(Über die Quellen der Metamorphose der „Geschichtsphilosophie” von L. D. Trotzki)
Von Prof. Dr. W. I. Kluschin
Redakteur: N. A. Andrejewa
Rezensenten: Prof. Dr. phil. habil. W. J. Jelmejew und Prof. Dr. phil. habil. A. A. Galaktionow
© N. A. Andrejewa
Abdruck, Übersetzung mit dem Einverständnis des Redakteurs der Ausgabe(Erschienen als Heft 21 in der „Marxistisch-leninistische Schriftenreihe für
Geschichte, Politik, Ökonomie und Philosophie“ der KPD(B)).
Vorwort des Redakteurs
Im gesamten Verlauf der Entstehung und Entwicklung des Sowjetstaates war die Idee des Aufbaus der kommunistischen Gesellschaft und des Kampfes gegen den Kapitalismus, gegen seine Überbleibsel und seinen Einfluß auf das gesellschaftliche Bewußtsein der Massen Dreh- und Angelpunkt des philosophischen, soziologischen, ethischen, ästhetischen, juristischen, literarischen und anderer gesellschaftlicher Denkformen. Das machte den Inhalt der Hauptrichtung der Entwicklung des sowjetischen gesellschaftlichen Denken aus, womit der Kampf für den historischen Materialismus in den Gesellschaftswissenschaften des Sowjetstaates äußerst eng verbunden war.
Der philosophisch-soziologische Aspekt des sowjetischen gesellschaftlichen Denkens in der Übergangsperiode, dessen Erklärung und Erforschung wichtiger Bestandteil der äußerst schwierigen und aktuellen Aufgabe der Schaffung und Ausarbeitung einer ganzheitlichen Geschichte des sowjetischen gesellschaftlichen Denkens wurde, bestimmte die Hauptrichtung der wissenschaftlichen und theoretischen Suche des habilitierten Doktors der philosophischen Wissenschaften Professors Wladimir Iwanowitsch Kluschin (1926-1996), eines talentierten gebildeten Theoretikers und Pädagogen, eines führenden Spezialisten auf dem Gebiet des sowjetischen soziologischen Denkens.
Der Feder W. I. Kluschins entstammen eine Vielzahl wissenschaftlicher Aufsätze und mehrere Monographien, darunter „Die ersten gebildeten Marxisten Petrograds” (Lenisdat, 1971, 339 S.), „Der Kampf für den historischen Materialismus in der UdSSR der 20er Jahre” (Verlag „Wissenschaft” , Leningrad, 1975, 411 S.), „Der historische Materialismus in der UdSSR der Übergangsperiode 1917-1936” (AdW der UdSSR, „Wissenschaft”, Moskau, 1986) – die beiden letzten als Ko-autor des korrespondierenden Mitglieds der AdW der UdSSR B. A. Tschagin – aber auch das in tschechischer Sprache in Prag 1978 erschienene zweibändige Lehrbuch für Aspiranten „Philosophische Probleme der Naturwissenschaft des XX. Jahrhunderts”.
In den letzten Jahren wurde von W. I. Kluschin die Monographie „Über die philosophisch-soziologischen Ansichten von L. D. Trotzki” (Quellen, Entstehung, Metamorphose, Verhältnis zum Leninismus) zur Publikation vorbereitet. Diese Monographie erschien wegen der Konjunktur und den politischen Perestroika-Deformationen nicht.
Die vorliegende, der Aufmerksamkeit des Lesers vorgeschlagenen Broschüre ist eine äußerst kurze Darlegung einzelner Thesen aus der oben genannten Monographie.
Mai 1997
Vorwort des Autors
Bevor man über die Rolle Trotzkis in unserer Geschichte spricht, halte ich es für notwendig, folgendes zu unterstreichen:
Die Bewertungen und Schlußfolgerungen begründe ich auf Literaturquellen, d. h. auf Arbeiten von L. D. Trotzki selbst und auf dem, was über ihn, hauptsächlich von seinen Anhängern, Weggefährten, Schülern und auch Emigranten geschrieben wurde. Ich berühre kaum Seiten, die Ihnen bekannt sind, die in den Geschichtsbüchern und auch bei der Kritik des Trotzkismus in den 30-40er Jahren dargelegt wurden. Mit anderen Worten – das ist keine Lektion in Parteigeschichte. Die Subtilität des Objektes der Untersuchung beachtend und um Zeit zu sparen, verwende ich Texte zu meinen Zwecken und führe Zitate aus Originalen an. Das ist auch notwendig, um dem Vorwurf der Eigenmächtigkeit oder der freien Darlegung der Gedanken des Autors zu vermeiden.
* * *
Die objektive Wahrheit ist nicht nur eine gnoseologische, sondern auch eine sittliche Kategorie. Über sie sind so große Worte gesprochen worden, wieviele ernsthafte und leichtsinnige Anhänger schworen ihr Hingabe, wieviel grausame Verluste, Leiden und Opfer wurden auf ihren Altar gelegt. Welche Standhaftigkeit, Geduld, welcher Mut und Wille, welche Selbstaufopferung waren und sind erforderlich, um diese Wahrheit zu behaupten vor dem Ansturm der gebieterischen, aber gleichgültigen Wahrheitssucher, die danach streben, ihre dürftigen gerade aktuellen Offenbarungen ins Feuer der historischen Ewigkeit zu werfen. Wie arbeitsaufwendig und interessant ist die Bewegung des menschlichen Denkens zur objektiven Wahrheit, besonders dann, wenn die Rede von der jüngeren Vergangenheit ist, wieviele Hemmnisse und Hindernisse muß der Forscher überwinden, um wenigstens für einen Augenblick ihre leuchtenden Gipfel zu berühren.
Sehr lehrreich für uns ist eine Periode unserer historischen Erkenntnis, die außer zu einem Höhenflug des sozialen Wissensdurstes auch zu einer Menge drastischer Widersprüche führte. Zu Widersprüchen, die fast unauflösbar erscheinen, in Wirklichkeit aber das wissenschaftliche Denken in Richtung neuer Resultate stimulieren. Konkret, wie oft beeilten wir uns unvorsichtig, die „weißen Flecken” der Geschichte unseres Vaterlandes auszufüllen, ohne zu bemerken, daß wir viel zu oft düstere, dunkle Töne dazu benutzten. Heute gibt es nicht wenig modische, aber nicht gerade für ihr fundamentalen Arbeiten bekannte Historiker oder als solche getarnte Publizisten, die sich zugunsten der heutigen Konjunktur beeilen, sich von den in der ganzen Welt anerkannten Erkenntnissen der sowjetischen Geschichtswissenschaft loszusagen, und zwar nur auf der Grundlage dessen, daß aus dem Buch ihrer Errungenschaften irgendwann aus konjunkturellen oder anderen Erwägungen nicht wenige wichtige Seiten herausgerissen wurden. Allerdings, bei der Wiederherstellung dieser verlorengegangenen Seiten, die übrigens die besondere Neugier des Lesers hervorrufen, reißen sie ohne den Anschein des Bedauerns andere Seiten heraus, die nicht weniger wichtig und lehrreich sind. Derartige nihilistische Tendenzen haben noch nirgendwo und nirgendwann und niemanden in die Nähe der geschichtlichen Realität oder Wahrheit gebracht.
Welche am Kreuzungspunkt der Interessen der Gesellschaft und der Geschichtswissenschaft so widersprüchliche und dämonische Figur könnte uns unterkommen wie Leib (Lew) Dawidowitsch Bronstein (Trotzki), der eine tiefe Spur in der revolutionären Bewegung und in der Übergangsperiode unseres Landes zum Sozialismus hinterließ.
