Donnerstag, 26. Mai 2016

Dilemmata türkischer Syrien-Politik (Karin Kulow)


Beste Freunde sind sie eigentlich niemals gewesen: die Türkei und Syrien, die beiden durch eine jahrhundertealte gemeinsame islamische Entwicklungsgeschichte geprägten Staaten, die sich eine reichlich 900 Kilometer lange Grenze teilen. Schon gar nicht, wenn man bis in die Zeiten des Osmanischen Reiches zurückgeht. Welches bei Syrern wegen der dort vorherrschenden türkischen Despotie und rigorosen Turkifizierungspolitik derartig verhasst war, dass dessen Zusammenbruch als Akt der Befreiung gefeiert worden ist. Auch die von der nachfolgenden und gleichfalls verhassten französischen Kolonialherrschaft 1939 erzwungene Abtretung der einstmals syrischen Provinz Iskanderun – dem jetzigen Hatay – an die Türkei ist vielfach unter Syrern bis heute nicht gänzlich verwunden.
Auf Goodwill ausgerichtete Neuorientierung
Dass sich gerade im ersten Jahrzehnt der 2000er Jahre zwischen beiden Ländern nahezu freundschaftliche Beziehungen zu entwickeln begannen, hat in erster Linie mit dem zu dieser Zeit von der Türkei vollzogenen außenpolitischen Strategiewechsel zu tun: weg von der bis dato eher einseitigen Ausrichtung vor allem auf die EU, hin zu einer diversifizierenden Öffnung, besonders gegenüber Staaten der Nah- und Mittelostregion. Konzipiert unter dem Motto der »Null-Probleme-Politik mit den Nachbarstaaten« sowie geleitet von der Vision einer Türkei als prosperierender Wirtschafts- und politisch einflussreicher Regionalmacht. Dieses vom heutigen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu noch als Politikprofessor entwickelte und in einem Buch 2001 öffentlich gemachte Konzept bildete nach dem Wahlsieg der AKP unter Recep Erdoğan 2002 dann erst einmal auch die Grundlage der türkischen Syrien-Politik.

So wie Syrien – als unmittelbarer Nachbar mit ausbaufähiger Ökonomie – für die Türkei bei der Umsetzung ihrer neu definierten Außenpolitik von zentraler Bedeutung war, so galt umgekehrt fortan die Türkei für Syrien als strategischer Partner. Zwischen beiden Ländern wurde nicht nur der visafreie Verkehr eingeführt, sondern auch eine nahöstliche Freihandelszone – unter Einbeziehung von Libanon und Jordanien – anvisiert. Zu den sich zielstrebig entwickelnden bilateralen Kooperationsbeziehungen gehörten regelmäßige, auf allen Ebenen und in allen Bereichen von Politik, Wirtschaft, Infrastruktur, Kultur, Wissenschaft und Bildung durchgeführte Koordinierungstreffen. Neben offiziellen Begegnungen gab es zwischen Erdoğan und Assad auch verschiedentlich Treffen privater Natur, einschließlich der Ehefrauen. Sodass durchaus von persönlicher Freundschaft gesprochen werden konnte.
Vom Freund zum Feind
Nach Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges im Zuge des »Arabischen Frühlings« – mindestens jedoch ab Herbst 2012 – war damit jedoch schlagartig Schluss. Aus dem ehemaligen Partner und Freund wurde für Erdoğan nun der erklärte Gegner und Feind, dessen Sturz seither als ein prioritäres Ziel türkischer Syrien-Politik gilt. Selbst, wenn in Rechnung gestellt wird, dass die Positionierungen zum innersyrischen Konflikt unterschiedlich, ja gegensätzlich ausfallen, und in Reihen der syrischen Opposition Erdoğans abrupter Sinneswandel gegenüber Assad gutgeheißen wird, so sollte dessen unkalkulierbares, zunehmend abenteuerliches Verhalten generell zu denken geben. Denn wie schnell bei ihm Freund- und Feindbilder wechseln, zeigt sich nicht nur in Bezug auf Assad, sondern auch auf die Kurden im eigenen Land. Statt der 2013 eröffneten Friedensgespräche mit ihnen gleicht nunmehr ihr Siedlungsgebiet im Südosten fast schon dem syrischen Schlachtfeld. Nicht zuletzt Staatenbeziehungen, wie die zu Ägypten oder Israel, aber vor allem auch zu Russland, erfuhren selbstherrlich veranlasste und danach nur mühsam zu korrigierende Beschädigungen.

Dass Erdoğan so abrupt mit Assad gebrochen hat, lässt sich wohl kaum als Ausdruck seines Bemühens um die dortige Beförderung von Demokratie und Menschenrechten werten. Da er doch selbst nicht vor dem Einsatz von Gewalt gegen die eigene Bevölkerung zurückschreckt und auch die sonstigen Freiheiten mehr und mehr durch ihn eingeschränkt werden. Vielmehr ist der Grund dafür in den weitreichenden Folgen des »Arabischen Frühlings« zu suchen, durch die sich Erdoğan und Davutoğlu dazu animiert fühlten, ihre Syrien-Politik im Interesse ihrer schon seit längerem wuchernden neo-osmanischen Wunschträume neu zu akzentuieren. Das heißt, auf einen dortigen Machtwechsel zugunsten des Einflusses sunnitisch-islamistischer Kräfte und Parteien vom Schlage der muslimbruderschaftlichen AKP hinzuwirken. Damit werden zwar Ansprüche Saudi-Arabiens auf die Führerschaft innerhalb der arabischen und islamischen Welt tangiert, dennoch besteht – zumindest aktuell – eine erstaunliche türkisch-saudische Konformität im Herangehen an die Syrien-Krise. Ziel ist es, den sich im Ergebnis des 2003er US-Krieges gegen den Irak sichtlich ausprägenden und von Teheran über Bagdad und Damaskus bis hin zur Hisbollah im Libanon erstreckenden schiitischen politischen Einflussgürtel, oft auch als »schiitischer Halbmond« bezeichnet, zu zerreißen. So würde im Falle des Assad-Sturzes die seit 1979 zwischen Damaskus und Teheran bestehende Allianz zerschlagen und der Iran seiner wichtigsten Stütze im Nahen Osten beraubt.

