Der Freitag
Ausgabe 4615 | 17.11.2015 | 06:00 1
Ausgabe 4615 | 17.11.2015 | 06:00 1
Sind das Menschen?
Antonio Ortuños „Die Verbrannten“ erzählt
von den Schlepperbanden in Mexiko und systematischer Gewalt
von
Foto: Brett Gundlock/Redux/Laif
Reisewerbung kann ziemlich surreal sein. Die siebentägige
Mexikoreise im Doppelzimmer ab 1.131 Euro bewirbt TUI so: „Erleben
Sie die wunderbare Natur mit seinen beeindruckenden Wasserfällen
oder tauchen Sie ein in die Welt der Maya mit seinen verwunschenen
Orten und magischen Stätten. Aber auch alle jene, die einen
unvergesslichen Strandurlaub verleben wollen, sind in Mexiko genau
richtig.“
Die ganze Wahrheit ist: Es fehlt die unbeschreibliche
Kriminalität in diesem Land. Drogenhandel, Prostitution,
Schleppergeschäft, Raub und Mord sind Alltag. Eine Reise auf
eigene Faust kann durchaus die letzte Suche nach dem wahren Selbst
gewesen sein. Überlandfahrten in die Städte und Touristenzonen
lesen sich wie russisches Roulette. „In einigen Fällen“, schreibt
das Auswärtige Amt, seien „auch Polizeikräfte bzw. uniformiertes
Sicherheitspersonal an Straftaten beteiligt bzw. Kriminelle, die
sich als solche ausgeben.“ Die Gewalt ist besonders ausgeprägt im
Norden, zum Beispiel im Bundesstaat Tamaulipas oder in Großstädten
wie Tijuana oder Ciudad Juárez.
Massaker im Flüchtlingsheim
2010 fand in Tamaulipas das San-Fernando-Massaker statt, ein
Massenmord an 72 lateinamerikanischen Migranten. Die Opfer
stammten aus Ecuador, Honduras, Guatemala oder El Salvador.
Illegale Einwanderer, auf dem mörderischen Weg zum Sehnsuchtsort
USA, besser: Überlebensort USA.
Mexiko ist Transitland wie aktuell Österreich, Slowenien oder
Kroatien für Geflüchtete in Europa auf ihrem Weg nach Deutschland.
Ganz im Norden trennt ein 3.000 Kilometer langer Zaun die USA von
Mexiko. Es ist die letzte Hürde für die illegalen Einwanderer. Man
hat ja schon öfter von diesem Grenzwahnsinn gehört, darüber
gelesen, man schaut gerade diese unglaublich gute Serie Narcos,
die nicht von Schleuserbanden, sondern vom brutalen Drogenkrieg
der 80er Jahre in Kolumbien handelt. Aber nun ja, Mexiko oder
Kolumbien, das ist wirklich weit weg. Besser: Das war weit weg. Es
ist gerade unmöglich, Antonio Ortuños Roman zu lesen, ohne unsere
Situation in Europa, in Deutschland, hier in dieser Stadt
mitzudenken.
Die Verbrannten beginnt mit einem Feuer in einer
Flüchtlingsunterkunft. Zahlreiche Männer, Frauen und Kinder
sterben qualvoll. Es war Brandstiftung, die schreckliche Tat geht
vermutlich auf das Konto zweier konkurrierender Schleuserbanden.
Jetzt ist geklärt, wer der Boss ist. Santa Rita heißt der fiktive
Ort im Süden von Mexiko. Dorthin wird die Sozialarbeiterin Irma
entsendet und mit der „Untersuchung“ des „Vorfalls“ beauftragt. In
Santa Ritas lokalem Büro der nationalen Behörde für Migration
arbeitet der undurchschaubare Pressemensch Vidal. Er hat eine
geschäftsmäßige Pressemitteilung formuliert, die Antonio Ortuño
wie ein Original verfasst hat. Die Ungerührtheit von offizieller
Seite ist überdeutlich. Klar ist, man wird nicht allzu viele
Finger rühren für diese bedauernswerten Menschen. Denn es ist ja
so, in den USA sind die Mexikaner die Menschen zweiter Klasse, in
Mexiko wird die Verachtung einfach nach unten weitergereicht. Sind
diese Migranten aus Zentralamerika überhaupt Menschen?
