Donnerstag, 28. Mai 2015

Faschismustheorien

Erklärungen des NS vorgestellt – Die Bonapartismustheorie Dieser Artikel bildet den Auftakt zu einer Reihe, welche die wesentlichen Faschismustheorien und Erklärungsansätze über den historischen Nationalsozialismus vorstellt und einordnet. In diesem ersten Beitrag stellen wir die Bonapartismustheorie vor. Fabian Kunow Rund um den 8. Mai 1995, den fünfzigsten Jahrestag der totalen Kapitulation Nazi-Deutschlands, war die antifaschistische Öffentlichkeit besorgt, dass mit diesem Datum der viel geforderte »Schlussstrich« unter die deutsche NS-Vergangenheit gezogen würde. Dieses Szenario trat allerdings nicht ein. Vielmehr beschäftigte sich die ambitionierte Öffentlichkeit weiterhin, wenn nicht sogar vermehrt mit der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945. Zeugnis legen davon das in Deutschland breit rezipierte Buch »Hitlers willige Vollstrecker« von Daniel Goldhagen, die sehr gut besuchte Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht« I und II, die Diskussionen um das Holocaust-Mahnmal und eventuell andere zentrale nationale Mahnmale für die anderen NS-Opfergruppen. Zu nennen wären hier natürlich auch die weniger schönen Momente des Interesses an der deutschen Geschichte wie »der Brand« von Jörg Friedrich, der das deutsche Leid ins Zentrum rückte. Oder Guido Knopps seichte Unterhaltungssendungen wie »Hitlers Frauen« usw., welche mit leichtem Nazi-Gruselfaktor inklusive eine beachtliche Anzahl an Fernsehzuschauern nicht den Kanal wechseln lassen. Fest steht: NS sells! Allen diesen wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Arbeiten ist eines gemeinsam. Sie picken sich nur einzelne Aspekte der NS-Herrschaft und der breiten Verstrickungen mit dieser heraus und dokumentieren ihre Ergebnisse einem breitem Publikum auch jenseits der Historikerzunft. Keiner der oben genannten Historiker versucht hingegen allgemeiner den Nationalsozialismus als Gesellschaftsform und seine Entstehung bzw. seine Massenbasis zu erklären oder eine universelle Faschismustheorie als Möglichkeit des Vergleichs der verschiedenen Faschismen zu entwerfen. Dabei gibt es bekanntlich deutlich mehr als eine Faschismustheorie oder einen Erklärungsansatz des NS. In den verschiedenen Faschismustheorien spiegeln sich die unterschiedlichen politischen Standpunkte der urhebenden Wissenschaftler und ihrer Schulen wieder. Warum jetzt? Dabei hat die Auseinandersetzung mit einer Theorie des Faschismus – neben der Notwendigkeit des Interesses am Gegenstand an sich für jeden politisch bewussten Antifaschisten – wieder an Konjunktur zu gewinnen. Allein durch die Tatsache, dass wieder vermehrt Parallelen zwischen dem historischen Faschismus und der NS-Ideologie und aktuellen Regimes und Bewegungen gezogen werden. Gerade die aktuelle Renaissance der Kategorie Faschismus, welche nicht unbedingt aus der klassischen Linken kommt, stellt Antifaschisten vor neue theoretische Hürden. Nun gilt es zu prüfen, ob der Begriff des Faschismus/Nationalsozialismus überhaupt tauglich ist zur Kategorisierung heutiger (neuer) politischer Phänomene. Hierfür muss – oder besser gesagt müsste – jeder politisch aktive Antifaschist überhaupt erstmal ein überblickhaftes Bild von den verschiedenen relevanten Faschismustheorien/ Erklärungen des NS besitzen. Um dann den Vergleich anstellen zu können, egal, mit welchem Ergebnis dieser dann endet. Die Bonapartismustheorie und ihre Anwendung auf den Faschismus Als erster Schritt in diese Richtung soll hier die »Bonapartismustheorie« als Versuch einer marxistischen Faschismusdeutung vorgestellt werden. Mit Hilfe dieser versuchten u. a. der österreichische Sozialdemokrat Otto Bauer und der Kommunist August Thalheimer unabhängig