Donnerstag, 26. Mai 2016

Genitalfantasien = Satire? (Werner Rügemer)


Das Gedicht von Jan Böhmermann über den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan in der ZDF-Sendung »Neo Magazin Royale« ist keine Satire, sondern ordinäre Genitalfantasie. Sie fällt auch nicht unter Meinungsfreiheit, wie sie in einem demokratischen und Rechtsstaat verteidigt werden muss.

Die naive oder als naiv dargestellte Distanzierung zu Beginn der Verlesung des Gedichts, es folge nun ein Schmähgedicht, das rechtlich nicht zulässig sei, stellt den Versuch dar, sich einen rechtsfreien Raum zu schaffen.

Die Charakterisierungen von Erdoğan als »Ziegenficker«, der auch Fellatio mit 100 Schafen treibe, dessen »Schwanz beim Pinkeln brennt«, dessen »Kopf so leer ist wie seine Eier« – dies hat nichts mit bekannten Eigenschaften, Aussagen, Praktiken oder Merkmalen von Erdoğan zu tun. Vielmehr sind es vollständig sach- und persönlichkeitsfremd hinzufantasierte Zutaten. Damit wird nichts Vorhandenes durch Zuspitzung kenntlich gemacht – was Aufgabe von Satire wäre. Die Charakterisierung von Moslems als Ziegenficker ist ein typisch rassistisches, rechtsradikales Klischee.

Zudem betreffen einzelne dieser Fantasien nicht nur Erdoğan selbst, sondern, wesentlich schlimmer, auch einen weit größeren Kreis von Menschen. Wenn es heißt, dass Erdoğans »Gelöt schlimm nach Döner stinkt«, dann wird hier auf ein typisches türkisches Essen verwiesen. Wenn es weiter heißt, Erdoğan sei »pervers und schwul«, dann wird Schwulsein als schlechte Eigenschaft präsentiert, während dieselben Medien die Diskriminierung von Schwulen anprangern, etwa wenn sie das dem russischen Präsidenten anhängen.

Das ist die Meinungsfreiheit, die sie meinen. Die Verkommenheit der meinungsführenden Medien stellt sich auch in diesem Fall öffentlich zur Schau: Das ZDF verteidigt das Gedicht als Satire und Meinungsfreiheit. Der Vorstandsvorsitzende des Springer-Konzerns, Mathias Döpfner, bezeichnet das Gedicht als »ein Kunstwerk – wie jede große Satire«. Der Spiegel charakterisiert den »Künstler Böhmermann« als den »großen Zertrümmerer« bisheriger allzu braver Regeln. Er habe Geschichte geschrieben, sein Produkt »gehört schon jetzt ins Haus der Geschichte«. Da funktioniert die angebliche Satire genau im Sinne der führenden medialen Gutmenschen, die die selektiven Feind- und Freundbilder inszenieren und sich dann nicht mit dem Zerstörungskrieg ihres neuen Kumpans Erdoğan gegen das kurdische Volk und seiner Kollaboration mit den auch uns freundlich verbunden Golfdiktaturen auseinander zu setzen brauchen.

Wenn Erdogan souveräner wäre – was er natürlich nicht sein kann –, dann hätte er zum Beispiel sagen können: Ach seht mal, da erreicht uns ein typisches deutsches Kulturgut, ein Produkt der deutschen Leitkultur! Sehr aufschlussreich! Da will ich mich nicht einmischen – da ist die deutsche Bundeskanzlerin zuständig!
 

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