Wahrscheinlich wurde niemand anderem, mit Ausnahme möglicherweise W. I. Lenins, soviel Aufmerksamkeit in der Publizistik, in der künstlerischen und historischen Literatur zuteil wie Trotzki. Und das, im Unterschied zu Lenin, zu Lebzeiten Trotzkis selbst. Mehrere Tausend verschiedene Artikel und Bücher wurden von sowjetischen Autoren, Emigranten und westlichen Forschern über ihn herausgegeben. Es entstand eine umfangreiche „Trotzkiade”, die vorwiegend dem politischen Kampf gewidmet war, der mit Trotzki selbst, seinen Weggefährten oder Schülern verbunden war.
An den Quellen dieser „Trotzkiade” steht L. D. Trotzki selbst, der es vermochte bis 1928 in der UdSSR 17 Bände seiner Werke herauszugeben, nicht gezählt Tausende einzelne Ausgaben seiner Bücher, Broschüren, thematischer Sammelbände, Auftritte, Reden, Briefwechsel. In der Emigration wurde all dies erneut herausgegeben, durch neue Aufsätze, Erinnerungen, Manifeste und Botschaften an das sowjetische Volk ergänzt.
Man kann in der Geschichte kaum einen Politiker finden, der sich derart um sein für die kommenden Generationen vorgesehenes „historisches Antlitz” gekümmert hätte. Mehrere tausend autobiographischer Seiten käuten kleinste Details des Lebenslaufes des „Führers der russischen Revolution” wieder, detaillierte Charakteristiken von Menschen, die mit ihm gingen oder gegen ihn auftraten, angefangen von den Funktionären der westlichen Sozialdemokratie, den Führern der russischen Revolutionsbewegung und Ministern des Zaren bis hin zu dem Kutscher, der ihn in die Verbannung fuhr, dem Matrosen in der Lederjacke, der den Volkskommissar für Armee und Flotte in dessen berühmtem Zug bewachte und ihm bis zum letzten Atemzug ergeben war.
Zum Zwecke der Systematisierung und Redaktion dieses „historischen Erbes” arbeitete in Moskau ein ganzer Stab fähiger Publizisten, unter ihnen Lenzer, Wermel, Geller, Rumer, Rensin, Posnanski und eine Reihe anderer. Und einen Mangel an „Grundlagenmaterial” gab es bei ihnen nicht, da Lew Dawidowitsch auf Meetings, Versammlungen und Beratungen nie ohne seinen persönlichen Stenographen erschien, der alle seine Aussagen ausführlich fixierte. Auf seine Weisung hin wurden alle Befehle und Direktiven des Volkskommissars für Armee und Flotte in drei Exemplaren gedruckt, von denen eines in das persönliche Archiv Trotzkis einging, das bis zur Ausreise aus der UdSSR nur mit Mühe in zwei Eisenbahnwaggons unterzubringen war. Die Rolle des theoretischen Adjutanten spielte bei ihm der aktive Intrigant Professor S. J. Semjowski, der später jedoch andere Auffassungen vertrat.
Nach der Oktoberrevolution brachte die Reklame und Selbstreklame Trotzkis ihre Früchte. In Reden und Broschüren stellte man bei der Aufzählung der Führer der Revolution den Namen Trotzkis nicht selten vor den Lenins. „ So kam die große Revolution, – sagte M. S. Uritzki, – und man fühlt, wie klug Lenin auch ist, er beginnt neben dem Genie Trotzkis zu verblassen.” (Lunatscharski A. W. „Der große Umsturz”, Petersburg, 1919, S. 78).
Aber einige hervorragende Parteiführer waren, wie A. W. Lunatscharski schrieb, „geneigt, in ihm den wahren Führer der Revolution zu sehen.” (Ebenda). Ja, auch der Volkskommissar für Bildung tat in diesen Jahren nicht wenig, um in der Gesellschaft diese Meinung zu fördern. In seinem Buch „Der große Umsturz” (Welikij Pereworot) wurden als hervorragendste Führer der Revolution in erster Linie neben Lenin und Trotzki solche Funktionäre wie G. J. Sinowjew, L. B. Kamenjew, J. O. Martow und, natürlich, der Autor des Buches selbst hervorgehoben. Man muß im Auge behalten, daß dies Parteifunktionäre waren, die nach der ersten russischen Revolution in die Emigration geraten waren und fast keinen unmittelbaren Anteil an der Arbeit des russischen revolutionären Untergrunds hatten. Dabei, bemerkte Lunatscharski, daß „der meiste Lärm und der meiste Glanz um Trotzki herum war”, der „einen gewaltigen Machtanspruch”, „ungewöhnliche Eleganz”, „Rede- und Schreibtalent”, „eine größere Orthodoxität als Lenin” zeigte.
Auch Lunatscharskis damalige Beurteilung Lenins ist interessant. Nach seinen Worten unterschied sich Lenin durch „Grobheit”, „Monotonie der Redegestik”, „Farblosigkeit” und „Schüchternheit” im Umgang mit den europäischen Sozialdemokraten und deren Führern, „Unfähigkeit, den Standpunkt seines Gegners einzunehmen”, das Streben, hinter den Diskussionen seiner Kollegen „den Zusammenstoß verschiedener Klassen und Gruppen zu sehen”. „Der dominierende Zug seines Charakters war der Wille”. „Man muß nicht denken, – erklärt Lunatscharskij,- daß der zweite große Führer der Revolution in allem hinter seinen Kollegen zurückbleibt; es gibt Seiten, in denen ihm Trotzki unstreitig überlegen ist; dieser ist glanzvoller, leuchtender, beweglicher. Lenin ist wie nie dazu geeignet, im Sessel des Rates der Volkskommissare genial die Weltrevolution zu leiten, aber er käme mit der titanischen Aufgabe nie klar, die Trotzki auf seine Schultern geladen hatte, mit diesen Blitzreisen von einem Ort zum anderen, diesen heldenhaften Reden, diesen Fanfaren unverzüglich erteilter Befehle.” (Ebenda).
Nachdem ich mich für ein so langes Zitat entschuldigt habe, möchte ich auf die Kompliziertheit und Mehrdeutigkeit der Situation innerhalb der Partei im Lande nach 1917 hinweisen. Ich möchte es nicht als einen Tadel für Lunatscharski verstanden haben, umsomehr, als dieser im Ergebnis der Tätigkeit gemeinsam mit Lenin in der Regierung sein Urteil bald drastisch veränderte. Allerdings fühlte er in den Jahren des Bürgerkriegs wohl noch die „Wunden”, welche die eiserne Logik von „Materialismus und Empiriokritizismus” geschlagen hatte, wobei nicht nur die idealistische und religiöse Färbung der philosophischen Versuche des zukünftigen sowjetischen Volkskommissars für Bildung entblößt wurde, sondern auch die sozialpolitischen Quellen dieser intellektuellen Mode, welche die „nahende Revolution” bedrohte. Daher auch die Vorwürfe gegenüber Lenin hinsichtlich dessen parteilichen, klassenmäßigen Herangehens bei der Beurteilung politischer und ideologischer Tendenzen, die Betonung des „Lenin’schen Willens”. Wahrscheinlich hat hier eher Maxim Gorki recht, der als wesentlichsten Zug Iljitschs sah, daß „dessen Denken immer, wie eine Kompaßnadel, in Richtung der Klasseninteressen des Proletariats zeigt”.