voneinander, noch vor der Machtübernahme der Nazis in Deutschland das damals neue Phänomen der faschistischen Bewegung und ihrer Machtergreifung theoretisch zu fassen. Der Vordenker der österreichischen Sozialdemokratie und Mitbegründer des sogenannten Austromarxismus Otto Bauer griff ebenso wie der intellektuelle KPD-Dissident August Thalheimer auf die gesellschaftsanalytischen Beobachtungen von Karl Marx in dessen Werk »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« von 1851/52 und anderer Schriften von Marx und Engels zurück. Wann kann von bonapartistischer Herrschaft gesprochen werden? Für eine bonapartistische Machtübernahme ist zunächst eine existente bürgerliche Gesellschaft nötig, welche sich in der politischen Sphäre durch eine Gewaltenteilung in eine Exekutive (Exekutivgewalt), eine Legislative (eigenständiges Parlament) und eine Judikative (unabhängige Justiz) auszeichnet. Als ökonomische Basis besitzt die bürgerliche Gesellschaft die Marktwirtschaft. Die politische und die soziale Macht besitzen denselben Träger, die Bourgeoisie. Bonapartismus wird in der (marxistischen) Wissenschaft allgemein verstanden als die Ausschaltung der Legislative zu Gunsten einer starken Exekutivgewalt, womit sich das Bürgertum politisch selbst entmachtet zu Gunsten einer autoritären antidemokratischen Herrschaft, um ihre soziale Macht, in Form der Herrschaft über die Produktionsmittel, gegenüber einer starken sozialistischen Bewegung abzusichern. Aus diesem Grund lehnt beispielsweise der Historiker Wolfgang Wippermann richtigerweise den Begriff »Bonapartismus« für die Herrschaft Bismarcks ab, da es vor seiner autoritären Herrschaft keine eigenständige parlamentarische Legislative gab, die ihre Macht zu Gunsten Bismarcks verlor. Für die Weimarer Republik sind hingegen alle Vorausetzungen gegeben, die Machtübergabe an die NSDAP als bonapartistisch zu kennzeichnen – wenn denn so gewollt. Marx feines Soziologenauge In »Der 18te Brumaire des Louis Bonaparte« betreibt Karl Marx eine historische und vor allem soziologische Abhandlung der Ereignisse von 1848 – 1851 und des Beginns der despotischen Herrschaft Louis Bonapartes (Napoleon III.) in Frankreich. In seinem Text beschreibt Marx mittels des von ihm geschaffenen methodischen Zugangs, dem »historischen Materialismus«, warum sich welche gesellschaftlichen Akteure wie verhielten in dieser politischen Krisenzeit in Frankreich. Marx war dabei teilweise selbst Zeitzeuge dieser politisch sehr turbulenten, aber kurzen Zeitspanne. Marx teilt diese in drei Perioden ein – die Februarrevolution, die Periode der Konstituierung der Republik oder der konstituierenden Nationalversammlung und die Periode der konstitutionellen Republik und der legislativen Nationalversammlung. Diese drei aufeinander folgenden Perioden wurden abgelöst und beendet durch den »coup d` ètat« Bonapartes. Die Herrschaft Bonapartes wird im »achtzehnten Brumaire« nur zu ihrem Anfang bzw. während der Transformation in diese beleuchtet. In späteren Texten von Marx und Engels werden immer wieder Versatzstücke der Bonapartismustheorie aufgenommen und angewandt auf die Situation in anderen Nationen. Marx entwirft im »achtzehnten Brumaire« eine Staatstheorie, welche sich klar abhebt von der im Kommunistischen Manifest getätigten Aussage, »die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuß, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der Bourgeoisklasse verwaltet«. Im »18ten Brumaire« hingegen wird der moderne (französische) Staat in Form seiner Exekutive als »eine ungeheure bürokratische und militärische Organisation« beschrieben, in welche alle gesellschaftlichen Interessensgruppen drängen, als ein immer größer werdender Apparat, je ausdifferenzierter das