„Sie haben uns behandelt wie den letzten Dreck”, ruft
die Sekretärin Itandehui N. empört. So schildert sie den
Lateinamerika Nachrichten, wie sie tags zuvor, am 17.
August, im Staatlichen Bildungsinstitut Oaxacas IEEPO
ihren letzten Arbeitstag hatte. Vor dem Gebäude des
IEEPO stehen seit einem Monat mehrere hundert
Polizist*innen in Kampfmontur Wache, seit die Regierung
beschloss, die Macht der unbequemen
Lehrer*innengewerkschaft in Oaxaca mit militärischen
Mitteln zu brechen. Als „Blitzkrieg gegen die Lehrer“
bezeichnete der bekannte Journalist Luis Hernández das
Regierungshandeln. „Bei jedem Arbeitsplatz war ein
Notar, die 800 in der Lehrergewerkschaft organisierten
Mitarbeiter*innen mussten ihren Schreibtisch unter
genauester Aufsicht räumen. Der Notar begutachtete jedes
Blatt, jeden Kugelschreiber, und entschied, ob es ein
persönlicher Gegenstand sei oder der Institution gehöre.
„Mehrere Kollegen und Kolleginnen ertrugen diese
despotische Behandlung nicht und erlitten
Nervenzusammenbrüche”, so Itandehui. Das
Verwaltungspersonal wird ab Schuljahresbeginn in Schulen
eingesetzt. Kein gewerkschaftlich organisiertes Personal
soll mehr in der Verwaltung, keine Lehrperson
hauptamtlich in der Gewerkschaft tätig sein, so das
Vorhaben der Regierung. Es ist Teil der großen
Bildungsreform, die nach der dafür notwendigen Änderung
der Verfassung 2014 vom mexikanischen Bundesparlament
beschlossen wurde (siehe LN 469/470).
Seither befindet sich ein Teil der Nationalen
Gewerkschaft der Erziehungsarbeiter SNTE, mit über einer
Millionen Mitgliedern die größte Gewerkschaft
Lateinamerikas, in Dauermobilisierung gegen die
Reformmaßnahmen. Bei diesem Teil handelt es um die CNTE,
die oppositionellen Strömung innerhalb der SNTE, welche
rund 200.000 Lehrer*innen vertritt. 1979 gegründet,
repräsentiert sie den Teil des Lehrpersonals, das die
korporativistische Anbindung an die Revolutionäre
Institutionelle Partei (PRI) – über 70 Jahre quasi
Staatspartei – und die antidemokratischen, korrupten
Strukturen des SNTE nicht hinnehmen wollte. Ihre
Mitglieder pflegen meist ein klassenkämpferisches
Vokabular, viele der lokalen Untergruppen haben einen
zapatistischen, maoistischen, sozialistischen oder sogar
offen stalinistischen Hintergrund. Besonders in
ländlichen Regionen mit niedrigem Bildungsgrad gelten
die Lehrer*innen traditionell als lokale Autoritäten,
die es auch als ihre Aufgabe sehen, die Bevölkerung vor
den Begehrlichkeiten des Staats und der mit ihm
verbundenen wirtschaftlichen Eliten zu schützen. So ist
die CNTE vor allem in den südlichen, extrem armen,
indigen geprägten Bundesstaaten wie Chiapas, Guerrero
oder Michoacán stark vertreten. Und in Oaxaca, wo die
lokale Sektion 22 mit einer Mitgliederzahl zwischen
75.000 und 83.000 (genaue offizielle Zahlen gibt es
nicht) die größte organisierte gesellschaftliche
Gegenmacht zum Staat darstellt und ihr
Mobilisierungspotenzial immer wieder beweist, nicht nur
bei Bildungsthemen.
Kein Thema erhitzt die Gemüter in Oaxaca so sehr wie
das der maestros. Auf allen Kanälen werden die
Lehrer*innen beschimpft und als „faule
Dauerdemonstranten“ denunziert, die das Wohl der
Schüler*innen ihren Eigeninteressen unterordneten. Die
Sektion 22 wird als „korrupt”, „mafiös”, „Organisierte
Kriminalität” oder rundweg „terroristisch” bezeichnet,
ihr müsse endlich der Garaus gemacht werden, predigen
die Leit- und Lokalmedien seit Jahren. Die Kampagne ist
orchestriert von der unternehmernahen Lobbyvereinigung
Mexicanos Primero. Deren Reformvorschläge waren
Blaupause für die Verfassungsreform im Bildungswesen,
einige Passagen wurden gar wortwörtlich übernommen.
