Donnerstag, 28. Mai 2015
[Chiapas98] Erste Aufzeichnungen über die zapatistische Methode - SupGaleano
4. Mai 2015
Die Mauer und der Riss. Erste Aufzeichnungen über die zapatistische Methode. Worte des SupGaleano anlässlich der Eröffnung des Seminars »Das kritischeDenken angesichts der kapitalistischen Hydra«
Die Mauer und der Riss.
Erste Aufzeichnungen über die zapatistische Methode.
3. Mai 2015.
Guten Abend, guten Tag, gute Nacht, allen die uns hören und lesen, egal auf welchem Kalender und Geographie.
Mein Name ist Galeano, Subcomandante Insurgente Galeano. Geboren im Morgengrauen des 25. Mai 2014, im Kollektiv, so leid es mir tut, gut, aber auch anderen Männer und Frauen und AnderEr tut das leid. Wie meine anderen zapatistischen Compañeras und Compañeros bedecke ich mein Gesicht, wenn es notwendig ist, dass ich mich zeige und ich mache es frei, wenn ich mich verbergen muss. Obwohl ich noch nicht einmal ein Jahr alt bin, hat die Führung mir die Stelle des Wachpostens, Wächters oder der Wache zugeteilt, auf einem der Beobachtungsstationen dieser rebellischen Erde.Nachdem ich es nicht gewohnt bin, öffentlich zu sprechen und noch weniger vor solch feiii (ach – Entschuldigung, das ist wohl der Schluckauf vor lauter Lampenfieber), wollte sagen feinen Leuten, bedanke ich mich schon im vorhinein für Ihr Verständnis wenn ich stottere und immer wieder stolpere, bei der schwierigen und komplizierten Kunst der Rede.
Den Namen Galeano habe ich von einem indigenen zapatistischen Compañero, Lehrer und Organisator, üebernommen, der angegriffen, gekidnappt, gefoltert und ermordet wurde und zwar von einer paramiltärischen Gruppe, die unter dem Deckmantel einer sogenannten Sozialorganisation, der CIOAC-Histórica agieren. Der Alptraum, der dem Leben des Maestro Galeano ein Ende setzte, begann im Morgentrauen des 2. Mai 2014. Von diesem Moment an begannen wir Zapatistinnen und Zapatisten mit der Rekonstruktion seines Lebens.
Damals beschloss die kollektive Führung der EZLN den Tod der Person, die sich selbst den Namen SupMarcos gegeben hatte, und damals Stimmführer der zapatistischen Männer, Frauen, Kinder und Alten war. Von jenem Moment an war der Stimmführer der nationalen zapatistischen Befreiungsarmee der Subcomandante Insurgente Moisés. Mit seiner Stimme sprechen wir, mit seinen Augen schauen wir, in seinem Schritt schreiten wir voran, er sind wird.
Monate nach diesem 2. Mai breitete sich wieder die Nacht über das Mexiko von unten aus und gab ihm einen neuen Namen in der bereits langen Liste der Nennungen des Entsetzens: »Ayotzinapa«. Wie so oft auf dieser Welt, wurde auf diese Weise eine Geographie von unten Zeichen und Name für eine vorausgeplante und dann genau ausgeführte Tragödie, will heissen, ein Verbrechen.
Durch die Stimme des Subcomandante Insurgente Moisés haben wir bereits gesagt, was für uns Zapatistinnen und Zapatisten Ayotzinapa bedeutete und bedeutet. Mit Ihrer Erlaubnis und der meiner zapatistischen Compañeras und Compañeros Chefs führe ich seine Worte weiter aus.
Ayotzinapa sind der Schmerz und die Wut, ja, aber nicht nur das. Auch und vor allem die hartnäckige Anstrengung der Familienangehörigen und Compañeros der Abwesenden.
Einige dieser Familienangehörigen, die das Andenken nicht fallen liessen, haben uns die Ehre erwiesen, und sind heute an unserer Seite, hier auf zapatistischem Boden.
Wir hören die Worte von Doña Hilda und Don Mario, Mutter und Vater von César Manuel González Hernández, weiters sind Anwesenheit und Wort von Doña Bertha und Don Tomás, Mutter und Vater von Julio César Ramírez Nava präsent. Mit ihnen zusammen protestieren wir wegen des Fehlens der 46.
Wir bitten Doña Bertha und Don Tomás darum, dass sie diese Worte den anderen Familienangehörigen von Ayotzinapa überbringen. Denn ihr Kampf war es, den wir im Kopf hatten, als wir dieses Samenbeet vorbereiteten.
Ich glaube, dass mehr als eine, mehr als einer mehr als einEr, der Sexta und der EZLN mit mir übereinstimmen wenn ich sage, dass es uns lieber gewesen wäre, wenn sie nicht hier sein müssten. Das heisst, dass sie wohl hier wären, aber nicht mit Schmerz und Wut sondern als Umarmung wie es sich unter Compañeros geziemt. Wenn doch dieser 26. September nie geschehen wäre. Wenn doch der Kalender verständnisvoll gewesen wäre wie ein Compañero und dieses Datum ausgelassen hätte. Wenn doch die Geographie sich verlaufen hätte und niemals in Iguala, Guerrero, Mexiko halt gemacht hätte.
Aber wenn nach dieser Nacht des Schreckens die Geographie sich ausdehnte und vertiefte und bis in die am weitesten entfernten Winkel der Welt gelangte und wenn der Kalender weiterhin an diesem Datum hängt, dann geschah das alles auf Grund eurer Anstrengung, auf Grund der Grösse eurer Einfachheit, auf Grund eurer bedingungslosen Hingabe.
Wir haben eure Söhne nicht gekannt. Aber wir kennen euch. Und wir haben keine andere Absicht als euch zu versichern, dass wir euch bewundern und respektieren, selbst in den einsamsten und traurigsten Momenten, die ihr durchmacht.
Es stimmt, wir können keine Strassen und Plätze in den grossen Städten füllen. Jede Mobilisierung, und wenn sie auch noch so klein ist, bedeutet für unsere Comunidades eine grosse Ausgabe, da unsere ökonomischen Verhältnisse ohnehin schwierig sind - so wie die von Millionen von Menschen - und die bis zum Limit durch Rebellion und Resistenz von mehr als 20 Jahren aufrecht erhalten wird. Ich spreche von unseren Comunidades, denn unsere Unterstützung besteht nicht aus der Summe von Einzelhandlungen, sondern es handelt sich um eine kollektive Aktion, die zuerst durchdacht und dann organisiert wird. Dies ist ein Teil unseres Kampfes.
Wir brillieren nicht in den Social Media, wir können euer Wort nicht weiter hinaus tragen, als bis in unsere Herzen. Wir können euch auch nicht ökonomisch unterstützen, obwohl wir sehr genau wissen, dass diese Monate des Kampfes an eurer Gesundheit und an euren Lebensbedingungen genagt haben.
Es ist so, dass auch unsere Rebellion und unser Widerstand sehr oft mit Misstrauen und Abneigung betrachtet werden. Bewegungen und Mobilisationen, die sich in den unterschiedlichsten Gegenden formieren, möchten oft nicht, dass wir ihnen unsere Sympathie erklären. Sie sind noch empfänglich für das mediengültige »was werden sie denn über uns denken…« und wollen vermeiden, dass ihre Causa in irgendeiner Weise mit den »Vermummten in Chiapas« in Zusammenhang gebracht wird. Wir verstehen sie, wir richten sie nicht. Unsere Achtung für alle Rebellionen die in der Welt erblühen enthält auch die Achtung vor ihrer Bewertung, ihrem Schritt, ihren Entscheidungen. Wir respektieren sie, aber wir ignorieren sie nicht. Wir beachten alle und jede Bewegung, die sich dem System entgegenstellt. Wir versuchen, sie zu verstehen, das heisst, sie zu kennen. Wir wissen, dass die Achtung aus dem Wissen geboren wird, und dass Angst und Hass, diese beiden Gesichter der Verachtung nicht selten aus der Unkenntnis heraus entstehen.
