Donnerstag, 28. Mai 2015
»Es war ein Schwindel sondergleichen«
Gespräch mit Bruno Mahlow
Über die Zerstörung der Sowjetunion, deren Ursachen und die Frage, warum sich Moskau von der NATO täuschen ließ
Interview: Arnold Schölzel
Quelle: jungeWelt vom 16. Mai 2015
Seit 1985 war Michail Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU, später Präsident der Sowjetunion. Parteichef war er seit dem Verbot der KPdSU in Russland im August 1991 nicht mehr, das andere Amt verlor er formell mit der Auflösung der UdSSR Ende 1991. Wie lassen sich die wichtigsten Veränderungen in der sowjetischen Außenpolitik gegenüber den USA in diesen Jahren charakterisieren?
Wer über die Außenpolitik eines Landes sprechen will, muss sich zuerst dessen Innenpolitik anschauen. Um zu verstehen, was sich unter Gorbatschow verändert hat, muss man einige Jahre vor 1985 zurückgehen. 1981 kam der Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU, Konstantin Russakow, im Auftrag von Leonid Breschnew, dem damaligen Generalsekretär der KPdSU, zu einem Gespräch mit Erich Honecker nach Berlin. Es ging um die Reduzierung der sowjetischen Erdöllieferungen an die DDR um zwei Millionen Tonnen im Jahr. Russakow sagte zu Honecker, es sei dem Genossen Breschnew sehr schwergefallen, mit einer solchen Bitte an ihn heranzutreten. Er hoffe auf Verständnis. Honecker erläuterte die Probleme, die das für die DDR aufwarf, es ging hin und her, bis Russakow erklärte: »Ein großes Unglück ist geschehen«, und die Situation mit der zur Zeit des Friedens von Brest-Litowsk 1918 verglich, also mit einer Situation, in der es um die Existenz der Sowjetmacht ging. Die sogenannten Mittelmächte, das kaiserliche Deutschland, die österreichisch-ungarische Monarchie und das Osmanische Reich, diktierten eines der schändlichsten Friedensabkommen der Geschichte, mit dem 26 Prozent des damaligen europäischen Territoriums Russlands geraubt wurden. Der Vergleich Russakows mit Brest kam damals nicht ins Gesprächsprotokoll, weil niemand die Frage beantworten konnte, worin das Unglück bestehen sollte. Auch ich, der wusste, was der Brester Frieden bedeutete, konnte das zu diesem Zeitpunkt nicht.
Später lag die Antwort aber auf der Hand. Bei den regelmäßigen Gesprächen zwischen Breschnew und Honecker in den 70er Jahren, an denen ich seit 1974 teilnahm, wurde solch eine dramatische Formulierung nie benutzt. Es ging z. B. um die Kosten der Hochrüstung oder die schlechte Ernte. Für mich habe ich im nach hinein rekonstruiert: Bevor von einem »Unglück« gesprochen wurde, muss die sowjetische Führung beraten haben. Aber es dauerte lange, bis ich begriff, was gemeint war. Meine verstorbene Frau, die aus Russland stammte, und ich sahen zwar, wie sich etwa die Lebensmittelversorgung in den 80er Jahren verschlechterte. Aber eine Frage der Existenz? Ein anderes Beispiel: Vor einigen Jahren sagte mir ein russischer Botschaftsrat, der 1989/90 an der sowjetischen Botschaft in Bonn gearbeitet hatte: »Glaub nicht, dass wir damals etwas mit Vereinigung und DDR zu tun hatten. Wir bekamen nur den Auftrag: Besorgt Kredite, Kredite und nochmals Kredite.«
Würden Sie heute sagen, dass mit »Brester Frieden« schon bei Russakow eine Gebietsabtretung gemeint war?
