Donnerstag, 27. Juni 2019

Industriepark Oberelbe: Brauchen wir einen Industriepark am Feistenberg?



Die Städte Pirna, Heidenau und Dohna gedenken, am Feistenberg entlang des Autobahnzubringers B172a auf einer Fläche von 150 Hektar den "Industriepark Oberelbe" zu errichten.
Was spricht für den Industriepark Oberelbe?
  1. Ohne neue Jobs überaltert die Region
  2. Die Wirtschaftsstruktur ist nicht ausgewogen 
  3. Das Lohnniveau muss angehoben werden 
  4. Die Kommunen brauchen mehr Steuereinnahmen 
  5. Handel ist auf Kaufkraft angewiesen 
Im verlinkten Artikel der Sächsischen Zeitung wird ausführlich zu den oben genannten Punkten beschrieben, welche Gründe für den Bau des Industrieparks Oberelbe sprechen.
Was spricht gegen den Industriepark Oberelbe?
  1. Das Landschaftsgebiet ist schon durch den Bau der A17 und der B172a stark betroffen und würde mit dem Bau des Industrieparks nachhaltig vollkommen verändert und somit versiegelt werden.
  2. Mensch und Tier sollen einen riesigen Industriepark billigen und versuchen sich damit zu arrangieren. Schon jetzt gibt es durch den abgeschlossenen Bau der A17 und der B172a keine ausreichenden Rückzugsmöglichkeiten für Tiere vieler Arten. Die Trassen bilden Barrieren und zerschneiden die Landschaft. An den Rändern der Autobahn wurden bescheidene Buschreihen an Hängen gepflanzt. Leider sind diese auch umzäunt. Tiere durchbrechen die Barrieren. Dies zeigt, wie sehr die Tiere unter dem Mangel eines Rückzugsgebietes leiden. Das betreffende Gebiet wird bis zum Bau des IPO von konventioneller Landwirtschaft genutzt. Eine weitere Zersiedlung der Landschaft wird keine Verbesserung des Lebens der Menschen und erst recht kein Überleben der Artenvielfalt von Tieren und Pflanzen darstellen.
  3. Zudem ist ein Lärmschutz an der A17 im Bereich Großsedlitz quasi nicht vorhanden. Seit Jahren sind die Anwohner, besonders in der Nacht, vom Lärm der Autobahn beeinträchtigt. Die Lebensqualität ist gesunken. Mit dem Bau des IPO wird der Lärm zunehmen und Luftqualität weiter verschlechtert.
  4. Ein erhöhtes Verkehrsaufkommen und der damit verbundene Lärm und die Luftverschmutzung wird steigen.
  5. Das Gebiet, das für den Bau des Industrieparks vorgesehen ist, liegt in einer Frischluftschneise, die weite Teile Pirnas mit Kalt- bzw. Frischluft versorgt. Mit dem Bau des IPO würde dies nachhaltig gestört werden.
  6. Versiegelung von 150 Hektar Fläche.
  7. Es besteht weder bezahlbarer Wohnraum, noch die verfügbare Fläche um bezahlbaren Wohnraum für die zusätzlichen Einwohner zu schaffen.
  8. Der öffentliche Nahverkehr bietet zum jetzigen Zeitpunkt keine Pendelmöglichkeit für Beschäftigte des IPO.
  9. Ein Industriepark neben dem Barockgarten Großsedlitz?
Meiner Meinung nach ist das Projekt IPO keine Chance für die Region, es bedeutet nur den weiteren Werteverlust für die hier lebende Bevölkerung.  Niemand kann sich sicher sein, dass die risikoreiche Verwendung von mehr als 100(!) Millionen Euro Steuergelder zum Erfolg führen wird. Zudem treffen einige wenige Politiker und deren Stadträte riskante, irreversible Entscheidungen ohne die Meinung und Zustimmung der Bevölkerung einzuholen. Diese wird erst informiert, wenn „Tatsachen“  geschaffen wurden. Als bestes Beispiel ist der Vorentwurf des FNP der Stadt Heidenau zu nennen.
Was können wir tun?
Der beste Weg ist ein Dialog zwischen den Verantwortlichen des Projektes und den Bürgern der Region. Im Rahmen dieses Dialoges sollen die Vorteile und Nachteile erörtert und gemeinsam diskutiert werden. Wir, die Bürger der Region, sollten dann gemeinsam mit den Verantwortlichen Entscheidungen über das Schicksal des Projektes treffen und dies noch bevor größere Summen an Steuergeldern für das Projekt gebunden werden.