Auch wenn unser Kampf klein ist, etwas haben wir in diesen Jahren, Jahrzehnten, Jahrhunderten gelernt. Und das möchten wir euch sagen:
Glaubt denen nicht, die sagen, dass Sensibilität und Sympathie und Unterstützung sich an vollen Strassen, überfüllten Plätzen, grossen Tribünen, der Anzahl der Kameras und Mikrofone, Headlines in Zeitungen, Tendenzen in den Social Media messen lassen.
Die meisten Menschen auf der ganzen Welt, nicht nur in unserem Land, sind wie ihr, Schwestern und Brüder Familienangehörige der Fehlenden von Ayozinapa. Menschen, die Tag und Nacht ums Überleben kämpfen müssen. Menschen die kämpfen müssen, um der Realität etwas für das tägliche Überleben herauszureissen.
Jeder, jede, jedeRe, von unten, Mann oder Frau oder Trans, der/die Geschichte kennt die schmerzt, sympathisiert mit eurem Kampf, der Wahrheit und Gerechtigkeit fordert. Er/sie teilt das mit euch, denn in euren Worten sehen sie die Wiederholung ihrer Geschichten, sie erkennen sich wieder in eurem Schmerz, denn sie identifizieren sich mit eurer Wut.
Die Mehrheit hat nicht protestiert, sie haben sich nicht geäussert, sie haben keine Topics in den Social Media kreiirt, sie haben keine Scheiben eingeschlagen, keine Autos angezündet, keine Parolen gerufen, keine Tribünen besetzt, sie haben zu euch nicht gesagt, dass ihr nicht alleine seid.
Sie haben das einfach deshalb nicht getan, weil sie es nicht konnten.
Aber sie haben zugehört und achten eure Bewegung.
Werdet nicht schwach.
Nur weil die, die vorher an eurer Seite gestanden sind und jetzt verschwunden sind, nachdem sie abkassiert haben oder weil sie gesehen haben, dass es nichts zu kassieren gibt, sollt ihr nicht denken, dass eure Angelegenheit weniger schmerzlich ist, weniger edel, weniger gerecht.
Der Weg, den ihr bisher gegangen seid, war stark, war richtig Aber ihr wisst, das noch viel des Weges fehlt.
Wisst ihr was? Eine der Täuschungen derer von oben besteht darin, die von unten zu überzeugen, dass alles, was nicht leicht erreicht wird, nie erreicht wird. Sie wollen uns davon überzeugen, dass die langen und schwierigen Kämpfe nur ermüden und nichts erreichen. Sie manipulieren den Kalender von unten, indem sie uns den Kalender von oben auferlegen: Wahlen, Auftritte, Meetings, Treffen mit der Geschichte, Erinnerungsfeiern die nur Schmerz und Wut verschleiern.
Das System fürchtet die wilden Ausbrüche nicht, ganz egal wie massiv und grell sie sind. Wenn eine Regierung gestürzt wird, haben sie sofort eine andere auf Lager zum austauschen und aufnötigen. Wovor es sich dagegen fürchtet wie der Teufel vor dem Weihwasser, ist die Unbeirrbarkeit der Rebellion und des Widerstandes von unten.
Denn der Kalender von unten ist ein anderer. Der Schritt ist ein anderer. Die Geschichte ist eine andere. Schmerz und Wut sind anders.
Und jetzt, nach einer gewissen Zeit ist dieses verstreute und vielfache Unten das wir sind nicht mehr nur auf euren Schmerz und eure Wut konzentriert. Wir konzentrieren uns auch auf eure Beharrlichkeit, auf euer Weiterschreiten, auf euer nicht aufgeben.
Glaubt uns. Euer Kampf hängt nicht von der Anzahl derer ab, die protestieren, von der Anzahl der Zeitungsmeldungen, der Anzahl der Einschaltungen in den Social Media, der Anzahl der Tourneen, auf die man euch einlädt.
Euer Kampf, unser Kampf, die Kämpfe von unten im allgemeinen hängen vom Widerstand ab. Vom nicht aufgeben, vom sich nicht verkaufen, vom nicht schlapp machen.
Gut, gut, klar, dass ist unsere Meinung, die der Zapatistinnen und Zapatisten. Es gibt sicher Menschen, die sagen euch etwas ganz anderes. Zum Beispiel dass es wichtiger sei, diese oder jene Partei zu wählen, denn so würden die Fehlenden gefunden werden. Und wenn ihr diese oder jene Partei nicht wählt, dann habt ihr nicht nur DIE Gelegenheit verpasst, die wiederzufinden, die euch fehlen, mehr noch, ihr würdet auch mit daran schuld sein, dass das Entsetzen in unserem Land weiter fortgesetzt werden würde.
Seht ihr wie es Parteien gibt, die die materielle Not der Menschen ausnützen? Die Lebensmittelpakete, Schulmaterial, Karten, Kinoeintrittskarten, Kübel, Schirmkappen, Sandwiches und farbiges Zuckerwasser im Tetra Pack anbieten? Gut und dann gibt es auch die, die den Gefühlsnotstand der Menschen ausnützen. Die Hoffnung, Freunde und Feinde, ist die Notwendigkeit, die da oben am höchsten gehandelt wird. Die Hoffnung, dass alles anders werden wird, dass es jetzt endlich Wohlfahrt, Demokratie, Gerechtigkeit, Freiheit geben wird. Die Hoffnung, die die Erleuchteten von oben den armen Teufeln von unten wegnehmen und dann wieder verkaufen. Die Hoffnung, dass die Einlösung der Forderungen von der Farbe eines der Produkte im Warenlager des Systems abhänge.
Vielleicht verstehen jene Menschen mehr als wir Zapatistinnen und Zapatisten. Sie sind weise. Noch mehr, sie kassieren für ihr Wissen. Das Wissen ist ihr Beruf, davon leben sie… oder damit betrügen sie.
Ihr seht schon, sie wissen mehr und wenn sie sich auf uns beziehen sagen sie, dass wir »dort in den Bergen, weiss der Teufel wo, verloren sind« und sie sagen, wir fordern zum Nichtwählen auf und dass wir Sektierer seien (vielleicht deshalb, weil wir zum Unterschied von ihnen unsere Toten ehren).
Ach! Es ist so praktisch, Dummheiten und Lügen zu sagen und zu wiederholen! So billig, zu verleumden und zu diffamieren und dann die Einheit zu predigen, der Hauptfeind, die Unfehlbarkeit des Hirten, die Unfähigkeit der Herde.
Vor vielen Jahren haben die Zapatistinnen und Zapatisten keine Protestmärsche veranstaltet, wir haben keine Parolen gerufen und keine Transparente getragen und auch die Faust nicht erhoben. Bis wir dann einmal marschiert sind. Das Datum: der 12. Oktober 1992, als sie oben die 500 Jahre des »Zusammentreffens der zwei Welten« feierten. Der Ort: San Cristóbal de Las Casas, Chiapas, Mexiko. Statt Transparente trugen wir Pfeil und Bogen und ein stummes Schweigen war unsere Parole.
Ohne viel Radau ist die Statue des Eroberers gefallen. Ob sie sie wieder aufgestellt haben, ist nicht wichtig. Die Angst, die er darstellte, konnten sie nie mehr wieder aufrichten.
Einige Monate nachher gingen wir wieder in die Städte. Auch dieses Mal trugen wir weder Parolen noch Transparente, und wir trugen auch keine Pfeile und Bögen. An jenem Morgen roch es nach Feuer und Pulver und es waren unsere Gesichter die sich erhoben hatten.
Einige Monate nachher kamen einige aus der Stadt. Sie erzählten uns von den grossen Protestmärschen, den Parolen, den Transparenten, den erhobenen Fäusten. Klar, dem fügten sie natürlich immer bei, dass diese Armutscherl von Indianern und Indianerinnen, die wir sind - die Gleichheit des Geschlechts haben sie natürlich beachtet – nur deshalb überlebt haben, weil sie in der Stadt dem Völkermord der ersten Tage des Jahres 1994 Einhalt geboten hätten. Wir Zapatistinnen und Zapatisten fragten nicht, ob es vor 1994 keinen Völkermord gegeben habe, noch ob sie ihn schon aufgehalten hatten, noch ob die aus der Stadt über etwas sprachen was passiert war oder ob sie uns die Rechnung präsentierten. Die Zapatistinnen und Zapatisten haben verstanden, dass es andere Kampfformen gibt.