Das nicht, aber die Probleme lagen auf derselben Ebene. Ich gehe sogar soweit zu sagen: Die Situation Anfang der 80er Jahre war von ähnlicher Bedeutung wie der 22. Juni 1941, der Tag des faschistischen Überfalls auf die Sowjetunion. Es ging nicht mehr um eine Erneuerung, sondern um Grundsätzliches. Es gab nie eine ganzheitliche Theorie des sozialistischen Aufbaus. Gorbatschow hat später darauf hingewiesen, dass es nie gelungen war, die wissenschaftlich-technische Revolution mit den Errungenschaften des Sozialismus zu verbinden – im Gegenteil, der Abstand zum Kapitalismus vergrößerte sich. Das ist der entscheidende Punkt aus meiner Sicht.
Aus dieser Analyse heraus versuchte die sowjetische Führung, neue Ansätze zu finden. Und selbstverständlich: Es gibt allgemeine menschliche Interessen, es war auch so etwas wie das »neue Denken« nötig, wie Gorbatschow es propagierte. Ich bin zudem der letzte, der das Scheitern des Sozialismus auf Verrat zurückführt. Dafür muss es einen Verräter geben und Leute, die sich verraten lassen. Aber die Antworten der KPdSU auf die Lage des Landes in den 80er Jahren schufen neue Probleme. Für mich steht dabei der XXVIII. Parteitag, an dem ich im Juli 1990 als Gast teilnahm, im Zentrum.
Insbesondere der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse trat dort mit der Auffassung auf, der Lösung gemeinsamer Probleme der Menschheit müsse alles untergeordnet werden. Was sind aus Ihrer Sicht die Konsequenzen dieser Position?
Sie ist falsch. Man ignoriert damit, dass auf internationaler Ebene Klassenkampf stattfindet. Diese Auffassung konnte nur zur Folge haben, dass die Sowjetunion zu einer drittrangigen Macht wurde. Deswegen habe ich auf den 22. Juni 1941 hingewiesen.
Gab es an Schewardnadses Position öffentliche Kritik, oder haben Sie eine solche den Gesprächen mit sowjetischen Genossen entnommen?
Das waren in erster Linie Gespräche, aber es gab diese Kritik auch auf dem Parteitag, in ziemlich scharfer Form sogar. Nur noch ein Beispiel: Ich traf dort den damaligen sowjetischen Botschafter in der DDR, Wjatscheslaw Kotschemassow. Er sagte mir: »Bruno, wir haben immer gemeinsam überlegt, warum sich alles so entwickelt hat. Jetzt haben wir die Antwort: Alle unsere Probleme kommen von hier, aus Moskau.« Das war sehr repräsentativ für die Stimmung auf dem Parteitag.
Ich will noch hinzusetzen: Richtig ist, was Walentin Falin, der langjährige sowjetische Botschafter in Bonn, und andere sagen. Es gab für die Vereinigung von DDR und BRD und die Rolle der Sowjetunion dabei kein durchdachtes und ausgewogenes Konzept. Einige Beispiele: Die internationalen Verhandlungen dazu hießen zuerst »Vier plus Zwei«. Woher kam das »Zwei plus Vier«? Im Februar 1990 wurde diese Formel in Ottawa durch Schewardnadse eingeführt. Falin, damals Abteilungsleiter im Zentralkomitee der KPdSU, und sein Kollege Anatoli Tschernjajew machen in ihren Erinnerungen deutlich, dass Schewardnadse dazu nicht befugt war. Entscheidungen zu solchen strategischen Fragen wurden damals in einer Art Hinterzimmer getroffen, d. h. unter Umgehung aller politischen und parlamentarischen Strukturen. Schewardnadse brachte es als Außenminister fertig, keine Vermerke zu machen, die weitergegeben werden konnten. Was das heißt, kann ich beurteilen. Ich habe ungezählte solcher Vermerke verfasst und gelesen. Ein weiteres Beispiel: Als unter den in der DDR stationierten sowjetischen Truppen Unruhe wegen der dortigen Entwicklung entstand, ordnete Gorbatschow als Oberkommandierender an, sich nicht einzumischen. Sonst werde der dritte Weltkrieg ausgelöst.