gesellschaftliche Gefüge wird. Dieser aufgeblähte Apparat entwickelt ein Eigenleben und wird selbst zum gesellschaftlichen Akteur. Bei einem »Gleichgewicht der Klassenkräfte« kann sich der gesellschaftliche Akteur Staat von der bürgerlich-republikanisch verfassten Gesellschaft verselbständigen, um mit den Mitteln seines Gewaltapparates selbst diktatorisch zu herrschen. Die Wirtschafts- und Sozialpolitik Louis Bonapartes würde heute wohl am ehesten mit dem Begriff des »Populismus« charakterisiert werden. Anwendung der Bonapartismustheorie auf das faschistische Italien Verschiedene sozialistische AutorInnen bemühten die Analyse von Karl Marx, welche er im »achtzehnten Brumaire« niederschrieb, in der ersten Hälfte der 1920er Jahre zur Erklärung des neuen gesellschaftlichen Phänomens »Faschismus«, welches in Italien ab 1922 an die Schalthebel der politischen Macht gelangt war. So schrieb die Sozialistin Oda Olberg schon 1923, dass es im italienischen Faschismus zu einer Verselbständigung der Exekutive gekommen sei und der Faschismus nicht nur als »Handlanger der regierenden Clique« angesehen werden könne, da er über eine eigene soziale Basis verfüge. So stelle der Sieg des italienischen Faschismus für das Bürgertum keinen Sieg da, »obwohl er eine Niederlage des Proletariats« gewesen sei. Gerade die Überlegungen zur Verselbständigung der Exekutivgewalt fanden bei vielen sozialistischen Intellektuellen in den zwanziger Jahren Anklang. Der meist diskutierte Aufsatz dürfte der des österreichischen Linksintellektuellen und Vordenkers und Vorsitzenden der SPÖ Otto Bauer, »das Gleichgewicht der Klassenkräfte« aus dem Jahre 1924 sein. Bauer sah in den Jahren nach dem 1. Weltkrieg in fast allen europäischen Ländern ein »Gleichgewicht der Klassenkräfte«. Die Bourgeoisie herrschte zwar noch sozial-ökonomisch, konnte ihre Macht aber nicht auch überall politisch gegen die starke Arbeiterbewegung komplett durchsetzen. Dieses Gleichgewicht, das in den einzelnen Ländern sich verschieden zusammensetzt, führe aber zu verschiedenen Zuständen in der Sphäre der Politik. Bauer sah einige Staaten in einer Übergangsphase zu einem Arbeiterstaat, in anderen Ländern kam es zu einer Teilung oder Koalisierung der Macht zwischen den Arbeiter- und Bourgeoisieparteien. In Italien sei mit dem Faschismus »das Gegenstück des französischen Bonapartismus« an die Macht gekommen und habe »eine Diktatur über alle Klassen« errichtet. Der Aufsatz Otto Bauers besitzt eine solche Relevanz, da er nicht nur in der Sozialistischen Internationale breit diskutiert wurde. Auch war er die einzige Überlegung zur Erklärung des Faschismus auf Grundlage der Bonapartimustheorie, welche von ihrem Gegner Georgi Dimitroff namentlich erwähnt wurde. Für Dimitroff, wie für die meisten an der Sowjetunion orientierten Kommunisten, war der Faschismus bekanntlich die »offene, terroristische Diktatur der am meisten chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« (Dimitroff) und nicht die sich verselbständigende Exekutive. Bauer änderte 12 Jahre später in seinem im Exil erschienenen Buch »Zwischen zwei Weltkriegen? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus« teilweise seine von der Bonapartismustheorie geprägte Faschismusanalyse. Bauer wurde soziologisch und historisch genauer bei der Betrachtung des italienischen Faschismus, der damals schon weit über zehn Jahre herrschte, und des deutschen Faschismus, welcher sich inzwischen fest etabliert hatte. Den Prozess des an die Machtkommens des italienischen, wie des deutschen Faschismus zeichnete er nach wie Karl Marx den Werdegangs Louis Bonapartes. Bauer legte im Gegensatz zu Marx im »18ten Brumaire« mehr Wert auf die prozesshafte Entwicklung der faschistischen Basis und ihrer