Welche Alternativen wären denkbar?
  1. Teile des Gebietes sollten renaturiert werden , d.h. einen Teil aufforsten und Gewässer anlegen, also eine Basis für die hier lebenden Tiere schaffen.
  2. Umbau der vorhandenen konventionellen Landwirtschaft in eine ökologische Landwirtschaft. Den Landwirten, die den Schritt in die richtige Richtung sollte eine anfängliche Unterstützung in Form Finanzierungsmöglichkeiten angeboten werden. Landwirtschaft ohne Gift funktioniert gibt es bereits und sie funktioniert. Wir können der Natur ein Stück zurückgeben. Wir sollten es sogar.
  3. Einige Streuobstwiesen anlegen, die ebenfalls zur Erhaltung der Artenvielfalt beitragen und den Menschen in der Region mit frischem Obst versorgt.
  4. "Kleinere" Gebiete zur Erschließung von Gewerbe und Industrie ausweisen, mit der  Vorgabe ein "Ausgleich" für ihre umweltbelastenden Verfahren zu schaffen. Stets umschlossen von großzügig angelegten Mischwald.
  5. Bereits bestehende Straßen ausbauen, d.h. umweltbewusste Gestaltung von Fahrtwegen und Schaffung von (Unter-)Querungsmöglichkeiten für die in der Region lebenden Tiere.
Wird es nicht Zeit, dass Sie wir und vor allem Sie, liebe Verantwortlichen des Projektes, aus Fehlern lernen und die Zukunft gemeinsam gestalten? Viele Bürger und Bürgerinnen dieser Region haben Ideen und möchten sich mit diesen einbringen. Wir, die Bürger, wollen respektiert werden. Wenn niemand mit uns kommuniziert, wie sollen wir eventuelle Vorteile des Projektes verstehen?
Gern stehe ich für Rückfragen zur Verfügung und stelle Kartenmaterial bereit. Wenn jemand Ideen, Anregungen oder Kritik mitteilen möchte, so bitte ich darum einen Kommentar zur Petition zu verfassen.
Informationsquellen:
Ein satirischer Kommentar zum Industriepark Oberelbe.
Im geplanten IPO der Kommunen Pirna, Dohna und Heidenau dürfen Industrieanla-gen gemäß der 4.Bundesimmissionschutzverordnung (4.BIDSchV, Anlage 1) gemäß der § 19 (mit Öffentlichkeitsbeteiligung) und § 10 (ohne Öffentlichkeitsbeteiligung) angesiedelt werden. Ein Ausschluss spezieller Industrieanlagen erfolgte durch die IPO-Planer bisher nicht. Unter die genehmigungsfähigen Anlagen fallen neben Müll-verbrennung, Tierkörperverwertung, Kraftwerke und Chemieanlagen jeder Art, La-gerung gefährlicher Stoffe auch industrielle Tiermastanlagen, so z.B. für mehr als 40.000 Stück Mastgeflügel oder auch mehr als 2000 Mastschweine. Es ist bekannt, dass der IPO zum großen Teil in einem für Pirna wichtigen Kaltluftentstehungsgebiet errichtet werden soll, dessen Luft sich selbst bei Windstille in die Talregion von Pir-nas Stadtzentrum bewegt. Nun könnte man meinen, es sei Geschmacksache, ob den Pirnaern die zu erwartende „würzige Landluft“ industrieller Tiermastanlagen zusagt oder nicht. (Die Einwohner von Krebs wissen schon lange, wovon hier die Rede ist.) Nein, hier handelt es sich um handfeste gesundheitsgefährdende Szenarien: Das aus Mastställen entweichende gasförmige Ammoniak (NH3) ist insgesamt für 45% an der Feinstaubbildung beteiligt, so dass in Gebieten solcher ländlicher Emissionen die Feinstaubbelastung ähnlich hoch ist wie im Zentrum von Großstädten (s. z.B. ARD, Monitor vom 17.1.19) Hinzu kommt die Feinstaubbelastung durch den Autobahnzu-bringer und der Südumfahrung. Dieser Schadstoffmix würde also ständig aus westli-cher Richtung über die Wohngebiete am Feistenberg und am Postweg in die Pirnaer Tallage hinab wabern. Bundesweit verursacht dies statistisch 50.000 vorzeitige To-desfälle pro Jahr, besonders bei ohnehin Lungen- und Herzkreislauf belasteten Ein-wohnern, die Erkrankungen als solche nicht mit gerechnet. Und in Pirna?