Heute wird behauptet, es habe einen solchen Befehl nie gegeben. Das ist eindeutig falsch, ich war bei den Gesprächen mit Gorbatschow im Herbst 1989 anwesend, in denen er danach gefragt wurde. Unabhängig davon, was stimmt: Es bleibt die Tatsache, dass man sich nicht eingemischt hat. Für mich bestätigt all das Kotschemassow: Die Probleme wurden durch die Zerfahrenheit und Konzeptionslosigkeit in Moskau verschärft.
Als die Verhandlungen in Ottawa aufgenommen wurden, war die Vereinigung von DDR und BRD bereits ein Thema. Welche Rolle spielte das in den Beziehungen zwischen Moskau und Washington?
Schewardnadse hat 2009 in einem Interview erzählt, dass er vom damaligen US-Außenminister James Baker in Ottawa darauf angesprochen wurde. Er habe darauf geantwortet, darüber bereits nachgedacht zu haben, aber eine Entscheidung sei in seinem Land noch nicht gefallen. Außerdem erklärte Schewardnadse in diesem Interview, er habe den damaligen BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher, den er als anständigen Kerl betrachtete, gebeten, ihm zu helfen, damit die Gegner einer solchen Vereinigung in Moskau nicht unruhig würden. Wer eine Bestätigung für diese Vorgänge haben will, lese das Buch »Achtung! Vorurteile« von Peter Ustinov aus dem Jahr 2003. Schewardnades Haltung war jedenfalls eindeutig zweideutig. Dazu gehörte auch ein Spiel, in dem die DDR als Trumpfkarte genutzt wurde.
Was wusste die DDR-Führung von solchen »Überlegungen« bis 1989, z. B. Erich Honecker?
Er wusste, dass von Moskau dies und jenes sondiert wurde, hat das aber nicht im Politbüro zur Sprache gebracht. Das wurde später kritisch bewertet. Aber was wusste z. B. ich? Für mich war das Jahr 1987 wichtig. Damals saßen Georgi Arbatow, Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Außenpolitiker, und ich eines Tages in einer Sauna. Und da sagte Arbatow zu mir: »Bruno, man muss irgend etwas mit der Mauer machen.« Ich war erschrocken, dachte aber nur an das Modell einer Föderation zwischen DDR und BRD, das von Walter Ulbricht Ende der 50er Jahre entwickelt wurde. Im Juli 1988 fragte mich ein Besucher aus den USA, Professor Charles Gati, übrigens, ob die DDR darauf vorbereitet sei, dass die Sowjetunion die Frage nach der Beseitigung der Mauer aufwerfe.
Zusammengefasst: Als Russakow 1981 von einem »Unglück« sprach, verstand die DDR-Führung nicht die Tragweite. Warum klingelten aber bei solchen Äußerungen 1987 oder 1988 nicht alle Alarmglocken?
Es gab viel gegenseitiges Misstrauen. Heute ist bekannt, dass jede Seite – DDR, BRD und Sowjetunion – über eigene geheime Kanäle zur jeweils anderen Seite verfügte. Ich erinnere nur an das überraschende Gespräch 1973 zwischen Erich Honecker, dem FDP-Politiker Wolfgang Mischnick und Herbert Wehner, damals SPD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag. Ich werde nie vergessen, dass Honecker bei einer Diskussion einmal sagte: »Herbert Wehner ist ein guter Genosse.«
Aber die Zeichen mehrten sich. Im Sommer 1989 gab es ein Gespräch auf Staatssekretärsebene mit Moskau, bei dem wir fragten, ob die Sowjetunion daran denke, die DDR zu opfern. Darauf gab es keine Antwort. Ich selbst konferierte mit sowjetischen Außenpolitikern über die deutsche Frage. Dabei wurde mir erklärt, die DDR sei das schwächste Glied der sozialistischen Gemeinschaft.
Wo und wann wurden 1989/90 die entscheidenden Weichen für eine NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland gestellt?