Später haben wir dann unsere Demonstrationen gemacht, unsere Parolen, unsere Transparente und wir erhoben unsere Fäuste. Seit damals sind unsere Märsche ein blasses Abbild jenes Marsches, der das Morgengrauen des Jahres 1994 entzündete. Unsere Parolen haben den ungeordneten Rhythmus der Lieder aus den Guerrilla-Camps in den Bergen. Unsere Transparente sind mühsam erarbeitet um ein Äquivalent für das zu finden, was in unserer Sprache mit einem Wort ausgedrückt wird, in anderen Sprachen braucht man dafür 3 Bände des Kapitals. Unsere erhobenen Fäuste sind nicht so sehr da um zu drohen sondern um zu grüssen. So als ob sie sich ans Morgen richten würden, nicht an die Gegenwart.
Aber etwas hat sich nicht geändert: unsere Gesichter sind weiterhin erhoben.
Jahre später haben unsere selbsternannten Gläubiger aus der Stadt gefordert, dass wir an den Wahlen teilnehmen. Wir verstanden nicht, denn wir hier, Männer und Frauen, haben nie gefordert, dass sie die Waffen ergreifen sollten, noch dass sie widerstehen müssen, noch dass sie gegen die schlechte Regierung rebellieren sollen, noch dass sie ihre im Kampf gefallenen Toten ehren sollen. Wir forderten nicht, dass sie ihr Gesicht verdecken sollen, dass sie ihren Namen verweigern sollen, dass sie ihre Familie, ihren Beruf, ihre Freunde verlassen sollen, nichts von alledem. Aber die modernen Eroberer, verkleidet als progressive Linke, drohten uns: wenn wir ihnen nicht folgen würden, würden sie uns alleine lassen und wir wären daran schuld, dass die reaktionäre Rechte an die Regierung käme. Sie sagten, das seien wir ihnen schuldig und sie präsentierten uns die Rechnung, aufgedruckt auf einen Stimmzettel.
Wir Zapatistinnen und Zapatisten haben nichts verstanden. Wir haben uns erhoben, um uns selbst zu regieren, nicht, damit uns andere befehlen. Sie wurden zornig.
Wieder einige Zeit später und die aus der Stadt marschieren weiter, schreien Parolen, erheben Fäuste und Transparente und jetzt fügen sie dem Ganzen noch tuits, hashtags, likes, trending topics, followers, hinzu. In ihren politischen Parteien sind dieselben, die noch gestern der reaktionären Rechten angehörten, sie sitzen gemeinsam an einem Tisch, die Mörder und die Familienangehörigen der Ermordeten, lachen und stossen an, auf das, was sie kassiert haben, sie jammern und weinen gemeinsam um die verlorenen Posten.
Währenddessen marschieren wir Zapatist*innen manchmal auch, wir rufen unmögliche Parolen oder wir schweigen, manchmal erheben wir Transparente oder Fäuste, immer den Blick. Wir sagen, dass wir nicht protestieren um den Tyrannen herauszufordern sondern um die zu grüssen, die in anderen Geographien und Kalendern ihm gegenübertreten. Um ihn herauszufordern, bauen wir. Um ihn herauszufordern, errichten wir. Um ihn herauszufordern, wenden wir unsere Phantasie an. Um ihn herauszufordern wachsen und vervielfältigen wir uns. Um ihn herauszuforderen, leben wir. Um ihn herauszufordern, sterben wir. Statt tuits machen wir Schulen und Spitäler, statt trending topicsFeiern, um das Leben zu feiern und den Tod zu besiegen.
Auf der Erde der Gläubiger der Stadt befiehlt weiterhin der Herrscher, mit einem anderen Gesicht, einem anderen Namen, einer anderen Farbe.
Im zapatistischen Land befiehlt das Volk und die Regierung gehorcht.
Vielleicht kommt es daher, dass die Zapatistinnen und Zapatisten nicht verstanden haben, dass wir die sind, die folgen und die Leader der Stadt die, denen man folgt.
Und wir verstehen es noch immer nicht.
Aber es kann ja sein, dass Wahrheit und Gerechtigkeit, die ihr und wir, alle Männer, Frauen und AnderEr suchen, dank der Gaben eines Leaders erreicht werden, der von Menschen umgeben ist, die genauso intelligent sind wie er, sozusagen ein Retter, ein Herrscher, ein Chef, ein Anführer, ein Hirte, ein Regierungschef und all das nur mit der geringen Anstrengung eines Wahlzettels in einer Urne, mit einem tuit, mit einer Anwesenheit an einer Manifestation, einem Meeting, in der Liste der Mitglieder…..oder durch das Maul halten angesichts der Komödie, die patriotisches Interesse simuliert, wo aber nur Machtgier vorhanden ist.
Ob dem so ist oder nicht, das werden uns vielleicht andere Gedanken in diesem Saatbeet sagen.
Was wir Zapatistinnen und Zapatisten gelernt haben ist, dass es nicht so ist. Dass von oben nur Ausbeutung, Raub, Unterdrückung und Geringschätzung kommen. Das heisst, von oben kommt nur der Schmerz.
Und von oben fordern sie von euch, und sie verlangen, dass ihr ihnen folgt. Ihr schuldet ihnen, dass euer Schmerz weltweit bekannt wurde, dass die Plätze voller Menschen sind, die Strassen voller Menschen, Farben und Ideen, habt ihr ihnen zu verdanken. Ihr seid ihnen zu Dank verpflichtet für ihre Arbeit als Stadtpolizei, die »eingeschleuste-anarchische-grausliche-Pfui Teufel- Typen« erkannte, verfolgte und verteufelte. Ihr seid ihnen zu Dank verpflichtet für die wohlerzogenen Demonstrationen, die Berichte in den Zeitungen, die Farbfotos, die positiven Notizen in den Illustrierten.
Wir Zapatistinnen und Zapatisten sagen nur:
Fürchtet euch nicht davor allein zu bleiben, wegen derer, die nie wirklich auf eurer Seite gestanden sind. Die verdienen das nicht. Die zu euch kommen, euren Schmerz wie ein ihnen fremdes Schauspiel betrachten, welches gefällt oder missfällt, aber an dem sie nie wirklich echt teilhaben werden.
Fürchtet euch nicht, von denen verlassen zu werden, die euch nicht begleiten und unterstützen wollen, sondern euch verwalten, bezwingen, gebrauchen, in die Knie zwingen und dann wegwerfen möchten.
Fürchtet euch vielmehr davor, eure Sache zu vergessen, euren Kampf zu verlassen.
Aber solange ihr fest bleibt, solange ihr widersteht, werdet ihr die Achtung und Bewunderung vieler Menschen in Mexiko und auf der ganzen Welt haben.
Menschen wie die, die heute hier bei uns sind.
Wie Adolfo Gilly.
Was ich jetzt sage, wollte ich gar nicht sagen. Warum? Weil ursprünglich sowohl Adolfo Gilly als auch Pablo González Casanova gesagt hatten, dass sie vielleicht aus Gesundheitsgründen nicht kommen könnten. Aber hier ist Adolfo und wir bitten ihn jetzt darum, dass er Don Pablo das hier erzählen möge.