Dagegen halten die Lehrer*innen – und in sozusagen jeder
größeren Familie Oaxacas ist dieser Berufsstand
vertreten – ihr aufopferndes Engagement für die
zukünftigen Generationen. Oft sind die
Arbeitsbedingungen alles andere als einfach.
Stundenlange Anreise für Lehrpersonal und Kinder,
fehlende Lehrmittel und prekäre Einrichtungen, Unter-
und Fehlernährung sind nur einige Stichworte. Die
Gewerkschaft hat mit ihren regelmäßigen Streiks und
Blockaden eine Reihe von Verbesserungen erzwungen, auch
aber nicht nur für die Lehrkräfte: Die obligatorischen
Schuluniformen sind gratis, in vielen Schulen ermöglicht
ein bescheidenes Frühstück erst das Lernen der Kinder,
die kulturelle Vielfalt wird in den Lehrplan einbezogen.
Für ihr Engagement und ihren Aktivismus mussten und müssen die Lehrer*innen oft teuer bezahlen. Polizei und regierungsnahe bewaffnete Gruppen gehen häufig mit brutaler Gewalt gegen sie vor. Verprügelte oder festgenommene Lehrer*innen gibt es quasi monatlich, auch Tote gab es in den letzten Jahren immer wieder. Prominentes Beispiel dafür sind die 43 „verschwundenen“ Lehramtsstudenten in Guerrero, die der CNTE nahe standen – genauso hätte dies in Oaxaca passieren können.
Für ihr Engagement und ihren Aktivismus mussten und müssen die Lehrer*innen oft teuer bezahlen. Polizei und regierungsnahe bewaffnete Gruppen gehen häufig mit brutaler Gewalt gegen sie vor. Verprügelte oder festgenommene Lehrer*innen gibt es quasi monatlich, auch Tote gab es in den letzten Jahren immer wieder. Prominentes Beispiel dafür sind die 43 „verschwundenen“ Lehramtsstudenten in Guerrero, die der CNTE nahe standen – genauso hätte dies in Oaxaca passieren können.
Wenn die Kampagne der Regierung trotzdem teilweise
verfängt, dann hat das auch mit berechtigten Kritiken zu
tun, auf welche die Gewerkschaft ungenügend oder gar
nicht reagiert. Besonders, wenn es um den Machismo:
Obwohl zwei Drittel der Lehrkräfte Frauen sind, ist der
Generalsekretär der CNTE immer ein Mann, und nur in den
mittleren Kadern ist die eine oder andere
Gewerkschafterin zu finden. Auch Korruption,
Vetternwirtschaft, insbesondere das Vererben von
Arbeitsstellen an die eigenen Kinder, sind Kritikpunkte.
Zudem ist die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft nicht
freiwillig, und die Teilnahme an den Protestaktionen,
welche in der Vollversammlung der Delegierten
beschlossen werden, wird per Namensliste nachgeprüft.
Die Gewerkschaft verfügte bis zur Bildungsreform dabei
über profunde Sanktionsmittel gegenüber Unwilligen, denn
die Auszahlung der Gehälter erfolgte über die
Gewerkschaft, Strafversetzungen fernab der Familie waren
keine Seltenheit. Bei aller berechtigten Kritik darf
allerdings nicht vergessen werden, dass diese Missstände
auch in regierungstreuen, nach altem korporativistischen
Muster organisierten Berufsverbänden Mexikos Standard
sind. Immerhin sind Spitzenämter zeitlich begrenzt, das
Führungspersonal kann per Versammlung abgewählt werden,
wovon die Basis zuletzt Anfang September Gebrauch
machte.
Was die Bevölkerung in Oaxaca angeblich am meisten
gegen die Lehrer*innen aufbringt, sind die vielen
Schultage, welche durch die Streiks und Protestaktionen
verloren gehen. Nicht zuletzt sind die oft kurzfristig
einberufenen schulfreien Tage für arbeitende Eltern eine
logistische Herausforderung. Mexicanos Primero hat
vorgerechnet, dass in den letzten 21 Jahren drei
komplette Schuljahre in Oaxaca verloren gegangen seien.