Im Bemühen, die bekannte Gegnerschaft G. W. Plechanows gegenüber Trotzki zu erklären, bringt der Autor des „Großen Umsturzes” in seinem Buch eine unter den Sozialdemokraten verbreitete Anekdote: Angeblich hatte die impulsive Vera Sasulitsch auf einer Versammlung nach der Bekanntschaft Trotzki ausgerufen, daß „dieser Junge zweifellos ein Genie” sei. Wonach der verärgerte Plechanow gesagt haben soll, daß er dies „Trotzki niemals verzeihen werde”. Was steckte dahinter? Keineswegs eine romantische Geschichte. Lunatscharski erklärte den Ausspruch Plechanows damit, daß Trotzki im Unterschied zu Plechanow, Lenin und Martow aus den komplizierten Umständen der Revolution von 1905-1907 „mit dem größten Zuwachs im Sinne der Popularität hervorging”. Die Zweifelhaftigkeit einer solchen Betrachtung wurzelt darin, daß der Initiator solcher Behauptungen Lew Dawidowitsch selbst war.
Wenn man all das in Betracht zieht, kann man es dann für Zufall halten, daß das ehemalige Mitglied der Plechanow’schen Gruppe „Befreiung der Arbeit”, L. G. Dejtsch, als er nach 1917 gemeinsam mit der Zeitschrift der amerikanischen Sozialisten „Zukunft” die Herausgabe einer Serie „Juden in der russischen Revolution” in Angriff nahm, als ersten Trotzki benannte, gleich bei mehreren Autoren Bücher über ihn bestellte. Muß man sich wundern, wenn die maßlosesten Anhänger des Volkskommissars für Armee und Marine behaupteten, „Trotzki verkörpere den ganzen Charakter der russischen Revolution”, sei ihr „Chefarchitekt” gewesen, „ihr Extrakt, ihr Gesicht und ihre Seele”, sie nannten ihn „Oberanführer der Revolution”, denn angeblich sei „Lenin zu spät in den Smolny gekommen”. (Ustinow G. „Der Tribun der Revolution (L.D. Trotzki)”, Moskau, 1920, S. 16, 27, 51)
Bei der Rede auf dem XIII. Parteitag der RKP(B) nannte ihn der Delegierte der Französischen Kommunistischen Partei Boris Suwarin, ein Anhänger Trotzkis, einen „Übermenschen”, dessen Name „ein Synonym für die Revolution” sei. Die Sache hörte nicht mit einem Vergleich Trotzkis mit dem „leuchtenden Gipfel des Mont Blanc” auf, sondern bekam greifbaren Charakter. Zum Beispiel suchen in den Kinoarchiven bis heute mit großer Geduld standhafte Forscher nach Kinofilmen, die eine Verbindung zu Lenin haben. Sie sind äußerst selten. Dafür gibt es soviele Filme, die Trotzki gewidmet sind, triumphale Treffen des Volkskommissars für Armee und Flotte in verschiedenen Städten darstellend, Massenansammlungen von Menschen, Orchester, riesige Porträts, Grußlosungen, Transparente. In unseren Tagen verurteilt man zurecht die Praxis, Städten und Siedlungen die Namen lebender Politiker zu geben. Die Pioniere dieser Tradition waren die Trotzkisten. So wurde der Name Trotzk einem Vorort von Leningrad, der Stadt Gatschina und mehreren kleineren Siedlungen verliehen. Im Zuge der Einführung von Ehrentiteln wurde Trotzki erster „Verdienter Bergmann”, „Verdienter Metallurge”, „Verdienter Eisenbahner”, „Verdienter Rotgardist”. Das wirkte nicht nur ein oder zwei Jahre auf das Bewußtsein der Massen, belehrte die Menschen, daß Trotzki, wenn nicht gar der „erste”, so doch mindestens der „zweite Führer der Revolution” gewesen sei.
Vollständig begründet ist die Aussage, daß sich gleich nach 1917 in der Partei und im Land ein Personenkult um Trotzki festsetzte, welcher der Autorität Lenins unmittelbar entgegenstand. Es reicht aus zu sagen, daß zu Lebzeiten Lenins einige dünne Broschürchen mit seiner Biographie herausgegeben wurden, wobei die Feder der Autoren eher deren Liebe zu Iljitsch führte als die Kenntnis der Umstände und Perioden seiner revolutionären Tätigkeit.
Einige trugen den Charakter von folkloristischen Phantasien. 1927 erschien als kleine unansehnliche Broschüre die Biographie Stalins, eine trockene Wiedergabe seines Parteifragebogens und war von seinem Sekretär während der Jahre des Bürgerkrieges Iwan Towstucha niedergeschrieben worden. Dafür trugen bei Trotzki ganze Bände seiner Gesammelten Werke unmittelbar autobiographischen Charakter. Ich denke, daß man das nur aus den Zügen des Charakters heraus nicht erklären kann. Trotzki bereitete sich seit seinen Jugendjahren auf die Führungsrolle vor, wovon nicht Weniges in seiner Biographie und in seinem Lebensweg zeugt. Nicht hier muß man die Wurzeln des Mißtrauens suchen, daß er seitens der Parteimitglieder und der Arbeiter erfuhr.
Bevor man die theoretischen Ansichten Trotzkis analysiert, muß man wenigstens kurz die wesentlichsten Meilensteine seines Weges als Funktionär und aktiver Teilnehmer am revolutionären Kampf betrachten.
Leib Bronstein wurde am 26. Oktober 1879 geboren. „Der Tag meiner Geburt, – schrieb er später –fällt mit dem Datum des Sieges der Oktoberrevolution zusammen”.
Sein Vater war weder Landwirt, wie man in den biographischen Broschüren der 20er Jahre schrieb, noch war er Großgrundbesitzer, wie man es später qualifizierte. Er war ein großer Landbesitzer und Verpächter, Kornhändler, ein sehr reicher Mensch, der hunderte Lohnarbeiter ausbeutete. Er gab seinen Kindern zu Hause eine ausgezeichnete Bildung, wobei sie auch zum Zählen der beträchtlichen Gewinne herangezogen wurden. Kriegslieferungen machten ihn zum Millionär, die Revolution aber nahm ihm alle Ersparnisse weg, als sie ihn zwang, sich gemäß Empfehlung des Sohnes im hungernden Moskau mit der ihm gutbekannten „Brotangelegenheit” zu beschäftigen.
Entgegen seiner Berufung schickte man Lew Bronstein auf die Odessaer Realschule, die neben einer mittleren Reife auch den Beruf eines Buchhalters vermittelte. Aber Mathematik und Rechnungsführung interessierten den „Realisten” nicht. Er schreibt mit Vergnügen Aufsätze, Gedichte, träumt davon Schriftsteller oder Dichter zu werden. Er übersetzt Fabeln von Krylow ins Ukrainische. Er liest viel, begeistert sich für moderne Literatur. Nach Beendigung der Realschule fährt er zur Fortsetzung seiner Ausbildung nach Nikolajew und tritt in die dortige Universität ein. Das Lieblingsbuch des Studenten Bronstein wird die „Eristik” Schopenhauers, ein kleines, aber wie sich später zeigt, ein äußerst nützliches Büchlein. Eristik nannte man die Kunst des Streitens. Sie lehrte, in jeder Diskussion die Oberhand zu behalten, unabhängig davon, ob die Wahrheit oder ein Irrtum bewiesen wird.