Der dahingeschiedene SupMarcos erzählte, dass einmal jemand rügte, warum die EZLN Don Luis Villoro, Don Pablo González Casanova und Don Adolfo Gilly so viel Aufmerksamkeit schenkten. Der Vorwurf basierte auf den Differenzen, welche diese drei Personen zu den Zapatist*innen unterhielten, dagegen würden Intellektuelle, die hundertprozentige Zapatist*innen seien, nicht mit derselben Hochachtung behandelt. Ich nehme an, dass der Sup seine Pfeife anzündete und dann erklärte: »Erstens sagte er, die Differenzen die bestehen, beziehen sich nicht auf den Zapatismus, sondern auf die Bewertungen, Analysen und Positionen die der Zapatismus zu den verschiedenen Vorkommnissen einnimmt. Zweitens, setzte er fort, habe ich persönlich diese drei Personen gesehen, wenn sie meinen Compañeras und Compañeros Chefs gegenüberstanden. Hierher sind Intellektuelle gekommen, mit grossem Prestige und andere, nun gut, die nicht so viel Prestige haben. Sie sind gekommen und haben ihr Wort gesprochen. Wenige, sehr wenige haben mit den Comandantes und Commandantas gesprochen. Nur bei diesen drei Personen habe ich gesehen, dass meine Chefs und Chefinnen von gleich zu gleich gesprochen und zugehört haben, vertrauensvoll und voll gegenseitiger Kameradschaftlichkeit. Wie haben sie das gemacht? Hm, da müssten wir sie selbst fragen. Was ich weiss ist die Tatsache, dass es schwierig ist, dass Wort und Gehör meiner Compañeras und Compañeros Chefs zu erlangen, in Achtung und mit Herzlichkeit, das ist sehr sehr schwierig. Drittens, setzte der Sup noch hinzu, irrst du dich wenn du glaubst, dass wir Zapatist*innen Spiegel, Hochrufe und Applaus suchen. Wir würdigen und schätzen die Unterschiede im Denken, klar, wenn es sich um kritisches Denken handelt, gut artikuliert und nicht diese Pfuschereien, die zur Zeit so modern sind bei den progressiven Aufgeklärten. Wir Zapatistinnen und Zapatisten beurteilen nicht, ob ein Denken mit uns überein stimmt oder nicht, sondern ob wir dadurch zum denken angeregt werden oder nicht, ob es uns aufregt oder nicht, aber vor allem, ob es die Realität darstellt. Diese drei Personen, das ist wahr, haben Positionen vertreten, die anders sind als die unseren, oft sogar total konträr.
Niemals, niemals waren sie gegen uns. Und trotz der Volatilität der Mode waren sie auf unserer Seite.
Ihre Gegenargumente , ja oft so gar widersprüchlich mit den unseren, haben uns zwar nicht überzeugt, aber sie haben uns geholfen zu verstehen, dass es unterschiedliche Positionen und unterschiedliches Denken gibt, und dass es die Realität ist, die bestraft, nicht ein selbsterrichtetes Gericht, sei das in der Akademie, sei das in der Militanz. Das Nachdenken anregen, die Diskussion, die Debatte, das ist etwas, was wir Zapatistinnen und Zapatisten sehr schätzen.
Daher rührt unsere Bewunderung für das anarchistische Denken. Es ist klar, dass wir keine Anarchisten sind, aber ihre Vorschläge provozieren und geben Mut, sie machen nachdenklich. Und glaubt mir, das orthodoxe kritische Denken - um es irgendeinen Namen zu geben - hat in dieser Hinsicht noch viel vom anarchistischen Denken zu lernen, und nicht nur in dieser Hinsicht. Nur um ein Beispiel zu nennen, die Kritik des Staates als solcher, ist etwas, das im anarchistischen Denken bereits sehr weit fortgeschritten ist.
Aber um auf die 3 Verwünschten zurückzukommen, da sagte der Sup zu dem, der eine zapatistische Rechtstellung forderte, sobald jedweder von euch sich vor jedwedem meiner Compañeras oder Compañeros setzen kann, ohne dass sie sich vor eurem Spott, eurem Urteil, eurer Verurteilung fürchten müssen; sobald ihr erreicht, sie als Gleiche und respektvoll zu behandeln; wenn sie euch dann als Compañeras und Compañeros sehen und nicht als fremde Richter, die sie richten, wie man hier sagt; oder wenn eure Gedanken, ob sie nun mit den unseren übereinstimmen oder nicht, uns helfen, das Funktionieren der Hydra zu entdecken; uns zu neuen Fragen führt; uns neue Wege aufzeigt; uns zum nachdenken veranlässt, oder wenn sie die Analyse eines konkreten Aspekts der Realität erklären oder herausfordern können, dann und nur dann werdet ihr sehen, dass wir euch dieselbe geringe Aufmerksamkeit zollen werden. Bis dahin, fügte der Supmarcos mit diesem bissigen Humor, der ihn kennzeichnete hinzu, lasst ab von diesen heteropatriarchalen, weltlichen, reptilischen und aufgeklärten Eifersüchten.
Ich habe diese Anekdote erzählt, die mir der SupMarcos weitergab, denn vor einigen Monaten, als uns eine Delegation der Familienangehörigen, die um Wahrheit und Gerechtigkeit in Ayotzinapa kämpfen besuchte, erzählte uns einer der Väter von dem Meeting, welches sie mit der schlechten Regierung hatten. Ich erinnere mich jetzt nicht mehr, ob es das erste war. Da erzählte uns Don Mario, dass die Beamten mit ihren Papieren und ihrer Bürokratie daher kamen, so als ob sie einen Nummerntafelaustausch bearbeiten würden und nicht einen Fall von gewaltsamer Entführung. Die Familienangehörigen waren aufgebracht und zornig und wollten sprechen, aber der Bürokrat vor ihnen sagte, dass nur die sprechen dürften, die vorangemeldet waren und er schüchterte sie ein. Don Mario erzählte weiter, dass sie von einem alten Mann begleitet wurden, ´einen weisen´, so würden das die Zapatistinnen und Zapatisten nennen. Ohne dass es jemand erwartete, schlug dieser Mann mit der Faust auf den Tisch, erhob die Stimme und forderte, dass alle Familienangehörigen die es wünschten, sprechen dürften. Don Mario erzählte weiter: »dieser Mann hat keine Angst gehabt, und so ist auch uns die Angst vergangen und wir haben gesprochen, und seit damals haben wir nicht mehr aufgehört zu sprechen«. Dieser Mann, der sich voller Zorn dem Schlendrian in der Regierung entgegenstellte, es hätte auch eine Frau sein können, oder eineRe und ich bin sicher, jeder von Ihnen hätte dasselbe getan, in so einer oder einer ähnlichen Situation, aber es war so, dass es dieses Mal einen war, der Adolfo Gilly heisst.
Compas Familienangehörige:
Das haben wir gemeint wenn wir sagen, dass es Menschen gibt, die mit euch sind, ohne dass sie euch sehen, wie eine Ware die man kauft, verkauft, austauscht oder stiehlt.
Und wie ihn gibt es andere Männer und Frauen und AndereRe, die nicht auf den Tisch schlagen, weil sie keinen vor sich haben, aber wehe, wenn dann würde man es sehen.
Als Zapatist*innen haben wir auch die Erfahrung gemacht dass alles was wir verdienen und benötigen, nicht leicht zu erreichen ist.
Denn die Hoffnung ist für die von oben eine Ware, ja. Aber für die von unten ist sie ein Kampf um eine Wahrheit: Wir werden erhalten, was wir verdienen und brauchen, weil wir uns organisieren und darum kämpfen.
Unser Schicksal ist nicht Glück. Unser Schicksal ist kämpfen, immer kämpfen, zu jeder Stunde, jeden Moment, überall. Macht nichts, wenn der Wind nicht zu unseren Gunsten bläst. Es macht nichts, wenn wir den Wind und alles als Gegner haben. Es macht nichts, wenn der Sturm kommt.
Denn ob ihr es glaubt oder nicht, die Originalvölker sind Spezialisten was Stürme betrifft. Und da sind sie. Da sind wir. Wir nennen uns Zapatist*innen. Seit mehr als 30 Jahren zahlen wir den Preis dafür, im Leben und im Tod.
Das Viele das wir haben, das heisst, unser Überleben - trotz allem und trotz aller oben, die aufeinander folgten im Kalender und in der Geographie - verdanken wir nicht Individualitäten. Das verdanken wir unserem gemeinsamen und organisierten Kampf.
Wenn jemand fragt, wem die Zapatistinnen und Zapatisten ihre Existenz, ihren Widerstand, ihre Rebellions, ihre Freiheit zu verdanken haben, wäre die richtige Antwort: »NIEMAND«.