Das Recht der Kinder auf Ausbildung sei prioritär, aber
der Lehrer*innengewerkschaft gehe es in keiner Weise um
Pädagogik, sondern nur um ihre Privilegien, so der
Tenor. Die Lehrerin Vicky N., tätig in einer verarmten
Vorortsgemeinde von Oaxaca-Stadt, schildert die
Beziehungen zu den Eltern dagegen ganz anders: „Wir
informieren in Elternversammlungen über die anstehenden
Mobilisierungen, erklären ihnen die legitimen
Forderungen der Gewerkschaft und verhandeln anschließend
mit ihnen, wann wir alle Schulstunden nachholen, sei
dies nachmittags, an Samstagen oder an Ferientagen. Es
kommt auch vor, dass wir Lehrkräfte uns zwischen
Mobilisierung und Unterricht abwechseln, einander
aushelfen. So haben wir bisher immer ein gutes
Einvernehmen mit den Eltern erzielt”.
Bei allen Gesprächen mit Eltern oder mit Lehrer*innen
ist unbestritten, dass der Staat seiner Verantwortung
nicht nachkommt und die Schulen über ungenügende Mittel
verfügen, um den Kindern eine vernünftige Bildung zu
ermöglichen. Andererseits meint der Großteil aber auch,
dass die vorherrschenden pädagogischen Konzepte der
Lehrer*innen veraltet und sich viele Kampfformen der
Gewerkschaft überlebt haben. Die gewaltsame Entkoppelung
von Bildungsinstitut und Sektion 22, so sehr auch die
Kritik an der Methode berechtigt ist, wird zeigen, wie
viele der Lehrer*innen tatsächlich aktiv ihre
Gewerkschaft unterstützen. Der bürokratische
Gewerkschaftsapparat wird durchgeschüttelt, was
hoffentlich zu neuen, kreativeren Aktionen beiträgt. Die
Gefahr ist jedoch groß, dass die momentane Lähmung der
Gewerkschaft Stück für Stück ausgenutzt wird, um die
Lehrer*innen immer weiter in das neoliberale
Leistungsmodell zu zwängen. Dazu gehören repressive
Evaluationen (bei schlechtem Abschneiden droht
Stellenverlust), Lohnabzug bei Streiktagen und drohende
Kündigung nach dreitägigem Fehlen. Ob diese Zwangsformen
zu einer besseren Qualität der Schulbildung beitragen,
ist zweifelhaft. Anlässlich der Einweihungszeremonie des
neuen Schuljahrs Ende August 2015 unterbrach die
Lehrerin und „stolze Gewerkschafterin” Anabel Aguilar
Ibáñez Oaxacas Gouverneur Gabino Cué mit den Worten:
„Was wir brauchen, ist eine wirkliche Bildungsreform,
nicht eine Arbeitsreform!”
Anders als vom Staat und staatsnahen Medien behauptet,
setzt die CNTE nicht nur auf Abwehrmaßnahmen, sondern
beteiligt sich durchaus konstruktiv. Zum Kern des
Problems, der Bildung, hat die Gewerkschaft in 37
partizipativen Regionalforen eine Reihe von Vorschlägen
ausgearbeitet und diese im Plan zur Transformation der
Bildung Oaxacas (PTEO) zusammengefasst. Dabei geht es
kurz gesagt darum, in der Schule der kulturellen
Vielfalt und den sozioökonomischen Herausforderungen in
dem bäuerlich und indigen geprägten Bundesstaat gerecht
zu werden. Denn Verkehrsampel-Aufgaben in mexikoweit
standardisierten Evaluationen machen in Gemeinden ohne
Straßen für die Schüler*innen nun mal keinen Sinn,
ebenso wenig wie höhere Algebra bei knurrendem Magen.Dass es auch anders geht, zeigt die Umsetzung des PTEO in der ländlichen Gemeinde San Pedro Amuzgos. Elena Tapia Vásquez, lokale Vertreterin der Menschenrechtsorganisation CODIGO DH, schildert die Präsentation der Arbeiten in der Sekundarschule am Ende des Schuljahrs 2014/15: „Die Jugendlichen arbeiteten in Projektgruppen zum Thema Wertschätzung der Sprache und Kultur der Amuzgo-Indigenen. Dazu studierten sie drei Monaten lang unter anderem die Themen traditionelle Architektur, Kaffee-Anbau, Baumwolle und deren Verarbeitung an den Webstühlen. Das Weberei-Projekt wurde vom Mathematiklehrer angeleitet, denn Webtechnik ist pure Mathematik. Die Ergebnisse wurden vor der versammelten Gemeinde vorgetragen. Auch kombinieren heute konsequenterweise die Schülerinnen die Schuluniform mit dem huipil, der traditionellen Tracht. Diese alternativen Unterrichtsformen seien nicht konfliktfrei eingeführt worden, meint Elena Tapia. Viele Eltern sähen darin einen puren Zeitverlust, das klassische Lesen, Rechnen und Auswendiglernen von Geschichtsdaten sei ihnen wichtiger. Deshalb müsste im Dialog mit den Eltern ein Gleichgewicht zwischen dem offiziellen Lehrplan und der alternativen Projektarbeit gefunden werden, meint die junge Anwältin.