Zu viel Engagement ist lebensgefährlich, das ist der
Sozialarbeiterin bewusst. Auch keiner der Überlebenden ist bereit,
zu den Ereignissen in der Nacht des Anschlags auszusagen – bis auf
die junge Frau Yein, die zu Irmas einziger Zeugin wird und auf
Rache sinnt. Und da ist noch der Vater „der Kleinen“, Irmas
Tochter, ein Lehrer im Staatsdienst mit eigenem Häuschen, er wird
sein beschissenes Lebens- und Unterlegenheitsgefühl
brutalstmöglich mit einer Migrantin kompensieren.
Antonio Ortuño braucht für seinen Roman keinen fiktiven Plot. Er
hat die Realität. Um zu verstehen, was in Die Verbrannten
passiert, muss man begreifen, dass in dem Mexiko, von dem er
erzählt, ein Menschenleben unter Umständen nicht viel zählt. Aber
diese Umstände gibt es eben auch bei uns. Man denkt an
Flüchtlinge, die durch deutsche Städte gejagt werden. Wie soll man
es begreifen? Woher kommen diese Kälte und diese
Empathielosigkeit? Viele sagen: Das ist der Rassismus. Aber trifft
das in jedem Fall, ist es wirklich die andere „Rasse“ (was immer
das ist)? Oder trifft es nicht vielmehr in jedem Fall den
„Fremden“, zu dem es eine ganze Soziologie gibt, deren kleinster
Nenner von Dennis J. Snower so gebildet wird: „Auch wenn wir
gemeinsame Wertvorstellungen haben, können Konflikte entstehen,
weil wir gegenüber Mitgliedern unserer Gemeinschaft andere Werte
anwenden als gegenüber Fremden.“ Der Fremde, das ist, um auf
Mexiko zu kommen, der Elende auf der Durchreise in den Norden.Unbehagen der anderen Art
Als „Frauenmorde von Ciudad Juárez“ wird eine seit Anfang der
1990er Jahre andauernde Mordserie bezeichnet. Die Frauen wurden
entführt, gefoltert und zumeist nach einigen Tagen gefesselt auf
Brachflächen außerhalb der Stadt abgelegt. Roberto Bolaños 2666
handelt davon. Über Seiten verliert man sich in einem
gigantischen Geheimnis, die Unruhe, die einen befällt, ist schwer
zu beschreiben. Den 1976 geborene Antonio Ortuño, der zu den
besten spanischsprachigen Schriftstellern überhaupt zählt, liest
man auf andere Art mit Unbehagen. Ortuño schreibt dokumentarisch,
distanziert. Auf nur 200 Seiten bannt Die Verbrannten auch
mit der Ungewissheit, wie viel Irma in ihrem Einsatz für die
Fremden wirklich riskieren will. Großartig auch, in den Kopf des
Lehrers zu schauen, die Monologe der Rechtfertigung zu lesen. Sind
nicht die Gringos die eigentlichen Rassisten? Der Bandenanführer
Morro hat ein Babygesicht. Ein bisschen ist Irma in den bösen
Vidal verliebt. Wow.
Über den Grenzzaun zwischen den USA und Mexiko wollen täglich
etwa 50.000 Menschen, manche verschwinden, „verhungern,
verdursten, sterben vor Erschöpfung oder werden von Schmugglern
oder wilden Tieren getötet“, schreibt der Journalist Tom Kummer.
Er hat den Grenzirrsinn in einer überragenden Reportage
beschrieben. Surrealistisch im Wortsinn. Und deshalb würde man
eben trotzdem mit TUI nach Mexiko reisen. Der Tourist ist der
Fremde in seiner abgeschwächtesten und darum heute vielleicht auch
unmenschlichsten Erscheinungsart.
Info
Die Verbrannten Antonio Ortuño Nora Haller (Übers.), Kunstmann 2015, 208 S., 19,95 €_______________________________________________
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