Bündnis 90/Die Grünen Pirna

Unterkunft im Land der Vorurteile

Sachsens Ausländerbeauftragter legt erneut den »Heim-TÜV« zu Unterkünften Geflüchteter vor



  • Von Hendrik Lasch
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  • Lesedauer: 3 Min.
    • In Sachsen werden männliche und allein reisende Geflüchtete überproportional häufig in Unterkünften außerhalb der großen Städte untergebracht. Das geht aus dem jüngsten »Heim-TÜV« hervor, den sächsische Ausländerbeauftragte seit 2010 herausgeben. Die Autoren der aktuellen Studie halten diese Verteilung für problematisch. Männlichen Migranten zeichneten sich teilweise durch ein »höheres Aggressivitätsniveau« aus, würden aber ausgerechnet in Regionen geschickt, in denen es große politische und kulturelle Vorbehalte gegen Zuwanderer gibt. Sie böten damit eine ideale »Projektionsfläche« für das, was in dem Papier als »migrationskritische und integrationsskeptische« Position bezeichnet wird.
      Die Studie untersucht Zustände in 100 von insgesamt 120 Gemeinschaftsunterkünften, die von Landkreisen und kreisfreien Städten betrieben werden. In diesen lebten zuletzt 8600 Geflüchtete, davon 20 bis 25 Prozent Frauen. In einem Drittel der Heime wohnen gar keine Frauen, in weiteren 56 Prozent sind es weniger als ein Drittel. Der Anteil von Familien liegt in 37 Prozent der Unterkünfte bei null und in weiteren 16 Prozent bei unter einem Drittel. Geflüchtete Familien mit Kindern werden von den Behörden »bevorzugt« in die drei Großstädte Leipzig, Dresden und Chemnitz geschickt, heißt es.
      Das sei einerseits eine »nachvollziehbare Entscheidung«, sagt der Politikwissenschaftler Christoph Meißelbach von der TU Dresden, einer der Autoren der Studie: In Dresden, Leipzig und Chemnitz seien die nötige Infrastruktur und soziale oder pädagogische Angebote besser verfügbar. Zugleich wies er aber auf »Anschlussprobleme« durch die unausgewogene Verteilung hin, die der Integration und Aufnahmebereitschaft zuwiderliefen. Zudem sei angesichts der demografischen Entwicklung in ländlichen sächsischen Regionen zu überlegen, ob man Familien mit guter Bleibeperspektive nicht gezielt gerade dort ansiedeln sollte.
      Generell seien die Gemeinschaftsunterkünfte »keine ideale Unterbringungsform«, betont Sachsens Ausländerbeauftragter Geert Mackenroth. »Dezentrale Unterkünfte fördern die Integration besser«, sagt der CDU-Politiker und ehemalige Justizminister. Der Sächsische Flüchtlingsrat merkt an, dass die Gesetze im Freistaat diese Erkenntnis nicht widerspiegelten. Dort seien Gemeinschaftsunterkünfte noch immer als bevorzugte Form der Unterbringung festgeschrieben, sagt der Vize-Geschäftsführer Thomas Hoffmann dem »nd«. Selbst dort, wo sich Kommunen für eine dezentrale Unterbringung entschieden, gebe es große Unterschiede. Während sich Geflüchtete in Leipzig selbst eine Wohnung suchen könnten, würden in Dresden »Zwangs-Wohngemeinschaften« gebildet; in Bautzen seien teils sogar die Schlafzimmer gemeinschaftlich.
    • Der »Heim-TÜV« wurde 2010 vom damaligen Ausländerbeauftragten Martin Gillo ins Leben gerufen. Mit dieser Untersuchung über die Zustände in Unterkünften für Geflüchtete hebt Sachsen sich von anderen Bundesländern ab. Systematische Studien in diesem Bereich sind eher selten. Ein Mitautor des aktuellen Berichts war der rechtskonservative Werner Patzelt, der vielfach als Pegida-nah kritisiert wurde. Patzelt, der sich in der Vergangenheit für eine Koalition von CDU und AfD ausgesprochen hatte, war Lehrstuhlinhaber an der TU Dresden.
      In früheren Ausgaben bewertete der Bericht die Heime mit einem Ampelsystem. Darauf wird inzwischen verzichtet. Gleichwohl zeigt die Studie, dass es in 10 bis 20 Prozent der Heime in hygienischer oder baulicher Hinsicht »Nachbesserungsbedarf« gibt. Der Erhebung zufolge werden vor allem die Heime außerhalb der Großstädte von privaten Unternehmen betrieben, die Gewinne erwirtschaften wollen. Laut Mackenroth sei »nicht auszuschließen«, dass dabei die Sozialarbeit oder nötige Renovierungsarbeiten teils »auf der Strecke bleiben«. In den Großstädten seien dagegen häufiger Non-Profit-Organisationen, etwa das DRK oder Wohlfahrtsverbände, als Betreiber unter Vertrag genommen worden. Mackenroth weist darauf hin, dass Kommunen häufig dem preiswertesten Anbieter den Zuschlag erteilen, auch, um Rechtsstreits zu vermeiden. Das Vergabegesetz in Sachsen stehe dem nicht entgegen.
      Bei weiteren Auflagen des »Heim-TÜV« soll erstmals auch die Perspektive der Geflüchteten einbezogen werden. Befragungen seien »fertig konzipiert«, sagt Meißelbach. Ob sie durchgeführt werden, werde vom Amtsverständnis seines Nachfolgers abhängen, sagt Mackenroth. Und wohl auch von der politischen Ausrichtung der nächsten sächsischen Regierung.
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Kielerin Carola Rackete lässt sich durch Roms Haftandrohung nicht verschrecken

