be­tont, dass er zu kei­ner De­bat­te vor der Stich­wahl be­reit ist. Zur Kor­rup­ti­ons­be­kämp­fung gibt es kei­ner­lei Vor­schlag von ihm. Nach etwas mehr als zwei Jah­ren wirt­schaft­li­cher Re­zes­si­on und einem Staats­streich, der eine ge­wähl­te Prä­si­den­tin aus dem Amt warf, wol­len un­se­re Kon­kur­ren­ten nicht über einen kon­kre­ten Aus­weg für unser Land reden. Wir sind in einer tie­fen po­li­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und ge­sell­schaft­li­chen Krise, mit über zwölf Mil­lio­nen Ar­beits­lo­sen, stei­gen­der Ver­schul­dung der Fa­mi­li­en, De­indus­tria­li­sie­rung und Se­mis­ta­gna­ti­on des BIP. Wenn es nach Bol­so­na­ro – und auch gro­ßen Tei­len der Me­di­en – geht, dann wird nichts davon gründ­lich de­bat­tiert.
UZ: Wie be­wer­test du die vier­zehn­jäh­ri­ge Re­gie­rungs­zeit der PT?

Ma­nue­la d’Avila: Die Re­gie­run­gen Lula und Dilma Rousseff (2003 bis 2016) waren von einer Reihe his­to­ri­scher Fort­schrit­te ge­kenn­zeich­net, vor allem beim Kampf gegen die ge­sell­schaft­li­che Un­gleich­heit. Wir haben 20 Mil­lio­nen Ar­beits­plät­ze ge­ne­riert, eine Po­li­tik der Wert­stei­ge­rung des Min­dest­lohns ein­ge­führt, wir spran­gen von drei auf acht Mil­lio­nen Uni­ver­si­täts­stu­die­ren­der, wir haben die Kin­der­sterb­lich­keit auf fast Null re­du­ziert.
Bis 2014 war das Wirt­schafts­wachs­tum be­stän­dig und er­mög­lich­te eine In­ves­ti­ti­ons­po­li­tik bei öf­fent­li­chen Bau­ten der In­fra­struk­tur, der städ­ti­schen Mo­bi­li­tät und bei Woh­nun­gen. Die so­ge­nann­te „ak­ti­ve und stol­ze“ Au­ßen­po­li­tik hat die Rolle Bra­si­li­ens in der Geo­po­li­tik an­ge­ho­ben. Wir waren Aus­tra­gungs­ort der Fuß­ball-WM und der Olym­pi­schen Spie­le in­ner­halb von ge­ra­de zwei Jah­ren – bis dato hatte es das nicht ge­ge­ben in einem Staat der süd­li­chen He­mi­sphä­re.
Die PCdoB, selbst in der Re­gie­rung, un­ter­ließ es nie, auf Wi­der­sprü­che hin­zu­wei­sen. Wir waren zum Bei­spiel gegen die hohen Zin­sen und immer haben wir de­mo­kra­ti­sie­ren­de Re­for­men ein­ge­for­dert, die nicht kamen. 2018 die Wah­len zu ge­win­nen wäre eine Ge­le­gen­heit, auf den er­folg­rei­chen Weg zu­rück­zu­keh­ren, ohne die jetzt noch drin­gen­de­re For­de­rung nach struk­tu­rel­len Än­de­run­gen zu ver­ges­sen.

UZ: Mit wel­chen In­hal­ten tritt die PCdoB im Wahl­kampf auf und wo un­ter­schei­det sie sich von der PT?

Ma­nue­la d’Avila: Als ich Vor­kan­di­da­tin zur Prä­si­dent­schaft war, stell­te die PCdoB ein pro­gram­ma­ti­sches Ma­ni­fest vor. Aber An­fang Au­gust, als wir uns mit der PT zu­sam­men­ta­ten, haben wir die Vor­schlä­ge von allen Sei­ten her de­bat­tiert und kamen zu einer ge­mein­sa­men Platt­form von gro­ßem Kon­sens. Die PCdoB half unter an­de­rem dabei, eine pro­gres­si­ve­re und ge­rech­te­re Steu­er­re­form zu ent­wer­fen, gleich­zei­tig wur­den Frau­en­rechts­vor­schlä­ge ge­macht. Zu­letzt kün­dig­te Had­dad an – mit un­se­rer Zu­stim­mung –, dass es der­zeit nicht an­ge­mes­sen sei, eine Ver­fas­sung­ge­ben­de Ver­samm­lung ein­zu­be­ru­fen.

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