(Eristik – die Kunst zu streiten, Polemik zu führen, dabei alle Methoden anwenden, die nur darauf berechnet sind, den Gegner zu besiegen. Das griechische Wort Eristikos – Streitender. Heuristik – ein System der mündlichen Lehre, bei dem der Lehrer den Schüler mittels steuernder Fragen dazu bringt, selbständig zur Lösung der gestellten Frage zu gelangen. In der modernen Literatur versteht man unter Heuristik die Methodik der Suche von Beweisen und Lösungen der Aufgabe. Das griechische Wort Heuristiko – ich finde. Der Redakteur)
Lew Dawidowitsch lernte das Büchlein fast auswendig und wendete seine Thesen und Empfehlungen immer in den Disputen an, die Ende des XIX. Jahrhunderts in jugendlichem Umfeld siedeten. Hier in der Universität beginnt er, Nekrassow, Saltykow-Schtschedrin, Kosma Prutkow und moderne westliche Autoren zu lesen.
Allerdings formierten sich die wesentlichsten Interessen Bronsteins nicht auf den Bänken der Universität. Er tritt in den „Südrussischen Arbeiterbund” ein, der damals in den Ideen der liberalen Volkstümler, des Ökonomismus und anderen kleinbürgerlichen Konzeptionen des gesellschaftlichen Lebens gefangen war. Die Mitglieder des Nikolajewer Bundes (in der Stadt Nikolajew) versammelten sich heimlich am Rande des Parks eines der Magnaten im kleinen Haus des Gärtners, dessen Bewohnerpaar ihre Ansichten teilte. Auf diesen Treffen lobpreisten sie die sagenhafte Theorie vom Helden und dem Haufen, verfluchten den Marxismus als „ausgeklügelte Lehre der Krämer und Händler”, diskutierten extravagante Konzeptionen der gesellschaftlichen Umstrukturierung aus dem Arsenal der westlichen Soziologie.
In diesen tagelangen Streitgesprächen zeichnete sich Lew Bronstein durch Zügellosigkeit, Anmaßung, Unbeständigkeit der Ansichten aus. Die ersten von ihm aufgeschriebenen Referate waren der Kritik des Marxismus gewidmet. „Ich hielt mich für einen Gegner des Marxismus, dessen Bücher ich allerdings nicht gelesen hatte”, – erinnerte er sich mit Stolz (W. I. Newski, „Der Südrussische Bund”, Moskau, 1922, S.90). Bronstein nannte sich mal „Sozialdemokrat”, mal „Volksdiener”, öfter aber unterstrich er seinen „Nichtmarxismus”. In den Diskussionen im Gärtnerhaus tat sich Alexandra Lwowna Sokolowskaja hervor, die sich als erste für die Arbeiten von Marx und Engels begeisterte. Sie bemühte sich, Bronstein zum ernsthaften Kennenlernen des Marxismus zu überreden und er, ihr gegenüber nicht gleichgültig, entflammte vor Interesse, versprach, sie im Streit zu unterstützen, wenn sich aber die Frage direkt stellte, dann ging er meistens auf die genau entgegengesetzte Positionen über. Diesen Wortbruch und seine „Überflüge” brachten seine Freunde zu der Auffassung, daß aus ihm entweder ein „großer Held oder ein großer Schuft werden würde”.
Unter dem Einfluß der Sokolowskaja kommt Lew Dawidowitsch, bis zum Ende seines Lebens Lassalle für den wahren Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus haltend, letztendlich zum Schluß, daß ihm vorbestimmt sei, der „russische Lassalle” zu werden. Die Polizei wußte seit langem von diesen Treffen, meinte aber, in Betracht ziehend, daß die Teilnehmer Kinder gut gestellter und ehrbarer Familien waren, daß sich die Jugend selbst „die Hörner abstoßen müsse”. Zu Beginn des XX. Jahrhunderts verschärfte sich allerdings die innere Lage des Imperiums, und die Regierung führte eine Reihe Polizeiaktionen gegen die Gegner der Selbstherrschaft durch. Auch der „Südrussische Bund” entging nicht ihrer Aufmerksamkeit. Nach einer Denunziation Schrenzels wurde die gesamte Organisation verhaftet und fand sich im Arrest wieder. Aus Nikolajew schaffte man die Gefangenen nach Odessa, wo sie ein neues, nach dem letzten Stand der Technik erbautes, großes Gefängnis erwartete. Unter den Inhaftierten befand sich auch Alexandra Sokolowskaja, die Leib Bronstein-Trotzki kurz vor der Verhaftung die erste Tochter geboren hatte.
Das Verhältnis der Gefängniswärter zu den Gefangenen in Sachen „Bund” der Jugendlichen war völlig loyal. Ihnen wurden häufige Treffen mit Verwandten, die Entgegennahme und der Empfang zugesandter Bücher und Zeitungen gestattet. Sie befanden sich einzeln in gewöhnlichen Kammern. Gerade hier, im Odessaer Gefängnis wurde Lew Dawidowitsch erstmals mit dem Marxismus bekannt. Nachdem er mit dem Studium von Etüden über das materialistische Geschichtsverständnis Antonio Labriolas begonnen hatte, ging er dann zu den Arbeiten Plechanows und von diesen – zu den Arbeiten von Marx und Engels über. Mit der Meinung, daß er mit seinen 19-20 Jahren den Begründern der proletarischen Weltanschauung in nichts nachstünde, erklärte sich Bronstein sogleich zum „Marxisten”.
Noch im Gefängnis befaßte er sich mit dem Studium der Freimaurerei vom Standpunkt der materialistischen Geschichtsauslegung her. Wir haben keine dokumentarische Grundlage, um hinsichtlich dieser Beschäftigung irgendetwas Näheres zu sagen. Nur zu behaupten, daß sie höchste theoretische Bedeutung gehabt hätte, wäre wohl auch übereilt. In den sozialen Kreisen, in denen Bronstein geformt wurde, hatte die Freimaurerei aber ziemlich tiefe Wurzeln.
Alle Inhaftierten wurden vom Gericht zu verschieden langen Verbannungsfristen verurteilt. Lew teilte man eine Frist von viereinhalb Jahren zu, von denen zwei im Gefängnis verbracht wurden. Die Verurteilten schaffte man ins Moskauer Butyrski-Gefängnis, wo sie in einem separaten Flügel untergebracht wurden, um die nächste Etappe abzuwarten. Treffen und Übergaben wurden nicht beschränkt, die Zellentüren wurden nicht verschlossen, man konnte nach Belieben im Gefängnishof spazieren gehen. Hier vermählte sich Bronstein gegen den Willen seiner Eltern mit der Sokolowskaja.
Die nächste Etappe traten sie gemeinsam an. In Irkutsk brachte man die Verbannten in Privatwohnungen unter, sie stellten die Verbindung zur dortigen Intelligenz her, schrieben Referate, begeisterten sich für das damals modische Krokettspiel, bei dem die Spieler Augenmaß, Siegeswille und Scharfsinn ausbilden können.
Lew Dawidowitsch war kein physisch starker Mensch. Er litt unter epileptischen Anfällen, nahm weder Wein noch Fleisch zu sich, fühlte häufig Unwohlsein. Sich an die Gefängnis-Verbannungs-Epopöe erinnernd, wies sein Leidensgefährte G. A. Siw, einer der ersten, die den Vorschlag Dejtschs, ein Buch über Trotzki zu schreiben, angenommen hatten, darauf hin, daß Bronstein in der revolutionären Tätigkeit den Ansatzpunkt seines „ICH“, den Weg zur Berühmtheit auf politischem Gebiet gefunden hatte. „Die Arbeiter, – schreibt Siw, – interessierten ihn nur als notwendige Objekte seiner Aktivität … Er liebte in ihnen nur sich selbst.” Bei Bronstein stießen eher „sich heftig ausdrückender Egoismus, hypertropher Eigendünkel, maßlose und krankhafte Eigenliebe, das Streben zur Extravaganz in Reden, Schriften und Verhalten” ab. Er duldete keine Überlegenheit über seine Person und „ihn im Krokett zu besiegen, hieß in ihm den bösesten Feind erworben zu haben” (Siw G. A., „Trotzki. Charakteristik nach persönlichen Erinnerungen”, New York 1921, S. 12, 33, 41).