Kapitänin bietet Salvini die Stirn

Lampedusa. Sie bietet dem italienischen Innenminister Matteo Salvini die Stirn, um 42 Menschen in Sicherheit zu bringen. Auch eine Haftandrohung und diverse andere im Raum stehende Strafen können sie nicht verschrecken: Die 31-jährige Kapitänin Carola Rackete aus Kiel, die mit dem Rettungsschiff »Sea-Watch 3« gegen die Anweisungen der Regierung in Rom in italienische Hoheitsgewässer eingefahren ist, sagt: »Wir tun das Richtige«.
Für ihre jungen Jahre hat Rackete schon erstaunlich viele Erfahrungen gesammelt. Nach meereskundlichen und umweltwissenschaftlichen Studien in Deutschland und Großbritannien war sie zu Polar-Expeditionen in der Arktis und der Antarktis unterwegs. Sie findet diese Kältezonen »schön und sehr inspirierend«, zugleich nimmt sie von den Polarreisen die »traurige« Erkenntnis mit, »was Menschen dem Planeten antun«.
Lesen Sie auch: »Uns drohen 20 Jahre Knast.« Wer in Italien »Beihilfe zur illegalen Einwanderung« leistet, wird hart bestraft. Auch Seenotretter sollen kriminalisiert werden. Hendrik Simon ist einer davon.
Doch nach Racketes Überzeugung tun die Menschen nicht nur ihrem Planeten viel an, sie fügen sich auch »gegenseitig Schaden zu«. So schaue die europäische Bevölkerung zu, wie die europäischen Regierungen am Mittelmeer eine Bastion gegen Flüchtlinge errichteten.
Für die Unzufriedenheit in Italien über den Umgang mit der Flüchtlingsproblematik hat Rackete Verständnis. Es gebe in der EU »eine Ungerechtigkeit«, weil es Italien überlassen worden sei, mit den Flüchtlingen zurechtzukommen. Eine »viel größere Ungerechtigkeit« bestehe aber zwischen der Nord- und der Südhalbkugel der Erde.
Auf ihrer gegenwärtigen Mission nahm die »Sea-Watch 3« am 12. Juni vor der Küste Libyens 53 Flüchtlinge an Bord. Elf Kinder, Frauen und Gebrechliche durften zwischenzeitlich nach Italien gebracht werden, die übrigen sind immer noch auf engstem Raum mit den 22 Besatzungsmitgliedern auf dem Mittelmeer unterwegs.
Die Besatzung arbeitet ehrenamtlich, so wie auch Kapitänin Rackete, die im Sommer 2016 ihre erste Mission für die Hilfsorganisation Sea-Watch übernahm. Damals ergänzten sich zivile Seenotretter und eine Flottille von europäischen Militärbooten dabei, die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu bergen. Inzwischen wurde die staatliche Seenotrettung zurückgefahren, geblieben sind private Hilfseinsätze.
Auf Seenotrettung besteht nach Racketes Meinung ein unumstößliches Recht. »Es spielt keine Rolle, wie jemand in Not gerät - da können auch Feuerwehren und Krankenhäuser nicht nach fragen«, sagt Rackete mit entschlossenem Blick. Ebenso sei es auf hoher See: »Wenn Rettung benötigt wird, hat jeder einzelne die Verpflichtung zu helfen. Diese Pflicht endet erst, wenn die Betroffenen in Sicherheit gebracht sind.«
Mit dem Regierungsantritt von Salvinis Rechtspopulisten im Juni 2018 habe Italien seine Verpflichtungen über Bord geworfen, befindet Rackete. Widerstand komme nun vor allem aus der Zivilgesellschaft. Sie habe die »Fähigkeiten« und das »Privileg«, den Flüchtlingen in ihrer derzeitigen Lage »wirklich zu helfen«.
»Wenn mich jemand anklagt, bin ich bereit, ins Gefängnis zu gehen«, sagt Rackete trotzig. Als die Hafenbehörde von Lampedusa ihr am Mittwoch einschärfte, sie habe keine Genehmigung zum Einlaufen, antwortete sie knapp: »In zwei Stunden sind wir da.«
Dann fuhr ein Patrouillenboot der Polizeitruppe Guardia di Finanza heran. Die Beamten kontrollierten die Schiffspapiere und die Pässe der Crew. Am Donnerstag herrschte Ungewissheit, wie das Kräftemessen ausgehen würde - hier die 31-jährige Sea-Watch-Kapitänin dort der Heißsporn Salvini der, Ironie des Schicksals, von seinen Anhängern ebenfalls voller Verehrung »Kapitän« genannt wird. AFP
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Berliner Stadtentwicklungssenatorin kann sich moderate Mieterhöhungen vorstellen