Denn so funktioniert es, wie das Kollektiv die Individualität annulliert, denn diese zwingt auf und verdrängt und verhängt und simuliert, dass sie leitet und vertritt.
Daher haben wir gesagt, Familienangehörige, Suchende der Wahrheit und Gerechtigkeit, wenn alle von eurer Seite gewichen sind, werden wir bleiben NIEMAND.
Ein Teil dieser NIEMAND, vielleicht der kleinste, sind wir Zapatistinnen und Zapatisten. Aber es gibt mehr, viel mehr.
NIEMAND, das sind die, die das Rad der Geschichte antreiben. NIEMAND ist, wer den Boden bearbeitet, die Maschinen betreibt, wer errichtet, wer arbeitet, wer kämpft.
NIEMAND ist, wer die Katastrophe überlebt.
Aber vielleicht irren wir uns und der Weg, den sie euch vorschlagen, ist der richtige. Wenn ihr das glaubt und so entscheidet, erwartet von uns hier kein gegenteiliges Urteil , keine Verachtung, keine Abweisung. Wir werden euch deshalb genauso schätzen, lieben, bewundern.
-*-
Familienangehörige der Fehlenden von Ayotzinapa:
So viel können wir nicht machen, können wir euch nicht geben.
Dagegen haben wir aber eine Erinnerung, die in Jahrhunderten des Schweigens und der Verlassenheit geformt wurde, in der Einsamkeit, auf dem Platz des Angegriffenen, durch unterschiedliche Farben, durch unterschiedene Fahnen, durch unterschiedliche Sprachen. Immer vom System, dem teuflischen System, das über uns droht. Dem System, welches auf unsere Kosten existiert.
Und vielleicht füllt dieses sture Erinnern keine Plätze, noch gewinnt es oder kauft es Regierungsposten, noch besetzt es Paläste, auch zündet es keine Fahrzeuge an, schlägt keine Fensterscheiben ein, stellt auch keine Monumente in den vergänglichen Museen der Social Media auf.
Das trotzige Erinnern vergisst nur nicht und so kämpft es.
Plätze und Strassen leeren sich wieder, Posten und Regierungen nehmen ein Ende, Paläste stürzen ein, Fahrzeuge und Fensterscheiben werden ausgetauscht, Museen werden modrig, die Social Networks rennen von der einen Seite auf die andere und zeigen dass die Frivolität, so wie der Kapitalismus massiv und gleichzeitig stattfinden können.
Aber es kommt die Zeit, Compas Familienangehörige der Fehlenden, wenn die Erinnerung das einzige ist, was man hat.
Und in diesen Zeiten, das sollt ihr wissen, werdet ihr auch uns Zapatistinnen und Zapatisten der EZLN haben.
Denn wir müssen euch sagen, dass die stetige Erinnerung der Zapatistinnen und Zapatisten eine ganz andere ist. Denn sie schreibt nicht nur die Schmerzen und die Wut aus der Vergangenheit auf und zeichnet im Heft die Landkarten und Kalender und Geographien die von oben vergessen wurden.
-*-
Die Mauer und der Riss.
Als Zapatist*innen, die wir sind, schaut unsere Erinnerung auch auf das was kommt. Weist auf Daten und Orte hin.
Wenn es keinen geographischen Punkt fuer dieses morgen gibt, beginnen wir, Zweige, Steinchen, Fetzen von Kleidern und Fleisch, Knochen und Ton zusammenzutragen, und dann beginnen wir mit der Errichtung einer kleinen Insel, oder besser gesagt, eines Bootes, das wir mitten ins Morgen stellen, dort, wo jetzt nur ein Sturm erahnbar ist.
Und wenn es keine Stunde, Tag, Woche, Monat, Jahr in dem bekannten Kalender gibt, gut denn, dann beginnen wir, Bruchteile von Sekunden, gar Minuten zusammenzufügen, und wir kleben sie zusammen für die Risse, die wir in der Mauer der Geschichte öffnen.
Und wenn es keinen Riss gibt, gut, dann machen wir ihn, mit Kratzen, mit Beissen, mit Fusstritten, mit Schlägen der Hand und des Kopfes, mit dem ganzen Körper, bis wir es schaffen, der Geschichte diese Wunde zuzufügen, die wir sind.
Und dann kann es sein, dass jemand in der Nähe vorbei kommt und uns sieht, sieht die Zapatistin, den Zapatisten, wie sie hart auf die Mauer einschlagen.
Wer so bei uns vorbei geht, ist manchmal jemand der/die glaubt, dass er/sie versteht. Er/sie hält einen Moment inne, schüttelt den Kopf voller Missfallen, richtet und urteilt:: »so werden sie die Maurer nie zu Fall bringen«.
Aber manchmal, sehr sehr selten, kommt einer, eine, eineRe vorbei. Hält an, schaut, versteht, schaut auf seine Füsse, auf seine Hände, auf seine Fäuste, seine Schultern und seinen Körper. Und trifft seine Wahl. »Hier passt es«, würden wir hören, wenn sein/ihr Schweigen hörbar wäre, während er ein Zeichen in die unbewegliche Mauer macht. Und darauf eindrischt.
Da kommt der/die zurück, der/die glaubt, dass er/sie versteht, denn sein/ihr Weg ist immer hin und retour, wie einer, der seine Untergebenen überprüft. Da sieht er den/die andereN, bei derselben dummen Arbeit. Er/sie schätzt ab, ob es genügend gibt, die ihm/ihr Applaus spenden, Bravo rufen, wählen, folgen. Er/sie spricht viel und sagt wenig: »so werden sie nie diese Mauer niederreissen, das ist unmöglich, sie ist ewig, ohne Ende« Falls es ihm/ihr vorteilhaft erscheint, schliesst er/sie: »was ihr machen solltet ist zu schauen, wie die Mauer verwaltet werden kann, den Wächter austauschen, versuchen, sie ein wenig gerechter zu machen, liebenswürdiger. Ich verspreche, dass ich sie weicher mache. Denn auf jeden Fall sind wir immer auf dieser Seite. Wenn ihr so weiter macht, dann spielt ihr nur der aktuellen Verwaltung, Regierung, Staat oder wie sie sonst noch heissen mögen zu, der Unterschied ist nicht wichtig, denn die Mauer ist die Mauer und immer – hört ihr es? – immer wird sie da sein«.
Vielleicht nähert sich noch jemand. Beobachtet schweigend und stellt fest: »anstatt sich gegen die Mauer aufzulehnen müsst ihr verstehen, dass alle Veränderung in einem/einer selbst liegt, es bedarf nur des positiven Denkens, sehen Sie, welcher Zufall, ich habe hier gerade diese Religion, Mode, Philosophie, Alibi an der Hand, das wird Ihnen helfen. Egal ob alt oder neu. Kommen Sie, folgen Sie mir«.
Währenddessen sind die, die auf die Mauer einschlagen besser organisiert, sie gründen Kollektive, Teams, sie lösen sich ab, teilen auf. Es gibt dicke, schlanke, grosse und kleine Teams; da gibt es die Schmutzigen, die Hässlichen, die Bösen und die Frechen; es gibt die Dickköpfigen, die Grossfüssigen, . die mit den schwieligen Arbeitshänden, da sind die Männer, Frauen, AnderEr, die ihre Schulter, ihren Körper, ihr Leben einsetzen.
Hart angreifen, mit allem was dazu möglich ist.
Es gibt die mit einem Buch, einem Pinsel, einer Gitarre, einer Drehscheibe, ein Gedicht, einer Hacke, einem Hammer, einem Zauberstab, einem Bleistift. Also, es gibt sogar jemand, der gegen die Mauer schlägt mit einem »pas de chat«. Und gut, dann kommt was kommen muss. Denn es ist so, dass der Tanz ansteckend ist. Und dann kommt jemand mit einer Marimba, einem Key-board oder einem Fussball und dann die Teams… gut, das Weitere könnt ihr euch ja vorstellen.