In der Verbannung kam Berühmtheit und Erfolg als Journalist zu ihm, nachdem er im Journal „Östliche Rundschau” publiziert hatte. Plechanow lud Bronstein zur „Iskra” (der Funke) ein, was für den jungen Verbannten höchst ehrenvoll war. Lew Dawidowitsch verließ das in Irkustsk liebgewordene Krokett, seine Ehefrau mit zwei kleinen Kindern (das kleinste war zwei Monate alt) ohne Mittel zu Existenz, flieht aus Ust‘-Kuta, nachdem er in das gekaufte Paßformular eigenhändig den Familiennamen „Trotzki” geschrieben hatte, den er vom Oberaufseher des Odessaer Gefängnisses übernahm, einem beschränkten, autoritären Chauvinisten, den nicht nur die Gefangenen fürchteten, sondern auch die Wärter.
Die Flucht gelang. Nach konspirativen Treffen in der Hauptstadt überschritt er die Grenze nach Österreich, begann eine Reise durch die europäischen Länder. Hier nähert er sich P. B. Axelrod und anderen zukünftigen Menschewiki an, wird mit Viktor Adler und seinem Sohn Franz bekannt, schaltet sich in den Strudel der europäischen sozialdemokratischen Bewegung ein. In Genf, nachdem er sein Mandat von der sibirischen Organisation als Flüchtling aus der Verbannung übergeben hatte, nahm Trotzki am Zweiten Parteitag teil, wo er nach den Worten des Menschewiken Rjasanow anfangs die Rolle von „Lenins Knüppel” spielte, dann aber auf die Positionen Martows übergeht. Einen Monat nach dem Parteitag formierten die Menschewiki als Gegengewicht zu dem auf ihm gewählten ZK ihr Büro, zu welchem außer Trotzki Axelrod, Martow, Potressow und Dan gehörten. Ein Plan für den Kampf mit den Bolschewiki wurde ausgearbeitet. Allerdings stießen die Ambitionen Trotzkis im menschewistischen Büro mit dem Intrigantentum Dans zusammen, und er scheidet aus ihm aus, nimmt „seine eigene Position ein”. In dieser Etappe bringt Trotzki nach den Worten seines Schwagers L. B. Kamenjew (des Ehemannes seiner jüngeren Schwester Olga Dawidowna, „einer Dame mit aristokratischen Manieren und großen Ansprüchen”) die „Ansichten des Bundes” zum Ausdruck.
In dieser Periode erscheint die Broschüre Trotzkis „Unsere politischen Aufgaben”, gewidmet „meinem Lehrer Pawel Borissowitsch Axelrod”, mit einem Vorwort des Zuwanderers aus Rußland Helfand (Parvus), der an Spekulationen Millionen verdiente und bald zu einem grimmigen Gegner der Revolution wurde. Entgegen ihrem Anspruch drückte diese Broschüre das rein menschewistische Credo des Autors aus, nach dessen Meinung „Lenin überhaupt kein Marxist”, „der Führer des reaktionären Flügels der Partei”, „ein Usurpator”, „ein Diktator” sei, der die Sozialdemokraten in gehorsame „Schräubchen” verwandele. Trotzki selbst ist selbstverständlich Demokrat und Humanist. Allerdings, eine eigene Fraktion zu schaffen, gelang ihm nicht, und er mußte, sich eigentlich in allen wesentlichen Fragen an die Menschewiki anschließend, „außerhalb der Fraktionen” verbleiben.
Zu Beginn der Revolution 1905 kam Trotzki in Petersburg an, wechselte auf dem Gipfel der Revolution seine Orientierung, „macht Schluß mit dem Mystizismus Demokratie”, beginnt mit der Ausarbeitung der „Theorie der permanenten Revolution”. Indem er das Wesen dieser „Theorie” darlegt, behauptete er, daß die proletarische Avantgarde zur Sicherung ihres Sieges „in feindliche Verhältnisse nicht nur zu allen Gruppierungen der Bourgeoisie eintritt, sondern auch zu den breiten Massen der Bauernschaft, mit deren Unterstützung sie an die Macht gekommen ist. Widersprüche der Lage einer Arbeiterregierung in einem rückständigen Land mit einer erdrückenden Mehrheit bäuerlicher Bevölkerung können ihre Lösung in internationalem Maßstab finden, in der Arena der Weltrevolution des Proletariats” (Trotzki, L. D. „1905” 2. Ausgabe, Moskau 1922, S. 4). Daher führt nach Trotzkis Meinung die Lenin’sche Lehre von der revolutionär-demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern zur „Selbstbeschränkung” des Proletariats, das eine Alleinherrschafts-Diktatur errichten soll, und bevor dieser Diktatur von der sozialismusfeindlichen Bauernschaft das Wasser abgegraben wird, soll sie auf Bajonettspitzen mit Hilfe einer „revolutionäraggressiven Taktik” in die entwickelten europäischen Länder gebracht werden.
In Petersburg wird Trotzki anfangs Stellvertreter, dann aber Vorsitzender des Petersburger Sowjets, wo er eine stürmische Tätigkeit entwickelte.
Er tritt oft auf Meetings auf, wendet sich an die Beamten des Zaren, führt Verhandlungen mit dem allgewaltigen Witte, nach seinen Worten „als Gleicher mit einem Gleichen”. Nach der Zerschlagung der Revolution erfolgte Arrest, Verbannung ins Tobolsker Gouvernement, Flucht aus Beresowka. Eine neue Emigration krönt die sogenannte „linke” Periode seiner Tätigkeit. Noch in Petersburg trifft er seine zukünftige zweite Frau Natalja Sedowa, die Tochter eines Kaufmanns der ersten Gilde, eine am Anfang stehende „Revolutionärin”. Einige Zeit wohnten sie zusammen unter dem Familiennamen Wikentjew. Nach der Verbannung Lew Dawidowitschs verläßt Natalja Rußland, um ihre Ausbildung fortzusetzen.
In der Emigration wohnte Trotzki, die Hilfe seines Vaters nutzend, im Unterschied zu den meisten anderen emigrierten Revolutionären vollkommen versorgt. Er bekam eine höhere Bildung, hört Lektionen der wissenschaftlichen Leuchten in einer Reihe europäischer Universitäten. Er heiratet Natalja Sedowa, die ihm bald darauf den Sohn Lew Lwowitsch schenkte, der den Namen der Mutter erhielt und zur treuen politischen Stütze seines Vaters wurde. Bald erblickte auch Sergej Lwowitsch Sedow das Licht der Welt, der die Hoffnungen seines Erzeugers nicht erfüllte, sich von ihm trennte, als dieser sich auf dem Zenit von Ehre und Macht befand. In diesen Jahren der zweiten Emigration wirkt Trotzki aktiv am politischen Leben der europäischen Sozialdemokratie mit, nimmt an den meisten Parteitagen und Konferenzen der RSDAP, an den Treffen der Parteiintelligenz teil.