Mietendeckel mit etwas Spiel

Der geplante Berliner Mietendeckel stößt bundesweit auf Interesse. »Es gab Anfragen von meiner Amtsschwester in Brandenburg«, sagt Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (LINKE) am Mittwochabend. Brandenburgs Bauministerin Kathrin Schneider (SPD) habe alles Material, das in Berlin dazu angefertigt worden ist, haben wollen, berichtet die Senatorin am Mittwochabend. Für zwei Stunden steht sie auf Einladung des Bildungsvereins Helle Panke der LINKE-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung zum Mietendeckel Rede und Antwort. Natürlich ist der Termin ein Heimspiel, dennoch hätte noch vor Kurzem niemand geglaubt, in welchem Maße Lompscher die Herzen hier zufliegen. Entsprechend gut gelaunt ist sie.
Gleich zu Beginn der Veranstaltung räumt sie ein, zunächst gar nicht von dem vom Berliner Juristen Peter Weber im November 2018 in der »Juristen Zeitung« veröffentlichten Aufsatz überzeugt gewesen zu sein, dass seit der Föderalismusreform 2006 die Länder die Möglichkeit haben, öffentlich-rechtliche Mietpreisgesetze zu erlassen. »Ich hatte damals nicht den Eindruck, dass es ein Politikthema sein kann«, so Lompscher. Die SPD habe sich den Mietendeckel auf die Fahnen geschrieben. »Sie hat aus einer rechtlichen Frage ein politisches Projekt gemacht und ich gehe davon aus, dass sie das Gesetz mitträgt. Alles andere wäre selbstmörderisch«, erklärt die Senatorin in Hinblick auf die Irritationen kurz vor dem Senatsbeschluss zum Eckpunktepapier am 18. Juni, als die Senatskanzlei unter Staatssekretär Christian Gaebler (SPD) ein vollkommen neues Papier aus dem Hut zauberte. »Die klaren Eckpunkte als Senatsbeschluss waren deshalb wichtig, weil wir den 18. Juni als Stichtag setzen wollen«, so Lompscher.
Die zu diesem Datum gültigen Mieten in den über 1,5 Millionen freifinanzierten Bestandswohnungen der Hauptstadt sollen für fünf Jahre eingefroren werden, auch bei Neuvermietung. Auch Staffelmieten sollen eingefroren werden. Doch vielleicht nicht ganz. »Uns ist bekannt, dass es Preissteigerungen gibt, die möglicherweise abgefangen werden müssen«, sagt Lompscher. Zwar sei eine Härtefallregelung für die Vermieter vorgesehen. Doch massenhaft Härtefälle wolle man nicht produzieren. Man überlege »der allgemeinen Preisentwicklung Rechnung zu tragen«. Dabei solle es allerdings nicht um prozentuale Erhöhungsmöglichkeiten gehen, sondern eher um feste Beträge. »Wir überlegen auch, der wirtschaftlichen Härtefallregelung für Vermieter eine soziale für Mieter entgegenzustellen«, berichtet die Senatorin. Das könnte, wie bei Sozialwohnungen, eine Begrenzung der Bruttowarmmiete auf 30 Prozent des Haushaltsnettoeinkommens sein.
Auch für möblierte Wohnungen, bei denen derzeit Quadratmeterpreise bis über 30 Euro verlangt werden, gibt es Regulierungswünsche. »Wir halten es für richtig zu überlegen, einen Möblierungszuschlag abzubilden«, erklärt Lompscher. Generell sollen Mietobergrenzen ähnlich dem Mietspiegel festgesetzt werden. Mieter sollen bei den Wohnungsämtern ihre Miete auf eine etwaige Überhöhung prüfen lassen können. »Wie viel davon abgezogen werden kann, muss man sehen«, sagt die Senatorin. Denn nach den bisherigen Regeln beginne Mietwucher erst bei 50 Prozent Überhöhung.
Die Reaktion der Wohnungsgenossenschaften, die am Tag des Senatsbeschlusses in ganzseitigen Zeitungsanzeigen gegen den Mietendeckel Stimmung machten, hat Lompscher überrascht. »Ich bin erstaunt, dass sie relativ unpolitisch das Geschäft der anderen betreiben«, sagt sie. Und: »Ich habe Briefe von Genossenschaftsmitgliedern bekommen, in denen sie sich für ihre Vorstände entschuldigt haben.« Natürlich müsse der Mietendeckel so ausgestaltet werden, dass eine Bewirtschaftung möglich ist, wozu auch Instandhaltung gehöre. »Das ist eine Lehre, die man aus der DDR ziehen kann«, so Lompscher.
»Wir wollen ein ordentliches Gesetz machen, bei dem wir mit gutem Gewissen davon ausgehen können, dass es vor Gericht Bestand hat«, verspricht die Stadtentwicklungssenatorin. Die Wohnbevölkerung müsse vor Verdrängung geschützt werden. »Wenn man das nicht tut, verliert die Stadt ihr Wesen«, sagt Lompscher.
»Wenn das Wohnungswesen Ländersache ist, dann könnten wir auch eine Wohnungsgemeinnützigkeit wieder einführen«, erklärt die Senatorin beflügelt vom Schwung des Mietendeckels. »Das ist aber ein Projekt für die nächste Legislaturperiode.«
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Rund 600 Teilnehmer diskutierten auf dem Berliner Kongress »Marx is muss« linke Strategievorschläge

Klima, Kapitalismus, Ostdeutschland

»Was in Sachsen passiert, betrifft ganz Deutschland«, sagt Charlotte Papke vom Bündnis »Unteilbar«. Die Aktivistin macht auf dem Abschlusspodium des »Marx-is-muss«-Kongresses im Berliner nd-Gebäude deutlich, welche dramatischen Auswirkungen eine AfD-CDU-Koalition nach den Landtagswahlen im Herbst hätte. »Alle Lebensbereiche wären betroffen.« Die Regierungsbeteiligung einer teilweise faschistischen Partei sei zudem auch im Bund nicht mehr undenkbar. Wie die anderen Gäste sucht Papke nach einer solidarischen und linken Antwort, um rechte Erfolge bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg zu verhindern. Das Angebot von »Unteilbar«: Großdemonstrationen am 6. Juli in Leipzig und am 24. August in Dresden.
Julia Stefanius von der Initiative »Aufbruch Ost« fordert auf dem Podium wiederum dazu auf, die soziale Frage im Osten entschieden von links zu besetzen. Dazu müsse man auch die Treuhand-Verwerfungen der 1990er Jahre aufarbeiten, Engagierte im ländlichen Raum stärken und Szeneblasen verlassen. »Wir müssen einladend wirken statt abgrenzend, mehr zuhören, anstatt zu reden.«
Von Donnerstag bis Sonntag hatten rund 600 Besucher an den Workshops und Veranstaltungen des Kongresses teilgenommen. Die Schwerpunkte lagen dieses Jahr neben dem Kampf gegen Rechts auf den Auseinandersetzungen um die Klimafrage sowie der notwendigen strategischen Ausrichtung der Linkspartei.
Kongress-Mitorganisator Michael Ferschke betonte gegenüber »nd«, dass sich in den Debatten bestimmte Positionen herausgebildet hätten: So sei eine Mehrheit der Teilnehmer gegenüber einer rot-rot-grünen Regierung eher skeptisch und würde stattdessen den Aufbau gesellschaftlicher Gegenmacht von unten bevorzugen. Zugleich müsse man das eigene linke Profil hinsichtlich der Umweltkompetenz stärken und besser nach außen kommunizieren. Statt eines »grünen Kapitalismus« könne man die Systemfrage mit der Klimafrage verbinden, statt Konsumenten vor allem die Energiekonzerne in die Verantwortung nehmen. »Die Linkspartei kann andere Antworten geben als die Grünen«, so Ferschke.