Klar, an der Mauer prallt das alles ab. Sie ist weiterhin unbeweglich, mächtig, unbewegt, taub und blind.
Und dann kommen die bezahlten Kommunikationsmedien daher: sie fotografieren, machen Videos, sie interviewen sich gegenseitig, befragen die Spezialisten. Die Spezialisten, allesamt, deren Haupttugend darin besteht, dass sie aus einem anderen Land sind, erklären, den Blick verklärt himmelwärts gerichtet, dass die molekulare Zusammensetzung der Materie, die der Mauer ihre Leiblichkeit verleiht derart ist, dass nicht einmal eine Atombombe und dass, und daher, was der Zapatismus macht, ist völlig unproduktiv und endet schlussendlich darin, Komplize der Mauer zu sein (bereits im off, die Spezialistin hat die Person, die sie interviewt, darum gebeten, ihr einziges Buch zu erwähnen, vielleicht wird dann doch das eine oder ander Stück davon verkauft).
Der Aufmarsch der Spezialist*innen geht weiter. Alle kommen zum gleichen Schluss: es handelt sich um eine sinnlose Anstrengung, so werden sie die Mauer nie zum einstürzen bringen. Schnell rennen die Medien zum Interview mit denen, die eine ´humanere´ Verwaltung der Mauer anbieten. Der Tumult der Kamaras und Mikrophone verursacht einen seltsamen Effekt: wer weder Argumente noch followers hat, erweckt den Anschein, als habe er viele, sowohl von den ersteren als auch vom zweiten. Grosse und berührende Ansprache. Die Nachricht erscheint. Die bezahlten Kommunikationsmedien gehen weg, denn niemand achtete darauf, was der Kandidat, der Leader, der Weise sagte, sie beachteten dagegen ihre Telephone, die – eh klar – zumindest intelligenter sind als der oder die Interviewte, und dort gibt es nichts anderes als ein Erdbeben, und von jenem Beamten haben sie Korruption aufgedeckt, und James Bond ist am Zocalo, und der Kampf des Jahrhunderts hat Millionen angelockt, vielleicht weil sie dachten, dass er zwischen Ausgebeuteten und Ausbeutern stattfände.
Die Zapatistin, den Zapatist fragt niemand. Wenn sie sie fragen würden, gäben sie vielleicht keine Antwort. Oder vielleicht würde er/sie den Grund dieser absurden Anstrengung nennen: »ich will vielleicht die Mauer niederreissen, es reicht, einen Riss hinein zu machen«
Es stand nicht in den geschriebenen Büchern, sondern in denen, die noch nicht geschrieben sind aber bereits von Generationen gelesen wurden, dass die Zapatistinnen und Zapatisten etwas gelernt haben, nämlich wenn du aufhörst, am Riss zu kratzen, dann schliesst er sich wieder. Die Mauer repariert sich selbst. Daher heisst es ohne Ausruhen weitermachen. Nicht nur, um den Riss zu erweitern sondern vor allem, dass er sich nicht wieder schliesst.
Die Zapatistin, der Zapatist, sie wissen auch, dass die Mauer ihr Aussehen ändert. Manchmal ist sie wie ein grosser Spiegel, der das Bild von Zerstörung und Tod widerspiegelt, so als ob nichts anderes möglich wäre. Dann schaut die Mauer wieder angenehm aus und auf seiner Oberfläche erscheint eine beruhigende Landschaft. Dann ist sie wieder hart und grau, so als ob sie ihre undurchdringliche Festigkeit beweisen wolle. Aber meistens ist die Mauer eine grosse Annoncetafel auf der steht: »F-O-R-T-S-C-H-R-I-T-T«.
Aber der Zapatist, die Zapatistin wissen, dass das eine Lüge ist. Sie wissen, dass die Mauer nicht immer hier war. Sie wissen, wie sie entstanden ist. Sie wissen, wie sie funktioniert. Sie kennen ihre Täuschungen. Und sie wissen auch, wie man sie zerstört.
Weder die angebliche Allmacht noch die angebliche Ewigkeit der Mauer beunruhigt sie. Sie wissen, dass beides nicht wahr ist.
Aber im Moment ist das wichtigste der Riss, dass er sich nicht schliesst sondern grösser wird.
Denn der Zapatist, die Zapatistin wissen auch, was es auf der anderen Seite der Mauer gibt.
Würde man sie darum fragen, würden sie antworten »nichts«, aber ihr Lächeln bedeutet so viel als würden sie »alles« sagen.
In einer der Pausen, interviewen die Tercios Compas - die weder Medien sind, noch frei, noch autonom, noch alternativ, weder wie sie sonst noch heissen mögen, aber sie sind Compas – mit strenger Miene jemand, der einschlägt.
»Wenn du sagst, dass es auf der anderen Seite nichts gibt, warum willst du dann einen Riss in die Mauer machen?«
»Um zu schauen« antwortet der Zapatist, die Zapatistin, ohne mit dem Kratzen innezuhalten.
»Und warum möchtest du schauen?« bohren die Tercios Compas weiter, die jetzt alleine hier sind, nachdem alle anderen Medien bereits weggegangen sind. Und um das zu verdeutlichen, tragen sie am Hemd die Aufschrift »Wenn die Medien weg gehen, bleiben die Tercios«. Und natürlich, sie fühlen sich ein wenig unbequem, denn sie sind die einzigen, die fragen anstatt auf die Mauer loszugehen entweder mit der Kamera oder mit dem Aufnahmegerät oder endlich-weiss-ich-wozu-zum-Teufel-dieses-verfluchte tripie-dient.
Die Tercios fragen nochmals, eh klar. Obwohl das nur bis zum Kopf kommt, denn das Aufnahmegerät hat bereits seinen Geist aufgegeben, über die Kamera sprechen wir besser gar nicht mehr, und das dreifüssige Stativ ist einfach ein Tausendfüssler geworden. So wiederholen sie: »Wozu willst du schauen?«
»Um mir alles vorzustellen,was wir morgen machen können«, antwortet der Zapatist, die Zapatistin.
Und wenn der Zapatist, die Zapatistin »morgen« sagte, dann konnte es sehr gut sein, dass er/sie sich auf einen Kalender bezog, verloren in einer Zukunft die kommen wird. Das können Jahrtausende sein, Jahrhunderte, Jahrzehnte, Jahre, Monate, Wochen, Tage… oder morgen? morgen? morgen? Waaaas? Bist du wahnsinnig! Ich habe mich noch nicht mal frisiert!
Aber nicht alle sind daran vorbeigegangen.
Nicht alle sind vorbei gegangen und haben gerichtet und verurteilt oder freigesprochen.
Es gab wenige, es gibt wenige, sehr wenige, so wenige dass sie mit einer Hand abgezählt werden können.
Sie waren da, schweigend, schauend.
Sie sind weiterhin da.
Nur manchmal hört man von ihnen ein »mmh« , das klingt sehr ähnlich wie die Ausdrücke der ältesten Bewohner*innen unserer Comunidades.
Vielleicht glaubt jemand, dass »mmh« fehlendes Inreresse oder Abneigung bedeutet, aber dem ist nicht so. Es bedeutet auch nicht Ablehnung oder Zustimmung. Viel mehr ein »hier bin ich, ich höre dich, ich schaue dich an, mach weiter«.
Diese Männer und Frauen sind schon älter, »weise« sagen die Compas, wenn sie von alten Menschen sprechen um damit auszudrücken, dass die im Kampf abgerissenen Kalenderblätter Verstehen, Wissen und Diskretion bedeuten.
Unter diesen vielen gab es einen, gibt es einen. Manchmal reiht sich dieser Eine in das Fussball-Team ein, welches der Anti-Mauer Teamchef organisiert um weiter darauf einzuschlagen, obwohl es dann ein Fussball sein kann und dann schlägt er auf die Tasten der Marimba.
Wie gewöhnlich fragt man in diesem Spiel um keinen Namen. Einer, eine oder EineRe heisst weder Juan oder Juana oder Krishna, nein. Du wirst nach deiner Stellung benannt. »Hör her Tormann! Hierher Stürmer! Drauf los Vertediger! Gib Gas Linksaussen! Weiter Rechtsaussen!« hört man die Schreie auf der Kuhweide, und die Kühe sind leicht indigniert, denn durch das Hin-und Herlaufen der Teams wird ihr Fressen zertreten.