Ganz im Gegensatz zur Umsetzung von neuen pädagogischen Methoden im indigenen Hinterland hat die militärische Besetzung des IEEPO und dessen Gleichschaltung mit der Bildungsreform dazu geführt, dass lokale Errungenschaften aus dem Organigramm fielen. Was nicht Teil der Struktur der zentralen Bildungsministeriums ist, wurde über die Sommerferien schlicht abgeschafft. So löste die Regierung beispielsweise das Zentrum für das Studium und die Entwicklung der indigenen Sprachen Oaxacas (CEDELIO) auf. Laut indigenen Lehrkräften und Vertreter*innen des lokalen Sekretariats für Indigene Angelegenheiten (SAI) war das CEDELIO während 17 Jahren ein wichtiger pädagogischer Pfeiler für die bilingualen Schulen im Bundesstaat.
Gegen diese kulturelle Autonomie, gegen diesen
politischen Widerstand setzt die Regierung seit drei
Monaten massiv Militär und Polizei ein. Dass es dabei um
das Wohl der Jugend geht, mag bezweifelt werden.
Vielmehr ist die Neutralisierung der
Gewerkschaftsopposition CNTE ein wichtiger Etappensieg
für Präsident Enrique Peña Nieto zur Kontrolle des
Bundesstaats. Und da in Oaxaca 2016 Gouverneurswahlen
stattfinden, hilft die Präsenz von über 10.000
Bundespolizist*innen ganz zufällig auch der
Repositionierung seiner Partei PRI, welche unbedingt den
Bundesstaat zurückgewinnen will. 2010 verlor die PRI
erstmals den Gouverneursposten, sie unterlag einer
Allparteien-Allianz unter Führung von Gabino Cué.
Vorausgegangen war dieser historischen Niederlage der
Volksaufstand von 2006. Nach brutaler Repression gegen
streikende CNTE-Lehrer*innen solidarisierten sich große
Teile der Bevölkerung; es entwickelte sich eine Dynamik,
die in der mehrmonatigen Vertreibung der Regierung aus
der Hauptstadt des Bundesstaats gipfelte. Unter dem
Namen Volksversammlung der Völker Oaxacas (APPO) – mit
der Sektion 22 als maßgebliche r Stütze – übte sich die
Bevölkerung in Selbstorganisation, bis die
Bundesregierung mit der Entsendung von Bundespolizei und
Militär dem urdemokratischen Experiment ein blutiges
Ende setzte. Mindestens 25 Aktivist*innen wurden
ermordet.
Doch die mit viel Hoffnung begleitete politische
Transition unter Cué ist kläglich gescheitert, die PRI
bereitet sich auf ihre Rückkehr vor, wie immer mit einer
Mischung aus Almosen und Repression, die die Bevölkerung
spalten soll. Andererseits zeigt die Geschichte Oaxacas,
dass die gut organisierten Lehrer*innen niemals
unterschätzt werden sollten. „Die Lehrer*innen sind ein
Faktor zugunsten der Regierbarkeit im Bundesstaat. Wenn
sie gedemütigt werden, könnte sich dies ins Gegenteil
wandeln“, kommentierte Luis Hernández in der
Tageszeitung La Jornada. Der Machtkampf ist noch nicht
entschieden, Oaxaca bleibt ein Pulverfass.
URL: http://lateinamerika-nachrichten.de/?aaartikel=staatsfeind-nr-1
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