Organisiert wurde der jährliche Kongress vom Netzwerk »Marx 21« innerhalb der LINKEN. Unter den Referenten waren die Linkspartei-Kovorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger, aber auch Wissenschaftler, Initiativenvertreter, Publizisten und Linkspolitiker aus dem Ausland.
Die Veranstalter zeigten sich mit dem Verlauf zufrieden: »Es war besonders erfreulich, dass die Aktiven aus den Bewegungen die Debatten geprägt haben«, sagte Ferschke. Nach dem eher enttäuschenden Ergebnis bei der jüngsten EU-Wahl habe sich bei den Besuchern eine »kämpferische Stimmung« gezeigt.

Europas Zukunft ist weder der Tsipras von gestern noch der »grüne« Geist des Kapitalismus von heute

Der Trend geht zu Austerität und Mauerbau

Nach den katastrophalen Ergebnissen der Linksparteien bei der Europawahl (38 Sitze/fünf Prozent Stimmenanteil) helfen nur noch eine umfassende Neuausrichtung und ehrliche Selbstkritik. Die Niederlage ist einerseits dem konkreten Kontext geschuldet, lässt sich andererseits aber auch auf fünf generelle Ursachen zurückführen.
Erstens gibt es kein ganzheitliches europäisches Programm für einen radikalen sozialen Wandel. Ein Ökosozialismus wird nur von wenigen Parteien offen vertreten, während sich die meisten in ihrer Abwehr des neoliberalen Kapitalismus in ihren Lagern verschanzen. Der neoliberale Kapitalismus wiederum steht defensiv für ein minimal offeneres und sozialeres Europa ein. Es mangelt an einer kritischen Auseinandersetzung mit der Eurozone, den asymmetrischen Verhältnissen zwischen Zentrum und Peripherie und mit ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen. Zum Fehlen eines transformativen Programms kommt noch der Mangel an medialer Präsenz, was wiederum die Fähigkeit einschränkt, Wähler*innen zu mobilisieren. Schaut man sich ein paar der deutschen Wahlslogans an, so lässt sich nur ein minimaler Unterschied zwischen Linken und Sozialdemokraten ausmachen. Beide beanspruchen das Motto »Für ein soziales Europa« für sich. Für Durchschnittswähler*innen ist die LINKE zu einer Abwandlung dessen geworden, was Sozialdemokraten einmal waren. Das hat sich auch in der Wahlkampagne niedergeschlagen, der es am nötigen Enthusiasmus fehlte, sich eine andere Welt vorzustellen und zum Handeln zu inspirieren.
Zweitens: Trotz guter Basisarbeit - viele Mitglieder der Linken in Deutschland und anderswo engagieren sich zum Beispiel aktiv in Sachen Antifaschismus oder Umweltschutz -, hat sich die politische Begeisterung für Alternativen zunehmend auf die Grünen sowie die extreme Rechte verlagert. Beide bedienen sich derzeit zweier tief sitzender Ängste. So haben sich Grüne der Klimafrage und unserer Angst vor einem zivilisatorischen Kollaps angenommen, der sich andere soziale Fragen unterzuordnen haben. Die extreme Rechte bedient sich wiederum der Fremdenangst, die sie mit Islamophobie und Angst vor Migration koppelt.

