Das Massaker vor einer Woche in Paris
war nicht, wie nahezu alle Schreiber fälschlich behaupteten, die
schlimmste Gräueltat in der Stadt des Lichts seit dem Zweiten Weltkrieg.
Wie der bekannte Experte für den
Mittleren Osten Robert Fisk schnell aufzeigte, fand in Paris vor 54
Jahren am 17. Oktober 1961 eine noch schlimmere Gräueltat statt.
Der Pariser Polizeichef Maurice Papon,
ein ehemaliger Beamter des Vichy-Regimes, der im Krieg über tausend
Juden in den Tod geschickt hatte, ließ seine brutalen Einsatztruppen
gegen 30.000 arabische Demonstranten los, die die Unabhängigkeit
Algeriens von der Kolonialherrschaft Frankreichs forderten. In einer
Orgie des Tötens wurden rund 200 Algerier getötet. Viele wurden
bewusstlos geschlagen und dann von der Pont St. Michel-Brücke in die
Seine geworfen. 11.000 Algerier wurden verhaftet und in
Internierungslagerlager oder in ein Sportstadion gesperrt.
Ich war in Paris, als diese Massaker
stattfanden. Sechs Monate danach besuchte ich wieder Paris, als vier
pensionierte französische Generäle versuchten, einen Staatsstreich gegen
die Regierung von Präsident Charles de Gaulle und Premierminister
Michel Debré durchzuführen, die die Absicht hatten, Algerien nach 132
Jahren französischer Kolonialherrschaft die Unabhängigkeit zu geben.
Die französischen Wähler hatten den
Unabhängigkeitsplan unterstützt nach einem langen blutigen Aufstand der
Algerier, in dem eine Million Menschen getötet worden sein könnten. Aber
Frankreichs professionelle militärische Kaste und nichtarabische
Siedler in Algerien aka „pieds noires,“ die hauptsächlich spanischer,
portugiesischer und jüdischer Abstammung waren, waren gewaltsam dagegen.
Sie verschworen sich, um De Gaulle zu stürzen oder zu töten und
Algerien französisch zu behalten – wie in dem superben Buch und Film
„Der Schakal“ geschildert wird.
Am 21. April 1962 riefen
Armeeverschwörer in Algerien stationierte französische
Fallschirmjägerregimenter und die Fremdenlegion auf, nach Frankreich zu
fliegen und die Flughäfen in der Umgebung von Paris zu besetzen. Die
Rebellen sollten dann nach Paris eindringen, höhere
Regierungsfunktionäre einschließlich De Gaulle verhaften und ein
Militärregime errichten.
Der 22. April war einer der
aufregendsten Tage, die ich je erlebt habe. Abgesehen von
Demonstrationen linker Gewerkschaften war Paris ausgestorben. Die
Straßen waren leer, die Geschäfte geschlossen. In der Stadt des Lichts
war es finster geworden.
Das Geräusch hunderter knackender
Funkgeräte von Militär und Polizei füllte die Luft. Seitenstraßen der
Place de la Concorde waren voll mit Fahrzeugen, in denen harte, schwer
bewaffnete CRS paramilitärische Bereitschaftstruppen und Soldaten der
regulären Armee saßen, die sich nicht an die Seite der Aufständischen
gestellt hatte.
Die Atmosphäre war zum Zerreißen
gespannt. Jeden Augenblick konnten Kämpfe ausbrechen. Wir beobachteten
den Himmel nach ankommenden Truppentransportern, die General Jaques
Massu´s Fallschirmjäger und die Fremdenlegion aus Algier bringen würden.
Frankreich stand am Rand des
Bürgerkriegs. Die Regierung forderte ihre Bürger auf, zu den Flugplätzen
zu eilen und die Fallschirmjäger und die Legion zu bitten, nicht nach
Paris zu marschieren. Der legendäre amerikanische Humorist Art Buchwald,
ein Freund meines Vaters, sagte uns, dass auch er bereit sei, zum
Flughafen Orly zu eilen, aber „ich kann kein Deutsch!“ – die meisten
Fremdenlegionäre waren ehemalige deutsche Soldaten oder Waffen-SS aus
dem Zweiten Weltkrieg.
Französische Wehrpflichtige der
Rheinarmee weigerten sich, bei dem Aufstand mitzumachen und verhafteten
Mitglieder des Staatsstreichs von Algier, womit einmal mehr unter Beweis
gestellt wurde, dass Berufsheere eine Gefahr für demokratische
Regierungen darstellen. Der französische Luftwaffenkommandant weigerte
sich, Transportflugzeuge für die Armee in Algerien bereitzustellen, was
diese in Nordafrika festsitzen ließ.
(…)
Frankreichs lange koloniale Herrschaft
in Algerien, Tunesien und Marokko, wie auch im größten Teil Westafrikas
brachte große Zahlen von afrikanischen Hilfskräften nach Frankreich.
Auch viele „harkis,“ ehemalige Soldaten in Frankreichs Algerienarmee.
Ihre Nachfahren bilden die heutige unterste Schicht in Frankreich: arm,
in Ghettos lebend, Opfer von Rassismus und religiöser Intoleranz
gegenüber Moslems, nicht imstande, Arbeit zu bekommen, verstrickt in
Kleinkriminalität und erfüllt vom Gefühl bitterer Hoffnungslosigkeit.
Der vor über 50 Jahren geführte
Algerienkrieg ist im Westen vergessen worden. Nicht jedoch von den
Moslems in Europa oder Nordafrika. Auch nicht seine Fortsetzung,
Algeriens grauenvoller Bürgerkrieg in den 1990er Jahren, in dem
Hunderttausende getötet wurden. Damals warnte ich, dass er eines Tages
nach Europa überschwappen würde.
erschienen am 21. November 2015 auf > www.ericmargolis.com
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