Seine Position auf den Parteiforen charakterisierend, bemerkte der emotionale Martow, daß „Trotzki überall mit eigenem Klappstuhl erscheint”, d.h. seine Persönlichkeit hervorhebt, danach strebt, die „Genialität” und „Originalität” seiner Gedanken zu unterstreichen. Vor dem ersten Weltkrieg arbeitete er aktiv mit den liquidatorischen Zeitungen und Journalen „Unser Morgenrot”, „Wiedergeburt” und „Strahl” zusammen, gab in Wien seine Zeitung „Prawda” (Wahrheit) heraus, die seine Anhänger absichtlich mit der Lenin’schen durcheinanderbrachten. Gemeinsam mit ihm arbeiteten an dieser Zeitung Semkowski, Joffe und eine Reihe anderer damaliger Gleichgesinnter zusammen.
In Bologna lehrte er zusammen mit Pawlowitsch-Welman, Maslow und Kollontai an der Schule der parteifeindlichen Gruppe „Vorwärts”, wo Lunatscharski Direktor war. In seinen Lektionen sagt er den Abgang des Bolschewismus von der politischen Arena im Zuge eines erbitterten Kampfes voraus. „Lenin“, behauptet er, – „wird dabei den Tod erleiden“. Der Lieblingsstudent in dieser Schule war der zukünftige Minister der Provisorischen Regierung M. Skobelew. In eben dieser Periode nannte Lenin ihn „Judas-Trotzki”, unterstrich dessen Einfluß, die Spitzbübereien, das Posieren und das Intrigantentum, wovon Trotzki sich bis zum Ende seiner Tage nicht befreien konnte.
In den Jahren des ersten imperialistischen Krieges führt Trotzki in Frankreich Antikriegspropaganda. Die einseitige Aufdeckung der militaristischen Greueltaten der englisch-französischen und russischen Seite führte zur administrativen Ausweisung nach Spanien. Von da aus wechselt Trotzki bald auf der Grundlage von Geldern amerikanischer jüdischer Sozialisten in die USA „als tätiger Teilnehmer am Kampf für die russische Freiheit, denen man sich in Amerika schon immer mit großem Mitgefühl zuwandte”. Allerdings, der erwartete triumphale Empfang in New York fand nicht statt, obwohl in der Presse der Redekunst des Angekommenen Tribut gezollt wurde.
Trotzki verlor durch fehlenden Demokratismus im Verhältnis zu seinen Zuhörern. Nach der Februarrevolution verläßt Trotzki das ungastliche Amerika, die Engländer verhafteten ihn jedoch in Halifax und setzen ihn in einem Lager für Internierte fest, von wo er durch beharrliche Forderungen des Petrosowjets und des Außenministers der Provisorischen Regierung P. N. Miljukow befreit wurde.
Nachdem er im Mai 1917 in Petrograd angekommen war, gelangte Trotzki den Worten Lunatscharskis nach „ziemlich unerwartet und sogleich glanzvoll” zum Bolschewismus. Anfangs hielt er sich in der Zwischengruppe (Meshrajonka) außerhalb der Bolschewiki und der Menschewiki, widersetzte sich ihrer Vereinigung mit der bolschewistischen Organisation der Hauptstadt, trat für Zusammenarbeit mit der Provisorischen Regierung ein, zweifelte den Lenin’schen Kurs auf die sozialistische Revolution an. Nach dem Auseinandertreiben der Julidemonstration sagte er sich von den Bolschewiki los und bat die Provisorische Regierung darum, ihn ins Gefängnis zu sperren. Der Bitte wurde stattgegeben. Allerdings nahm der IV. Parteitag, entgegen den Absichten Trotzkis, die Zwischengruppe in die Reihen der Bolschewiki und ihre Vertreter – Trotzki und Uritzki ins ZK auf. Nach der Zerschlagung des Kornilow-Putsches wurde auf Empfehlung Kamenjews anstelle von Tscheidse als Vorsitzender des Petrowsowjets der aus „den Kreuzen” entlassene Trotzki vorgeschlagen. Dabei leitete der bald als Agent der Ochrana des Zaren entlarvte linke Sozialrevolutionär Pawel Dekonski die Kampagne seiner Wahl in den Petrosowjet Im Zentralkomitee führte Trotzki, unterstützt durch Kamenjew und Sinowjew, die Sache der Sabotage der militär-technischen Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes. Er startete eine lebendige organisatorische Arbeit unter den Massen auch im Petrosowjet, den er in einen ununterbrochen funktionierenden Diskussionsklub verwandelt. Die gesamte Tätigkeit in dieser verantwortungsschweren Periode zeugte davon, daß er beabsichtigte, den Aufstand durch legale Mittel des Kampfes zu ersetzen – Einberufung eines Kongresses der Sowjets, dann eine Gründungsversammlung, die festlegt, in wessen Händen sich die Macht im Ergebnis des revolutionären Umsturzes befinden wird. Nur, im Rußland des Jahres 1917, „stürzte sich die revolutionäre Epoche durch die am meisten verbarrikadierte Tür”, wie das Trotzki sagte, und „die Diktatur der Sowjets wurde nur durch die Diktatur der Partei möglich”. Den Ersatz der Diktatur einer Klasse durch das Verständnis „Diktatur der Partei” brauchte Trotzki im gegebenen Falle als Begründung „des Preises des Abgehens” von der trotzkistischen Version der proletarischen Revolution.
Auf der Richtigkeit seiner Konzeption der Oktoberrevolution bestehend, erklärte Trotzki 1924 in „Lehren des Oktobers”, daß der Sieg zu 9/10 angeblich schon in dem Augenblick errungen war, als der Petrosowjet unter seinem Vorsitz für das Verbot der Verlegung der Garnisonstruppen der Stadt an die Front stimmte, d. h. auf völlig friedlichem „demokratischem” Wege möglich wurde. Sie stimmten ab, und vollzogen angeblich die Revolution. Der nach zwei Wochen folgende Sturm auf das Winterpalais war gewissermaßen nur ein Schlußakkord eines unblutigen Umsturzes.
Ja, und die Leitung dieses Sturmes schrieb sich Trotzki in vollem Umfange selbst zu. Darauf achtete anfangs niemand. Nach der Veröffentlichung von „Lehren des Oktobers” wiesen Teilnehmer des bewaffneten Aufstandes und Augenzeugen der Oktoberereignisse diese erlogene Version vollständig zurück.
Die diplomatische , militärische, administrative und politische Tätigkeit Trotzkis nach dem Sieg des Oktobers wird äußerst konkret und umfassend in unserer Literatur beleuchtet. Der Rahmen dieses Artikels erlaubt uns nicht, sich besonders mit dieser Frage zu befassen, obwohl sie weitere Präzisierungen erfordert.
In Verbindung damit muß man unserer Meinung nach zwei Momente beachten, die nicht immer in Betracht gezogen werden.
Der erste ist Trotzkis Rolle als „flammende, strafende Hand der Revolution”. Diese Rolle wurde vorwiegend in der Emigrantenliteratur beleuchtet, die mit seinem Namen Massenrepressionen an der Front und im Hinterland, Geiselerschießungen, Strafaktionen gegen die russische Intelligenz und Kulturschaffende verbindet. Weit bekannt ist der Befehl Trotzkis, wegen des nicht bewiesenen Verrates von Militärspezialisten eine Reihe führender Politarbeiter der Ostfront dem Kriegsgericht zu übergeben und zu erschießen. Dieser Befehl wurde auf die dringliche Forderung Lenins hin zurückgenommen. Eben in dieser Zeit ging die von Trotzki gehätschelte „eiserne” Division, seine Zierde und sein Stolz, die Zaryzin zur Hilfe gesandt wurde, nachdem Stalin auf Betrieben Trotzkis von dort abberufen worden war, anstatt sich in den Kampf einzuschalten, im Paradeschritt, mit Musik und entrollten Fahnen zu den Weißen über, was ohne irgendwelche Folgen für den Volkskommissar für Armee und Flotte Trotzki blieb, der Militärspezialisten recht häufig von den festgelegten Formen der Kontrolle befreite.