Drittens deuten die Europawahlen auf große Spaltungen innerhalb der Linken hin: so etwa zwischen unabhängigen Kampagnen auf nationaler Ebene und dem von Yanis Varoufakis geführten DiEM-Projekt zur Demokratisierung der EU; oder zwischen Bewegungen und Bürger*innen- oder Stadtinitiativen einerseits und alteingesessen, parlamentarisch orientierten Linksparteien andererseits. Die Verwerfungen um das Erbe des gescheiterten Grexit und dem drohenden Brexit - kurzum, die unklare Haltung gegenüber der Europäischen Union - belasten die Linke und ihre Fähigkeit, sich eine Zukunft ohne Kapitalismus vorzustellen.
Viertens hat die Linke den Sturz der einstigen Messiasfigur Alexis Tsipras noch nicht verkraftet. Versprach dieser einen durch das OXI-Referendum in Griechenland vorangetriebenen Konfrontationskurs mit der Troika, so hat seine Partei SYRIZA der Austeritätspolitik doch nachgegeben und somit die soziale Basis und soziale Bewegungen lahmgelegt. Trotz des öffentlichen Eingeständnisses des IWF, dass ihr Eingriff in Griechenland gescheitert sei, ist die Austeritätspolitik bis in die tiefsten Schichten der Gesellschaft vorgedrungen und hat in Griechenland zu erheblicher Resignation, Verbitterung und Verinnerlichung der Krise geführt. Tsipras’ Niedergang vom Helden der Linken zum Anhänger des Neoliberalismus hatte verheerende Auswirkungen auf die Linke.
Fünftens erzielt die Linke normalerweise schlechtere Ergebnisse, wenn die Wahlbeteiligung niedriger ist. Das traf auch wieder auf die gesamte Peripherie zu. In meinem Herkunftsland Slowenien lag die Wahlbeteiligung bei nur 28 Prozent. Doch der Vorwurf, Ostwähler*innen seien faul und wüssten demokratische Wahlen nicht zu schätzen, läuft ins Leere. Vielmehr bin ich der Ansicht, dass die Entscheidung nicht zu wählen eine klare politische Entscheidung darstellt. Viele Wähler*innen sind vom liberalen Kapitalismus enttäuscht und halten einen tatsächlichen Wandel für unmöglich. Man muss sich das so vorstellen: Wie in aller Welt können acht slowenische Abgeordnete in einem Parlament mit 751 Sitzen - sprich: ein Prozent aller Abgeordneten - irgendetwas in einer von derart mächtigen Lobbys dominierten Sphäre ausrichten?
Hinzu kommt, dass die Linke nicht nur an der Peripherie, sondern auch in Kernländern verloren hat. In Deutschland bekam die LINKE nur fünf Prozent der Stimmen, während La France Insoumise in Frankreich nur 6,5 Prozent der Stimmen erhielt. Der Rückgang an Wähler*innen der LINKEN ist klar dem drastischen Stimmverlust in Ostdeutschland zuzuschreiben, was wiederum in Verbindung steht mit dem Aufstieg der AfD, dem Rückzug von Sarah Wagenknecht innerhalb der LINKEN sowie dem Versagen ihrer Partei, das Problem der Ost-West-Lücke anzugehen.
Während die europäische Linke erheblich an Stimmen verloren hat, konnte die extreme Rechte von mehreren Dingen profitieren: der Enttäuschung der Wähler*innen über eine »extreme Mitte«; dem Abebben der Tsipras-Begeisterung; der zunehmenden Militarisierung unserer Gesellschaften; und einer Angst vor Privilegienverlust. Die extreme Rechte ist zudem Vorreiterin in ihrer offensiven Nutzung sozialer Medien zur Verbreitung von Hetze (Islamophobie) und der Darstellung von Migrant*innen und Geflüchteten als Sündenböcke. Konkret hat das dazu geführt, dass zwei der wichtigsten Rechtsaußenfraktionen zusammen nun mit 112 Abgeordneten im Europäischen Parlament vertreten sind (EFDD und ENF, 15 Prozent gemeinsamer Stimmanteil), was einen klaren Machtgewinn der extremen Rechten in den Kernländern bedeutet. Gewonnen haben sie in Großbritannien (Farages Brexit Party), in Frankreich (Le Pens Rassemblement National) und in Italien (Salvinis Lega Nord). Über die extreme Rechte wird ausführlich in öffentlichen Medien berichtet, und auf der Straße und im Parlament (sowohl auf Länder- als auch auf Europa-Ebene) sind sie gut organisiert. Darin liegt eine große Gefahr für die Zukunft.
Kommen wir nun zur großen Überraschung der Wahlen: dem grünen Aufschwung. Grüne Parteien sind mit 69 Abgeordneten ins Parlament eingezogen, was knapp über neun Prozent der Wählerschaft entspricht. In Deutschland haben sie über 20 Prozent der Sitze gewonnen und sind damit zweitgrößte Partei; in Frankreich sind sie mit 13 Prozent nun drittgrößte Partei. Ich würde an dieser Stelle gern klarstellen, dass ich mich für die Kameraden der Grünen und ihre europaweit guten Wahlergebnisse freue. Eine realistische Alternative zum neoliberalen Kapitalismus kann nur auf einem ökologischen Sozialismus aufbauen.
Jedoch birgt grüne Politik vor dem Hintergrund einer Umweltkatastrophe eine maßgebliche Gefahr. Die Grünen und jene, die grün denken und handeln, haben erfolgreich einen alternativen Lebensstil geprägt. Das heißt, die grüne Politisierung des Alltags schwankt zwischen bewusstem Konsumismus und selbstgefälliger, moralistischer Politik mit dem Anspruch auf einen fundamentalen Lebenswandel. Letztere hat oft Anklänge einer neuen säkularisierten Religion, die einen sparsamen, individualistischen Ansatz predigt, der letztlich der Gewissensläuterung dienen soll.