Bei den Gesprächen Gorbatschows mit Egon Krenz und später mit Hans Modrow Ende 1989, Anfang 1990 spielte das keine Rolle. Ich denke, hier kommen wir wieder zum Hinterzimmer. Der große Vertreter von Glasnost, also von Transparenz, Gorbatschow, vereinte eine solche Machtfülle auf sich wie vorher niemand. Das ist paradox, aber daran muss man erinnern. Daher werde ich nie verstehen, dass er auch Jahre danach nie ein erklärendes Wort für sein Scheitern gefunden hat. Aber es gibt nun einmal in Zeiten der Konfrontation eine rote Linie. Ich halte es da mit dem DDR-Journalisten und -Politiker Gerhart Eisler, der nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956, nach der Chruschtschow-Rede zu Stalin, einmal bei einer öffentlichen Versammlung gefragt wurde, ob er auch für Stalin gewesen sei. Eisler antwortete trocken: »Ja, es konnten ja nicht alle für Hitler sein.«
Zur NATO-Mitgliedschaft des vereinten Deutschland: Genscher erklärte Anfang Februar 1990 in Washington, es gebe keine Pläne zur Ausweitung der NATO nach Osten, das betreffe nicht nur die DDR. Gorbatschow verlangte wenige Tage später gegenüber US-Außenminister Baker in Moskau, das vereinte Deutschland solle neutral sein, eine NATO-Ausdehnung sei inakzeptabel. Analoge Äußerungen gibt es vom damaligen NATO-Generalsekretär Manfred Wörner, und Egon Bahr schreibt, der Westen habe der Sowjetunion zugesagt, er werde ihr nicht auf den Pelz rücken. Was seither passierte, ist eindeutig. Die NATO hat, militärisch gesehen, die Nachteile, die sie gegenüber Russland hatte, korrigiert und verzeichnet einen Raumgewinn in Richtung Moskau von bis zu 700 Kilometern. Das ist heute z. B. für den Ukraine-Konflikt von Bedeutung.
Das musste doch jedem Fachmann klar sein. Gab es in Moskau keinen Widerstand?
Man darf nicht vergessen, dass die KPdSU im August 1991 in Russland verboten wurde. Und: Viele Russen, die ich kannte, waren zwar Patrioten ihrer Großmacht, aber keine Marxisten. Da waren wir blauäugig. Außerdem sollte nicht unterschätzt werden, welche Rolle die unterschiedlichen Positionen der verschiedenen politischen Lager innerhalb der Sowjetunion seit den 1920er Jahren stets gespielt haben. Auch heute gibt es große innere Gegensätze, etwa zwischen Moskau und St. Petersburg.
Die NATO-Außenminister haben im Juni 1990 die sogenannte Botschaft von Turnberry Richtung Moskau geschickt. Inhalt: Die Zeit der Konfrontation ist vorbei. Was sollte das?
Man wollte auf den XXVIII. Parteitag der KPdSU Einfluss nehmen. Es war, wie wir auf deutsch sagen, Süßholzraspeln – oder mit einem russischen Ausdruck: »Weich betten, hart schlafen«. Da ist von Stärkung der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, der KSZE und späteren OSZE, die Rede, von der Abrüstung konventioneller Waffen. Nichts in dieser Richtung ist passiert, es war ein Schwindel sondergleichen. Dasselbe gilt für die »Charta von Paris für ein neues Europa« vom November 1990. Nichts liegt den USA ferner als die Idee eines geeinten, starken Europa. In Washington gilt die Devise: die USA drin, die Russen draußen und die Deutschen unter Kontrolle.
Halb Moskau muss das doch gewusst haben.
Von Aristoteles stammt die Einsicht: Ein Staat kann von außen nicht zerstört werden, wenn die innere Lage es nicht gestattet. Das gilt auch für das Ende der Sowjetunion. Dem Westen kann nicht verübelt werden, dass er jede Möglichkeit genutzt hat. Hinzu kommt eine historische Tatsache, die der verstorbene sowjetische Diplomat Juli Kwizinski so beschrieben hat: Für Russland war Deutschland außenpolitisch stets die erste Wahl, für Deutschland war Russland stets nur die zweite. Und: Deutschland hat sich seit dem Ersten Weltkrieg an keinen Vertrag gehalten. Es gibt in dieser Hinsicht nichts Neues.
http://www.jungewelt.de/2015/05-16/013.php
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