ideologischen Versatzstücke, zum Beispiel ihres Antikapitalismus. Zudem weicht Bauer bei der Analyse des Faschismus nach dessen »Bewegungsphase« von den Überlegungen Marx' zum Bonapartismus ab. Hier kommt er der Analyse der Komintern deutlich entgegen, wenn er für den fest im Sattel sitzenden Faschismus, welcher sich teilweise seines Antikapitalismus entledigt hatte, in Deutschland nach der blutigen Beseitigung des nationalrevolutionären SA-Flügels am 30. Juni 1934, zu dem Schluss kommt: »Unter der faschistischen Diktatur üben Großkapital und Großgrundbesitz ihre Diktatur aus, indem sie sich der regierenden Kaste bedienen, die durch den Sieg des Faschismus zur Macht gelangt ist.« August Thalheimer Der Vorsitzende der KPD und spätere KPD-Dissident August Thalheimer veröffentlichte mehrere Artikel zum Theoriekomplex »Faschismus« in der Zeitschrift »Gegen den Strom«. Diese Zeitschrift wurde von der KPD-Abspaltung KPD-Opposition, welcher auch Thalheimer angehörte, herausgegeben. Die KP-O, von ihren Spöttern KP-Null genannt, war im Gegensatz zur KPD nicht Moskau-hörig. Ihre deutlich kleinere Basis, sie lag im Bereich einiger Tausend Mitglieder, bestand vor allem aus mit dem offiziellen KPD-Kurs unzufriedenen Intellektuellen. Sie besaß nur einige regionale Hochburgen. Thalheimer schrieb 1930 die Artikelreihenfolge »Über den Faschismus« in der Zeitschrift »Gegen den Strom«. Gleich zu Beginn macht Thalheimer deutlich, dass um die Überlegungen und Beobachtungen von Marx zur Machtergreifung und Herrschaft Louis Bonapartes auf den italienischen Faschismus und eine potenzielle faschistische Bedrohung in anderen bürgerlichen Staaten anzuwenden, die Unterschiede zwischen Faschismus und Bonapartismus herausgearbeitet werden müssen. Faschismus und Bonapartismus seien nicht genau analog, aber beide seien verwandte Erscheinungen. Ihre Verwandtschaft bestehe neben den gleichen Wesenmerkmalen in ihrer internationalen Dimension. Faschismus und Bonapartismus seien internationale gesellschaftsanalytische Kategorien, mit denen jeder bürgerliche Staat untersucht werden könne. Faschismus war für Thalheimer keine nationale Besonderheit. Der Faschismus sei aber nicht die »schließende Form« bürgerlicher Herrschaft, da die viel weiter entwickelten kapitalistischen Ländern wie die USA oder England keinen Faschismus ausgebildet hatten. Faschismus trete in den Ländern auf, in der die Bourgeoisie existenziell durch eine proletarische Revolution bedroht sei, so dass eine offene Form der kapitalistischen Diktatur zu deren Rettung nötig sei. Hier würden sich Bonapartismus und Faschismus treffen. Statt als die offene Form der Diktatur der Bourgeoisie sei der Faschismus nur als eine mögliche Form zu beschreiben. Der Faschismus sei die zeitgemäße Form einer kapitalistischen Diktatur auf dem Stand der kapitalistischen Entwicklung in seiner Zeit. Die Form der Staatsmacht unterscheide den Faschismus von anderen Formen bürgerlicher Herrschaft in seiner Epoche, genauso wie Bonapartismus sich von anderen Formen bürgerlicher Herrschaft in seiner Zeit unterschied. Offene Formen bürgerlicher Diktatur kehren für Thalheimer periodisch wieder, sie sind also keine einmaligen Erscheinungen. Sie kehren wieder, wenn es zu einem bestimmten Gesamtverhältnis der Klassen kommt, dem »Gleichgewicht der Klassenkräfte«. In anderen Ländern, wo es zu keiner offenen Form bürgerlicher Diktatur kommt, sei die Bourgeoisie einfach sozial und politisch zu stark. In diesen Staaten brauche die Bourgeoisie niemanden, der für sie für Ruhe und Ordnung sorgt. Thalheimer verglich empirisch die Wesenmerkmale, in denen sich Bonapartismus und Faschismus gleichen. Bei beiden werden politisch alle unter die diktatorische Staatsmacht unterworfen. Gleichzeitig