Der Terminus „unerbittlich” war der allerliebste im Lexikon Trotzkis, das Sprichwort: „Wo gehobelt wird, fallen Späne” das gängigste. „Unerbittlichkeit, – erklärte er, – ist die höchste Form revolutionärer Humanität” (L. Trotzki, „Die neue ökonomische Politik Sowjetrußlands und die Perspektiven der Weltrevolution”, Moskau, 1923, S. 9), Abschreckung aber ist – „das mächtigste Mittel der Politik”. Dessen und anderem bediente sich der „bewaffnete Prophet”, wie ihn sein späterer Biograph Isaak Deutscher nannte, in der Praxis. Eines der ersten Opfer des neuen Volkskommissars für Armee und Flotte wurde der im Baltikum bekannte Offizier, der Fregattenkapitän Schtschastny, der sich durch seinen unabhängigen Charakter und persönlichen Mut auszeichnete.
Eine wesentliche Rolle spielten seine Autorität und seine patriotische Auffassung vom soldatischen Auftrag unter den in keiner Weise einfachen Bedingungen revolutionärer Veränderungen, als massenhafte Desertionen in der Flotte festgestellt werden mußten. Fregattenkapitän Schtschastny brachte die schwankenden Offiziere hinter sich und führte die Kampf- und Transportschiffe der Ostseeflotte aus der Gefangenschaft im Eis bei Helsingfors, wobei er sich dabei auf die Schiffskomitees stützte. Dadurch wurde die Flotte vor dem Schicksal der Versenkung durch das Schwarzmeergeschwader gerettet. Allerdings betrachtete der kriegerische Seemann die neue Führung in Person von Trotzki ironisch. Mit Hilfe des Oberkommandierenden Krylenko erreichte Trotzki, entgegen dem Dekret über die Abschaffung der Todesstrafe, die Erschießung Schtschastnys, wobei er höchstpersönlich als wichtigster und einziger Zeuge der Anklage auftrat.
Auf dem Gewissen Trotzkis lastet auch die Hinrichtung des Gründers der roten Reiterei – des Korpskommandeurs Dumenko, der einen Kampforden nicht aus der Hand des Vorsitzenden des revolutionären Kriegsrates entgegennehmen wollte und in Verbindung damit des Antisemitismus beschuldigt wurde. Der unter dem Zarismus in Kosakentruppenteilen bis zum Oberstleutnant aufgestiegene Dumenko hielt nicht viel von den militärischen Fähigkeiten des Volkskommissars für Armee und Flotte, wofür er mit dem Leben bezahlte. Das gleiche Schicksal traf den talentierten russischen Poeten Alexej Ganin, der 1924 ein Poem publizierte, das gegen die Methoden der Unterdrückung des Volkes durch Trotzki gerichtet war. Zwischen den Abrechnungen mit Dumenko und Ganin lag eine ganze Palette trotzkistischer terroristischer Aktionen, die, wie der Schriftsteller Below sehr richtig bemerkte, die Kosaken und die Bauern zu bewaffneten Aufständen gegen die Sowjetmacht provozierten. Trotzki und Sinowjew entwickelten die Idee der kollektiven Verantwortlichkeit einer Klasse, Schicht oder sozialen Gruppe, was oft zu Massenmorden an völlig unschuldigen Menschen führte.
Gleichzeitig konnte Trotzki, wenn es notwendig war, für seine Anhänger eintreten. So wurde der bekannte linke Sozialrevolutionär Blumkin, der im Sommer 1918 auf den deutschen Botschafter Mierbach schoß, zurecht vom Kriegsgericht zum Tod durch Erschießen verurteilt. Trotzki aber erreichte, daß die Todesstrafe in „Auslöschung der Schuld in Kämpfen zur Verteidigung der Revolution” umgewandelt wurde, nahm ihn zu sich in den Stab, wo sich Blumkin, „seine Schuld auslöschend” während des ganzen Bürgerkrieges als Chef der Leibwache des Volkskommissars für Armee und Flotte wohlbehalten herumfläzte.
Dann wurde er von seinem Chef zum Studium geschickt, wonach er erneut in die Organe der GPU versetzt wurde. Unfähig, seinen in Ungnade gefallenen Retter zu vergessen, schaute der von einem Auftrag zurückkehrende Tschekist Blumkin bei Trotzki auf der Prinzeninsel vorbei. Von dort nahm er zwei Briefe an Karl Radek und Botschaften an eine Reihe anderer Adressaten mit, womit er bei seiner Ankunft in Odessa festgenommen wurde. Deswegen ist die Erschießung Blumkins nach seiner Verurteilung durch das Tribunal 1929 wohl kaum rechtmäßig in die Tabelle der Opfer des Stalinismus einzuordnen.
In letzter Zeit ziehen die Historiker J. Afanassjew, B. Billik und andere in ihren öffentlichen Auftritten Briefe und persönliche Zeugnisse von Zeitgenossen bei, die den Zauber und die Autorität Trotzkis als „Führer der Roten Armee” loben. Ich erlaube mir, ein anderes, wahrscheinlich weniger parteiisches Zeugnis beizubringen. Der Trotzki verehrende Bürgermeister einer der Vorstädte von Paris Henry Maurissez, der als Gast der Komintern nach Moskau gekommen war, wurde eines Besuches des Zuges des Volkskommissars für Armee und Flotte für würdig befunden. Dieser berühmte „Zug” bestand aus Panzerzügen und einzelnen Wagenreihen, in denen Funkstationen, eine Druckerei, eine Garage mit sieben Autos und eine Menge Schreibkräfte und Stenographistinnen untergebracht waren, deren amouröse Geschichten mit den Matrosen der Wache und den Angehörigen des Stabes dem Volkskommissar nicht wenig Sorgen bereiteten. Maurissez, der ungehindert mit den Rotarmisten mit langen Reden auftrat, aber auch mit den Kämpfern und Kommandeuren seines Zuges sprechen konnte, vor denen Lew Dawidowitsch bekennen mußte, daß man Trotzki in der Armee „mehr fürchtet als liebt“ (Maurissez, A., „Bei Lenin und Trotzki“, Moskau, 1923, S. 106) Als den anderen Aspekt des politischen Antlitzes Trotzkis muß man seine phänomenale Prinzipienlosigkeit feststellen. Sie machte alle betroffen, auch die, welche in ihrem Jahrhundert genügend erlebt haben. So bemerkte mit Verbitterung der frühere Bundist Libor noch nach dem zweiten Parteitag, daß Trotzki, den er beobachtete, „verschiedene Prinzipien wie Etiketten hervorzieht, in Abhängigkeit davon, welches am passendsten ist.”. In den ersten zehn Jahren nach dem Oktober gab es nicht eine parteifeindliche Abweichung, Gruppierung oder Opposition, an der Trotzki nicht direkt oder indirekt teilgenommen hätte, ständig seine Urteile, Losungen, Programme und Bündnispartner wechselnd, abhängig von der jeweiligen in der Partei entstandenen Lage. Das verstand man auch auf der anderen Seite der Barrikade genau. „Nieder mit Stalin! – das war das alles aufsaugende Argument, das alle und alles um Trotzki versammelt”, – schrieb das Organ der rechten konstitutionellen Demokraten (KDten) „Steuer” im Leitartikel vom 8. Oktober 1927. „Was aber bringt Trotzki? Ach, ist jetzt nicht alles egal? Wen das interessiert, der kann raten, ob er versuchen wird, sein unsinniges Programm zu verwirklichen, oder ob er den Anforderungen des Lebens entgegenkommt, oder ob er überhaupt nur einem Dritten in die Hände spielt … Dem heutigen drohenden Geschwätz Trotzkis kann man keine Bedeutung beimessen”.