An einem Rand ist ein Mädchen voller Ungeduld damit beschäftigt, sich die Gummistiefel anzuziehen, die offensichtlich eine Nummer zu gross sind.
»Und du, wie heisst du denn?« fragt der Mann das Mädchen.
»Ich zapatistische Abwehr« sagt das Mädchen und setzt ihr Gesicht auf, welches ausdrücken möchte«wenn du nicht sterben willst, ziehe dich zurück«.
Der Mann lächelt. Er lacht nicht offen. Er lächelt nur.
Das Mädchen, ganz klar, ist dabei, Elemente zu reklutieren, um herausfordern wer verloren hat.
Ja, denn wenn hier das Team gewinnt, dann geht es auf die Mauer los, ganz fest. Das Verlierer-Team muss weiterspielen »bis sie es lernen« sagen sie hier dazu.
Das Mädchen hat bereits einen Teil des Team und sie protzt damit.
»Das ist der Stürmer«, sagt sie und zeigt auf einen Hündchen einer undefinierbaren Farbe wegen seiner verkrusteten Dreckflecken und er bewegt den Schwanz voller Begeisterung. »Ja er läuft, er bleibt kaum stehen, er geht weiter und weiter, bis dorthin« und das Mädchen zeigt mit dem Finger auf den Horizont, den die Mauer verdeckt.
»Wenn er nur nicht auf den Ball vergisst«, sagt sie fast mit einem entschuldigenden Ton, »denn dann nimmt er einen anderen Weg, der Ball bleibt vergessen und der Hund der Stürmer ist, hält den anderen dort an«.
»Das ist der Tormann, aber ich glaube, sie nennen ihn auch Pförtner« sagt sie und zeigt auf ein altes Pferd, ein echt altes.
»Meine Aufgabe«, erklärt das Mädchen »besteht darin, nicht zuzulassen, dass der Ball vorbei fliegt, denn sehen Sie nur, er ist halbblind, es fehlt ihm ein Auge, sein rechtes, deshalb schaut er nur mehr nach unten und links, und wenn der Schuss von rechts kommt, na dann, merkt er es gar nicht«.
»Nun gut, jetzt ist nicht das gesamte Team hier. Es fehlt die Katze… gut, besser gesagt der Hund. Ganz anders ist der wie-heisst-er-sie-nur, schaut aus wie ein Hund, aber miaut wie eine Katze, aber sie bellt. Ich habe im Pflanzenbuch nachgeschaut, wie so ein Tierchen heisst. Habe nichts gefunden. Pedrito sagte, dass der Sup gesagt hätte, es heisst Katze-Hund.
Aber dem Pedrito darf man nicht alles glauben denn…« das Mädchen schaut nach links und rechts, nachdem sie sieht, dass niemand in der Nähe ist, der sie hören könnte, flüstert sie dem Mann zu »dieser Pedrito ist nämlich ein Anhänger von der América«, dann, mit mehr Selbstvertrauen sagt sie: »Sein Vater ist ein Chivas-Fan und wird ganz wild dabei. Dann streiten sie und seine Mama geht dann auf beide los und dann sind sie sofort wieder ruhig. Aber der Pedrito, gross reden von der Freiheit nach den Zapatillas und was weiss ich sonst noch«
»Du meinst wohl Zapatistas« korrigiert der Mann. Das Mädchen üeberhört das geflissentlich, der Pedrito schuldet ihr was und der wird es schon noch kriegen.
»Gut, wie heisst denn du, die/der Katze/Hund da, was denkst du denn? Kann sie/er spielen?«
»Wer weiss« antwortet sie sich selbst.
»Nachdem der Feind nicht weiss, ob er einen Hund oder eine Katze sieht, dreht er sich schnell auf eine andere Seite und zás! Goool. Vor einigen Tagen haben wir fast gewonnen, aber der Ball ist ins Gebüsch geflogen und da kam die Pozol-Pause und das Spiel wurde unterbrochen. Also du, ich sage dir, dieseR Katze-Hund oder wie-er-sie-heisst, was weiss ich. So ganz anders, dieseR Katze-Hund-dieseR, hat ein gelbes Auge, so ».
Der Mann zuckt wie elektrisiert zusammen. Das Mädchen hat mit ihren Händchen eine Farbe beschrieben. Der Mann hat die ganze Welt bereist und mehr. Aber noch nie hat er jemand gefunden, der ihm eine Farbe mit einer Bewegung beschrieben hätte. Aber das Mädchen ist nicht da, um einen Kurs über die Phänomenologie der Farben zu halten und spricht weiter.
»Aber die/der Katze-Hund ist jetzt nicht da« sagt sie bedauernd. »Ich glaube, dass sie/er weg ist, um Pfarrer zu werden, in einem Seminar gegen den verdammten--Kapitalismus-Dickkopf. Weisst du wie der ist, dieser verdammte--Kapitalismus-Dickkopf? Gut schau, ich werde dir einen politischn Vortrag halten. Es ist so, dass das verdammte System dich nicht nur in eine Seite beisst, sondern von allen Seiten bescheisst es dich. Alles beisst es, dieses Scheiss-System, alles frisst es auf und wenn es bereits sehr fett geworden ist, dann speit es und dann geht es mit der Fresserei weiter. Das heisst, damit du mich besser verstehst, der verdammte Kapitalismus hat nie genug. Daher sagte ich zur/zum Katze-Hund da, warum gehst du um Pfarrer zu werden in ein Seminar. Aber sie/er folgt ja nicht. Glauben Sie, dass eine/ein Katze-Hund Pfarrer wird? Nein nicht whar? Nicht durch viele Goals, nicht durch viele gelbe Augen. Würdest du zulassen, dass eine/ein Katze-Hund dich verheiratet,, auch wenn sie/ere in gelbes Auge hat. Nein nicht wahr? Daher, wenn wir heiraten, mein Mann und ich, dann wollen wir nichts vom Pfarrer wissen, nur die autonome Gemeindestandesbeamtin und das auch nur wegen des Tanzes, nur deshalb. Nur mit Erlaubnis, damit sie nicht über uns reden. Ganz allein, ich und mein dieser-wie-sagt – man-nur, und wenn der Mann für nichts nutz ist, dann kann er abrauschen. So sagt meine Grossmutter, die schon alt ist, aber ja, sie hat am 1. Jänner 1994 gekämpft. Weisst Du nicht, was am 1. Jänner 1994 passiert ist?Ok, später singe ich dir ein Lied, wo alles ganz klar erklärt wird. Jetzt nicht, vielleicht müssen wir bald spielen und dafür muss ich bereit sein. Aber damit du nicht über diesr offene Angelegenheit nachsinnieren musst, sage ich dir, dass wir an jenem Tag den verdammten verfluchten schlechten Regierungen gesagt haben, dass es reicht, bis hierher und nichtt weiter, es reicht mit ihren Schweinereien. Und meine Grossmutter sagt, es war wegen der Frauen, wenn es auf die verdammten Männer angekommen wäre, dann wären wir weiterhin dort, nichts als Mitleidsobjekte, ganz gleiche wie die, die den Parteien nachlaufen. Gut, bisher habe ich noch niemand gefunden, der mir als Ehemann passen würde, denn die Männer sind ziemlich lahmarschig, sollst du mal sehen. Und jetzt bin ich ja noch ein Kind. Aber bald werden sie mich anschauen, sehr viel sogar, die verdammten Männer, aber ich, ernst, nichts von wegen, ich weiss nicht, ich werde, wie man so schön sagt, mir meinen Platz erobern und wenn der verdammte Ehemann zu weit gehen will, gut, dafür gibt es die zapatistische Verteidigung, dann kriegt er seinen zape und zum Teufel, er muss mich als zapatistische Frau respektieren, die ich bin. Natürlich, er wird es nicht gleich kapieren, und so braucht er mehrere zapes, bis er den Kampf versteht, den wir Frauen führen.