versucht der Faschismus wie der Bonapartismus als Wohltäter aller Klassen aufzutreten, was zu Widersprüchen im Inneren führt. Der faschistische wie der bonapartistische Staat versuchen sich als Vermittler zwischen Bourgeoisie und Proletariat bei gleichzeitigem politischen Unterdrücken von beiden und sozialer Herrschaft der Großbourgeoisie. Geführt wird der Staat jeweils von einem »Emporkömmling«. Die faschistische Partei in Italien sei wie die Organisation der »Dezemberbande« Bonapartes ein Sammelbecken für Deklassierte aller Klassen. Die faschis tische Partei sei aber im Gegensatz zur »Dezemberbande« eine echte Massenbewegung. Zudem müsse der Faschismus immer einen imperialistischen Charakter haben aufgrund der Weiterentwicklung der Produktivkräfte zum Frankreich Bonapartes. Thalheimer geht im gleichen Text auf die Situation in anderen Ländern ein. Er macht deutlich, dass nicht jede Diktatur oder Staatsstreich der Bourgeoisie bonapartistische oder faschistische Züge trage. Viel mehr wäre der Faschismus eine bestimmte Form der Staatsmacht, welche es nicht in allen Diktaturen gebe. Er setzt sich also für eine klare, fest umrissene Faschismuskategorie ein. Dieses ist Thalheimer auch in anderen Texten wichtig. So tritt er dem unsäglichen Begriff des »Sozialfaschismus« entgegen, welchen die Moskauhörige KPD bis zu dessen Widerruf durch die Komintern 1935 für die Sozialdemokratische Partei verwendete entgegen. Er war gegen einen inflationär benutzten Faschismusbegriff, wie die KPD ihn zum Ende der Weimarer Republik gegen alle ihre politischen Gegner in Stellung brachte. August Thalheimer war neben einem Faschismustheoretiker auch ein guter Chronist seiner Zeit, der neben dem frühen Erkennen der Gefahr, welche von der in den 1920er Jahren noch mickrigen NSDAP ausgehen könnte, auch erkannte, was für eine Gefährdung von der Stärkung des Reichspräsidenten für die Weimarer Republik ausging. Hier erkannte Thalheimer gut das prozesshafte »Verselbständigen der Exekutivgewalt«. Die Mehrheit seiner Prognose, wie die Weimarer Republik enden würde, trat so auch ein. Er wusste durch seinen klaren Faschismusbegriff auch, was für eine Zäsur für Kommunisten und andere Sozialisten eine Herrschaft der NSDAP werden würde. Die KPD dachte hingegen, dass Hitler nur eine kurze Zwischenetappe auf dem Weg zur proletarischen Revolution unter ihrer Führung sei. Thalheimer wie auch Dimitroff und mit ihm die Sowjetunion irrten aber mit der Annahme, dass die faschistischen Parteien an ihren eigenen inneren Widersprüchen zerbrechen würden. Der Faschismus in Deutschland wie in Italien zerbrach bekanntlich nicht, sondern hielt sich sehr gut bis zu seiner militärischen Niederlage, welche ihm von außen beigebracht werden musste. Thalheimers Erben Mit Thalheimers Analyse des Faschismus setzen sich ab den 1960er Jahren antifaschistische Intellektuelle aus Westdeutschland auseinander. Seine Gedanken finden sich wieder in der »Marburger Schule« Wolfgang Abendroths und seiner Schüler. Die »Marburger Schule« prägt das Faschismusbild der westdeutschen Linken und später der gesamten Antifabewegung. Gerade die prozesshafte Entwicklung der Selbstentmachtung der bürgerlichen Demokratie hin zu einer starken Exekutive in Form des Reichspräsidenten fand in der Neuen Linken Westdeutschlands eine starke Rezeption. Sie drückte sich in der Angst vor einer »Faschisierung« der BRD aus. Der Begriff der »Faschisierung« ging einher mit einer Trennung des Faschismus in einen »Faschismus von Oben« und einen »Faschismus von Unten«. Mit »Faschismus von Unten« waren Bewegungen, Parteien, »Banden«, welche auf der Straße aktiv waren, gemeint. Als »Faschismus von Oben« galt die Etablierung einer autoritären Ordnung auf parlamentarischen