Die Idee eines reinen grünen Lebens wird als Zukunftsutopie präsentiert, an der jetzt schon eine ganze Armee smarter grüner Unternehmen arbeitet, die es uns mit grüner Energie und Infrastruktur ermöglichen, statt im großem Supermarkt im Bioladen einzukaufen, lokale Kooperativen zu unterstützen und uns per Rad und Elektroauto fortzubewegen. All das ist Teil des grünen Managements von moralischer Schuld. Angesichts der Tatsache, dass ein Großteil der Unternehmen, die sich durch Rohstoffplünderung und Ausbeutung bereichern und zugleich für die globale Umweltverschmutzung verantwortlich sind, ihren Sitz im Westen haben, ist davon auszugehen, dass derartige Schuldgefühle künftig noch zunehmen werden. Wenn der Bioladen dazu dient, guten Gewissens einzukaufen, dann erfüllt grün zu wählen eine entsprechende Funktion auf dem politischen Markt. Die grüne Wahl ist für Bürger*innen, die mit ihrem eigenen Überleben beschäftigt sind, ein moralisches Ergänzungsmittel für ihren Konsumismus.
Umso problematischer ist zudem das Bündnis von grüner Selbstgefälligkeit und messianischen Glauben an einen grünen Aufschwung, das uns auf wundersame Weise davor bewahren will, vom Kapitalismus in die sozioökologische Katastrophe gerissen zu werden. Solange Hauptvertreter*innen etablierter grüner Parteien lediglich einen sanften Reformismus und grünen Kapitalismus fordern, ist diese Erwartung jedoch ein Trugschluss. Die Forderung nach saubererer Technologie wirft die Frage auf, ob aus der »Wachstumsdoktrin« des 20. Jahrhunderts irgendwelche Lehren gezogen wurden. Der Glaube an die Rettung durch einen grünen Kapitalismus ist eine gefährliche Illusion. Er kann die Klimakrise zwar verlangsamen, aber nicht verhindern. Grüne Wähler*innen, die hoffen, dass die Grünen einen grundlegenden Wandel bewirken können, werden genauso enttäuscht werden, wie jene, die in Tsipras einen Gegner der Austeritätspolitik sahen.
Viele der jungen Wähler*innen in Deutschland sind sich womöglich nicht bewusst, dass die Grünen unter Schröders SPD vor mehr als zehn Jahren zu den größten Erfolgen des Neoliberalismus in der jüngeren Geschichte Deutschlands beigetragen haben. Für die damalige Regierung haben Umwelt- und Friedenspolitik wohl kaum eine besonders große Rolle gespielt, was nicht zuletzt auch daran sichtbar wird, dass im Jugoslawienkrieg deutsche Truppen zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg im Ausland eingesetzt wurden.
Wird der grüne Aufschwung eine Koalition mit den Regierungsparteien des extremen Zentrums bilden? Oder werden sich die Grünen - zusammen mit einer zunehmend radikalisierten Fridays-for-Future-Bewegung - nach links wenden? Derzeit steht nur fest, dass sich innerhalb des Europäischen Parlaments nicht viel tun wird. Die neoliberale Partei ALDE mit 14 Prozent Stimmanteil wird sich höchstwahrscheinlich jenen anschließen, die das Steuer schon lange in der Hand haben: EPP (Konservative, 24 Prozent) und S&D (Sozialdemokraten, 19 Prozent). Die europäischen Bürger*innen haben - wenn auch nur mit einer Wahlbeteiligung von 50 Prozent - eine deutliche Richtschnur vorgegeben. Sie haben den Trend zu neoliberaler Austerität, Mauerbau gegen Immigration und weiterer Umweltzerstörung bekräftigt und haben sich damit für eine Anpassung an das Kapital ausgesprochen.
Wie kann also eine zukunftsorientierte progressive Strategie aussehen? Fraglos muss der naive Glaube aufgegeben werden, grüne Technologie könne eine Klimakatastrophe verhindern, ohne mit dem Kapitalismus radikal zu brechen. Zudem sollte sich die Linke von Wachstumsfetisch und ihrer Verteidigungshaltung gegenüber dem Sozialstaat verabschieden. Sowohl Grüne als auch Linke verharmlosen kapitalistisches Wachstum und tun so, als sei es durch etwas sauberere Technologien und leicht verbesserte Lohnverhältnisse reformierbar. Wollen wir lediglich unsere privaten Privilegien verteidigen und uns glücklich schätzen, dass die Klimakrise zuerst die unterentwickelten Staaten treffen wird?
Ein radikalerer Ansatz wäre heutzutage jene Art von Basisbewegung, die wie Fridays for Future von Kindern auf Eltern übergreift, von Ökolog*innen auf andere Bevölkerungsgruppen, vom Freitag auf den Donnerstag und von dort aus, wer weiß, wohin noch. Das könnte europaweit auch Leitfiguren der Linken, Grünen und der Gewerkschaften radikalisieren, hin zu einem Pfad jenseits des Wachstumskapitalismus. Solange Grüne und Linke nicht für eine radikale, utopische Zukunftsvision kämpfen, die über den Kapitalismus hinausgeht, werden sie lediglich Randparteien bleiben oder aber von der extremen Mitte geschluckt werden. Diese Zukunft sieht zwar düster aus, doch eine neue ist uns weiterhin möglich - an diesem Freitag.

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Gal Kirn

Gal Kirn ist Fellow am Institut für Slawistik der TU Dresden. Seine Forschungsschwerpunkte sind der osteuropäische Transformationsprozess, die Geschichte des (Post-) Sozialismus sowie Filmgeschichte und -theorie. In seiner Heimatstadt Ljubljana ist er Mitglied der slowenischen Linkspartei Levica.
Der dokumentierte Text ist in englischer Sprache auf socialistproject.ca erschienen und wurde mit Hilfe der Rosa-Luxemburg-Stiftung übersetzt. Foto: privat