Der Mann hat den Redeschwall des Mädchens aufmerksam verfolgt. Nicht so das Hündchen mit den verkrusteten Dreckflecken, wer weiss, wo das umgeht. Noch das einäugige Pferd, das andächtig an einem Plastikstück kaut, Überbleibsel der Schüler der kleinen Schule. Trotz alledem, der Mann lachte nicht, er schaffte es gerade, so schnell mit den Augen zu blinzeln, wie seine Überraschung gross war.
»Wir werden bald mehr sein«, versichtert das Mädchen »das dauert vielleicht eine Weile, aber bald werden wir mehr sein«.
Der Mann versteht, dass das Mädchen sich jetzt auf ihr Team bezieht. Oder nicht?
Aber das Mädchen sieht den Mann jetzt mit Argusaugen an und nach einigen »mmh« stösst sie hervor »Und du, wie heisst du denn?«.
»Ich?« fragte der Mann gedehnt und wusste, dass sie nicht seinen Stammbaum noch sein Wappen kennenlernen wollte, sondern seine Stellung.
Nachdem der Mann geistig alle Optionen durchgegangen war sagte er: »ich heisse Ballaufsammler«.
Das Mädchen schweigt und schätzt die Nützlichkeit dieser Position ab.
Nach kurzem Nachdenken sagt sie zum Mann, nicht um ihn zu trösten, sondern damit er sich seiner Bedeutung bewusst wird:
»Ballaufsammler, das kann nicht jeder sein. Sehen Sie, wenn der Ball dort hin fliegt, dort beim Acahual-Gras, vergiss es, da will keiner hin, dort ist es echt wild, voller Dornen, viele mostazilla, Spinnen, ja sogar Schlangen gibt es dort. Oder wenn der Ball in den Bach fliegt, und man erwischt ihn nicht, weil das Wasser ihn wegschwemmt, dann muss man echt laufen, um den Ball zu erwischen. Das heisst, Ballaufsammler sein ist wichtig, klar natürlich. Ohne Ballaufsammler gibt es einfach kein Spiel. Und wenn es kein Spiel gibt, dann gibt es kein Fest danach, und wenn es kein Fest gibt, dann gibt es keinen Tanz danach, und wenn es keinen Tanz gibt, dann habe ich mich für nichts und wieder nichts frisiert, und für nichts und wieder nichts die schönen Haarspangen aufgesteckt, die färbigen, schau mal da sind sie«, sagt das Mädchen und zieht aus ihrer Umhängetasche mit den verschiedensten Farben, so viele, das es sie noch gar nicht alle gibt.
»Nicht jeder kann Ballsammler sein«, wiederholt das Mädchen und sie umarmt den Mann, nicht um ihn zu trösten sondern um ihm zu zeigen, dass alles, was Wert ist getan zu werden, im Team gemacht werden muss, im Kollektiv, jedem und jeder kommt seine/ihre Arbeit zu.
»Ich würde es gerne machen, aber nein. Ich habe so viel Angst vor den Spinnen und den Schlangen. Vor ein paar Tagen habe ich gar einen ganz bösen Traum gehabt, schuld daran war die verdammte Schlange, die ich auf der Kuhweide gesehen habe. So gross« und sie dehnt ihre Arme so weit aus wie sie kann.
Der Mann lächtelt weiter.
Das Spiel ist zu Ende, das Mädchen musste das Team nicht verstärken zwecks der Herausforderung und sie ist auf dem Boden eingeschlafen.
Der Mann steht auf und bedeckt sie mit seiner Jacke, denn der Abend bricht herein mit der Frische, die die Erde braucht. Vielleicht wird es sogar regnen.
Ein Miliciano kommt jetzt mit dem Ausweis zurück, den die Junta de Buen Gobierno verlangte. Der Mann wartet, bis er daran ist.
Endlich wird sein Name aufgerufen und er geht nach vorne um seinen Pass abzuholen auf dem steht »República Oriental del Uruguay«. Drinnen ist ein Foto eines Mannes dessen Gesicht ungefähr folgendes ausdrückt »Was zum Teufel mache ich denn eigentlich hier?« und unter ´Name´ steht »Hughes Galeano, Eduardo Germán María«.
»Hören Sie mal« fragt ihn der Miliciano, »haben Sie diesen Namen zu Ehren unsers Kampfgenossen Sergeant Galeano gewählt?«.
»Ja, ich glaube schon«, antwortet der Mann, während er nachdenklich seinen Pass entgegennimmt.
»Ach«, sagt der Miliciano, »das habe ich mir ohnehin so gedacht«.
»Hören Sie und Ihr Land, wo ist denn das genau?«
Der Mann schaut den zapatistischen Milizionär an, schaut auf die Mauer, schaut auf die Menschen, die wild am Riss graben, schaut auf die Kinder die spielen und tanzen, schaut auf das Mädchen, das versucht, mit dem kleinen Hund zu sprechen, mit dem halbblinden Pferd und dem Tierchen, welches gut eine Katze sein könnte oder ein Hund und sagt resigniert: »auch hier«.
»Ach so« sagt der Milizionär »und was machen Sie?«
»Ich?«, und der Mann sucht eine Antwort, während er sich seinen Rucksack schultert.
Und plötzlich, so als ob er erst jetzt alles verstehen würde, antwortet er mit einem Lächeln »Ich bin derBallaufsammler«.
Der Mann entfernte sich und hörte nicht mehr, wie der zapatistische Militionär bewundern murmelte: »Ach, ein Ballaufsammler, das kann nicht jeder sein«.
Bei der Aufstellung sagt der Milizionär zum anderen: »Hör mal Galeano, heute habe ich einen aus der Stadt kennengelernt, der hat deinen Namen angenommen«.
Der Sergeant Galeano lächelt und antwortet »nein, das glaube ich nicht, warum sollte er das denn machen?«.
»Ist doch eh klar«, sagt der Milzionär, »woher würde er denn sonst den Namen nehmen, dieser Herr da«.
»Ach wirklich«, sagt der Sergeant der Miliz und Lehrer der kleinen Schule Galeano , »und was ist er denn, dieser Mann?«.
»Er ist Ballaufsammler« sagt der Miliciano und rennt los, um noch Pozol zu erwischen.
Der Miliz-Sergeant Galeano nimmt sein Notizheft, steckt es in seine Umhängetasche und sagt wie zu sich selbst: »Ballaufsammler, wie wenn das so leicht wäre. Das können nicht viele. Um Ballaufsammler zu sein, braucht man ein grosses Herz, das ist genau so wie Zapatist*in sein, auch Zapatist*in sein, das können nicht viele. Obwohl, das ist schon auch wahr, dann gibt es die, die nicht wissen, dass sie Zapatist*in sind….bis er/sie es dann bemerken«.
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Vielleicht glaubt ihr mir nicht, aber das, was ich euch erzählt habe, geschah vor kurzem, vor einigen Tagen, Wochen, Monaten, Jahren, Jahrhunderten, damals als die April-Sonne die Erde ohrfeigte, nicht um ihr weh zu tun, sondern um sie aufzuwecken.
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Schwestern und Brüder, Familienangehörige der Fehlenden von Ayotzinapa:
Euer Kampf ist bereits ein Riss in der Mauer des Systems. Lasst nicht zu, dass Ayotzinapa abgeschlossen wird. Durch diesen Riss atmen nicht nur eure Söhne, auch die Tausende von vermissten Männern und Frauen, die auf der Welt fehlen.
Damit sich dieser Riss nicht schliesst, damit dieser Riss tiefer und breiter wird, habt ihr in uns Zaptist*innen Mitstreiter im gemeinsamen Kampf: der, der den Schmerz in Wut verwandelt, die Wut in Rebellion, und die Rebellion in ein Morgen.
SupGaleano.
Mexiko, 3. Mai 2015.
Quelle:
http://enlacezapatista.ezln.org.mx/2015/05/03/el-muro-y-la-grieta-primer-apunte-sobre-el-metodo-zapatista-supgaleano-3-de-mayo/
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