Angesichts dieser nun prononciert auf sunnitisches Dominanzgebaren ausgerichteten Linie Erdoğans – darin neben Saudi-Arabien auch aktiv von Katar unterstützt – waren für ihn anscheinend plötzlich auch die ideologischen Differenzen mit Assad relevant. Erdoğan als muslimbruderschaftlicher Islamist; Assad als baathistischer Nationalist. Was im Jahrzehnt zuvor augenscheinlich zweitrangig gewesen ist – auch trotz der ihm hinlänglich bekannten Intimfeindschaft der Baathisten gegenüber der syrischen Muslimbruderschaft. Da sich dann aber Assad der Forderung Erdoğans nach einer Machtbeteiligung der syrischen Muslimbruderschaft strikt verweigerte, empfand der heutige türkische Präsident dies zugleich als Beleidigung seiner Person, als Angriff auf seine ideologische Überzeugung. Womit dann auch persönlich das Tischtuch zwischen ihnen endgültig zerschnitten war.
Avancierung zur Kriegspartei in Syrien
In dem Maße, wie die politische Führung der Türkei im Syrien-Konflikt immer vehementer einerseits gegen Assad und andererseits für die Opposition Partei ergriff, manövrierte sie zugleich ihr Land in einen De-facto-Krieg mit Syrien und wurde so, ob nun gewollt oder nicht, zu einem Mitverursacher der dortigen humanitären Katastrophe. Überdies hat sie zur Verschärfung der Probleme ihrer eigenen Kurdenpolitik beigetragen.

Nicht nur wurden der zivilen Opposition in Gestalt des Syrischen Nationalrates wie der übergeordneten Koalition der syrischen Revolutions- und Oppositionskräfte Niederlassungsmöglichkeiten, darunter in Istanbul und Gaziantep, zur Verfügung gestellt. Auch die bewaffnete Opposition erhielt vielfältige Unterstützung – sei es finanziell, logistisch oder durch Bereitstellung von Kriegsgerät und geheimdienstlichen Informationen. Einziges Kriterium dabei bildete offenkundig die Zugehörigkeit zur sunnitischen Glaubensrichtung. Wovon mehr oder weniger stillschweigend vor allem auch der IS immer wieder zu profitieren verstand, an dessen Bekämpfung sich die Türkei nur zögerlich beteiligte.

Als eine der Trumpfkarten in ihrem Anti-Assad-Spiel – wie gleichermaßen gegen die syrischen Kurden – fungieren für die türkische Führung speziell auch die syrischen, vorwiegend im Nordwesten siedelnden Turkmenen. Obwohl zuvor nur wenig politisiert und auch kaum in direkter Verbindung zur Türkei stehend, formierten sich seit 2012 aus ihren Reihen türkisch initiierte bewaffnete Kampfeinheiten. Vom türkischen Parlament als legitime Vertretung der Turkmenen in Syrien anerkannt wurde zudem eine 2013 in Ankara ins Leben gerufene Turkmenische Gesetzgebende Versammlung.

Neben Militärschlägen gegen die syrische Armee ist den turkmenischen Kämpfern besonders zugedacht, als Abwehrschild gegen den weiteren Vormarsch der syrischen Kurden gen Nordwesten zu fungieren und mit dazu beizutragen, dass der logistisch so wichtige Azzaz-Korridor in die Türkei unter Rebellenkontrolle verbleibt. Weil Erdoğan daran gelegen ist, unter dem Vorwand einer zu schaffenden Sicherheitszone das seit 2012 implementierte und jüngst als Rojava-Nordsyrien ausgerufene kurdische Selbstverwaltungsprojekt unter allen Umständen wieder aus der Welt zu schaffen.

Laut russischen Meldungen von Mitte März 2016 hätten sich sogar schon türkische Truppen in einer Art schleichender Expansion mehrere hundert Meter hinter der syrischen Grenze festgesetzt. Zum angeblichen Schutz der syrischen Turkmenen wie zur Verhinderung des kurdischen Separatismus. Wenn IS und al-Nusra-Front weiterhin militärisch zu bekämpfen seien, so habe die Türkei das Recht, gegen die kurdischen YPG-Kampfeinheiten vorzugehen, die von Erdoğan als PKK-Abteilung definiert werden und mithin auf dem Terrorgruppen-Index von USA und EU stünden.

Genau genommen jedoch stehen Erdoğan und Davutoğlu vor einem Scherbenhaufen ihrer im Gefolge des »Arabischen Frühlings« anvisierten Syrien-Politik, vor allem weil dadurch die Stabilität und Sicherheit des eigenen Landes zunehmend gefährdet ist und sie sich zudem in ein riskantes Abenteuer mit Russland verstrickt haben.

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