Wege durch ein ständiges Stärken der Exekutive, die nicht mehr von der Gesellschaft kontrolliert würde bzw. werden könne. Dieses führte zu einer Angst, die in jeder Verschärfung beispielsweise eines Polizeirechts einen neuen Faschismus aufziehen sah und mit dieser alarmistischen Befürchtung agitierte, statt solche Gesetzverschärfungen an sich zu kritisieren bzw. festzustellen, dass sich gleichzeitig bestimmte gesellschaftliche Bereiche liberalisierten und zum Besseren änderten. Kritik Mit dem der Bonapartismus-These von Marx und ihren Anwendern auf den historischen Faschismus entnommenen Konstrukt der »Verselbständigung der Exekutivgewalt« und ihrer Kaperung durch eine Partei bzw. Bewegung konnte und kann heute noch viel über das Wesen der Herrschaft des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus erklärt werden. Die im NS herrschenden Ideologien wie der eliminatorische Antisemitismus werden leider nicht genug berücksichtigt. Hier muss aber zur Verteidigung Bauers und Thalheimers, die den Antisemitismus falscherweise nur als taktisches Ablenkungsmanöver gesehen haben, der Zeitpunkt ihrer Veröffentlichungen angeführt werden. Ihre Anwendung der Bonpartismus-Theorie erfolgte in den 1920 und 1930er Jahren. Der Vernichtungsantisemitismus als wesentlicher Teil des NS-Staatsprogramms war in dieser Form damals noch nicht absehbar. Leicht gerät bei der bonapartistischen Lesart des historischen Faschismus aus dem Blickwinkel, dass der Faschismus und im Besonderen der NS über eine Massenbasis und Verankerung in der Bevölkerung verfügten. Selbst noch im Angesicht der absehbaren totalen militärischen Niederlage reichte die Begeisterung für das faschistische Gesellschaftsprojekt weit über den engen Kreis der Nazi-Funktionäre hinaus. Die Wahrnehmung der Deutschen als relativ funktionierende Volksgemeinschaft war nicht nur ein ideologisches Hirngespinst einiger Parteimitglieder. Der NS war einfach mehr als nur die Diktatur der »verselbständigten Exekutivgewalt«. Fabian Kunow widmet sich dem Vergnügen, dem Sport und dem Studium der Sozialwissenschaften in Berlin Literatur · Bauer; Otto (1924): »Das Gleichgewicht der Klassenkräfte«. In: »Otto Bauer Werksausgabe« Band 9. (Hrsg.) Arbeitsgemeinschaft für die Geschichte der österreichischen Arbeiterbewegung. Wien. Europaverlag. S. 55 – 71 · Bauer, Otto (1936): »Zwischen zwei Weltkriege? Die Krise der Weltwirtschaft, der Demokratie und des Sozialismus«. Bratislava. Eugen Prager Das Kapitel über den Faschismus ist auch im Web erhältlich: http://www.otto-bauer.net/otto_bauer_faschismus.html · Griepenburg, Rüdiger/Tjaden, K. H. (1966): »Faschismus und Bonapartismus«. In: Das Argument 41. 5. Auflage. Berlin. Argument-Verlag. S. 461 – 473 · Gruppe Arbeiterpolitik (1973): »Der Faschismus in Deutschland. Analyse der KPD-Opposition aus den Jahren 1928 – 1933«. Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt/Main · Mackenbach, Werner (1995): »Bonapartismus«. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus. (Hrsg.) Wolfgang Fritz Haug. Hamburg. Argument-Verlag. S. 283 – 290 · Marx, Karl (1851/52): »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«. In: MEW, Bd. 8 · Thalheimer, August (1972): »Über den Faschismus«. In: Faschismus und Kapitalismus. Theorie über die sozialen Ursprünge und die Funktion des Faschismus. (Hrsg.) Wolfgang Abendroth u. a. Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt/Main. S. 19 – 39 · Wippermann, Wolfgang (1983): »Bonapartismustheorie von Marx und Engels«. Stuttgart. Klett-Cotta · Wipperman; Wolfgang (1997): »Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von Anfängen bis Heute«. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft

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