Der Führer der Menschewiki Abramowitsch erklärte, als er in Riga vor Emigranten mit einer Rede zum Thema „Zehn Jahre bolschewistische Revolution” auftrat, daß die Trotzkisten helfen, „den Kommunismus zu liquidieren”, indem sie die Plattform des Menschewismus unterstützen und die Arbeit der Bolschewiki desorganisieren,. Diese „einfache und grobe Wahrheit” der Feinde der Oktoberrevolution überzeugt uns stärker von der realen Rolle Trotzkis und der Trotzkisten in der Geschichte als alle wissenschaftsträchtigen Schlußfolgerungen der Publizisten von heute, die sich der undankbaren Mühe angenommen haben, den Trotzkismus weißzuwaschen.
Der „politische Impressionismus” Trotzkis fügte der Sache der sozialistischen Umgestaltungen ernsthaften Schaden zu. Besonders provokatorisch hörte sich die mit der Broschüre „Der neue Kurs” verbreitete Losung Trotzkis an, die lautete, „die Jugend ist das wahre Barometer der Partei”. Unter den Komsomolzen gingen in jenen Jahren Flugblätter mit folgenden Versen herum:
Alles Böse ist in den alten Kommunisten:
Komsomolze, sei zornig!
Komsomolze, schlag die Väter!
Da kann man sich nur noch wundern, wie lebendig solch trotzkistische Einstellungen sind, wenn man im Mai-Buch für 1988 die Verse des Poeten A. Mesherow findet, der überhaupt kein Komsomolze ist:
Was heulst du, alte Ruine,
Wo ist er denn, dein heiliger Glaube
an die Revolution und Stalin, An den Klassencharakter des Seins?
Es hat faktisch keine Bedeutung, daß im ersten Falle von den „Vätern” gesprochen wurde, welche die erste sozialistische Revolution in der Welt verwirklicht haben, deren Errungenschaften in den Kämpfen mit der ausländischen Intervention und den Weißgardisten verteidigt werden mußten, im zweiten aber, von den „Vätern”, die im schwersten aller Kriege in der Geschichte der Menschheit gesiegt haben und diese vor den totalen Auschwitzs und Buchenwalds gerettet haben. Unerschöpflich ist das Streben der Antikommunisten danach, die Erbauer und die Verteidiger des Sozialismus zu entzweien, einen Keil zwischen sie zu treiben, mit pathologischem Haß mit dem Namen Stalin die Oktoberrevolution und das Klassenwesen unseres revolutionären Daseins aus der Geschichte zu streichen.
Die Partei ermüdete unter den sich mit den Jahren verstärkenden Intrigen Trotzkis, dem innerparteilichen Kampf seiner Anhänger, der in eine rechtswidrige, antistaatliche Tätigkeit überging. Für seine Verwirklichung begann die Formierung einer „bolschewistisch-leninistischen Partei”, wie sie die Trotzkisten nannten, wurden Waffenlager angelegt, richtete man, nicht ohne Teilnahme des weißgardistischen Untergrunds eine eigene Presse ein, Demonstrationen und Meetings wurden organisiert mit den Porträts des eigenen Abgottes – Trotzki.
Wie nun beurteilte Trotzki die Lage des Landes und der bolschewistischen Partei, aus der er am 18.12.1927 ausgeschlossen wurde? „Die UdSSR durchlebt eine umgekehrte Kerenskiperiode, – schrieb er in der „ultralinken” deutschen Zeitschrift „Banner des Kommunismus”,- Die Führung nach Lenin zeigt den Oktoberfilm in umgekehrter Reihenfolge. Hinter dem Rücken Kerenskis wälzte sich die Macht von der Bourgeoisie zum Proletariat, jetzt aber wälzt sie sich hinter dem Rücken Stalins vom Proletariat zur Bourgeoisie. Das Proletariat büßt seine Diktatur schon ein, obwohl die Bourgeoisie sie noch nicht erobert hat. Das, was wir jetzt in der UdSSR haben,- das ist die Diktatur der sowjetischen Parteibürokratie, ein beinahe über den Klassen stehendes Regime, das sich besten Falle auf die mittlere Bauernschaft stützt”.
Diese Beurteilung brachte den Reformisten Franz Adler zur Schlußfolgerung: „Wenn sich die Hoffnungen des Oktobers nicht erfüllt haben, muß man wenigstens den März retten!” Mit anderen Worten, die Ergebnisse der Februarrevolution in Rußland.
Der sowjetische Staat konnte bei solcherart politischer und ideologischer Aktivität der Trotzkisten nicht endlos unbeteiligt bleiben. Gemäß Entscheidung der OGPU wurde Trotzki 1927 zuerst nach Mittelasien geschickt, wo er sich, nach seinen Worten, „entschloß, Tiger zu jagen”, danach ins Ausland zu gehen.
Das ging nicht ohne das übliche Spektakel ab. Trotzki lehnte es ab, das Haus zu verlassen. Da trugen seine hitzigsten Anhänger ihren Führer erst zum Auto, dann zum Eisenbahnwagen. Das alles wurde durch das Geschrei des Sohnes – Lew Lwowitsch Sedow begleitet, der hysterisch kreischte: „Seht nur, wie sie Trotzki tragen!”. Trotzki wurden Waggons für sein Archiv und die persönlichen Dinge zur Verfügung gestellt, wurde eine beträchtliche Summe in ausländischer Valuta ausgezahlt. Viele der Parteimitglieder und der sowjetischen Menschen drückten ihre Befürchtung aus, daß er im Ausland der Sowjetmacht mehr Schaden zufügen könne, als wenn er in der Sowjetunion geblieben wäre. Aber die Presse überzeugte sie vom Gegenteil. Man meinte, daß sich Lew Dawidowitsch so endgültig kompromittieren und entlarven würde.
In der Emigration, wo er bis 1932 die sowjetischen Staatsbürgerschaft behielt, machte sich Trotzki, den eigenen Worten gemäß daran „sein Talent als Journalist zu trainieren”. Er publiziert die Bücher „Die wirkliche Lage in Rußland” (Dresden 1929), zwei Bände seiner Autobiographie „Mein Leben” (1930), eine Artikelsammlung „Wie und was geschah” (1930), gibt die bekannten „Bulletins der Opposition” und vieles anderes heraus. Die Menschewiki nahmen großen Anteil an seinem Schicksal, schufen einen „Fond zur Rettung Trotzkis”, erklärten, daß seine Ausweisung „der Hinrichtung Robespierres gleichkommt”.
Aber, „der hingerichtete Robespierre” wandte sich nur in den ersten Monaten an sie und an die Linksradikalen – die aus der deutschen Kommunistischen Partei ausgeschlossene Gruppe Maslow-Fischer, publizierte seine Artikel in ihren Zeitschriften und Zeitungen. Schon bald ging er zu direkten Zusammenarbeit mit der großen bürgerlichen Presse über, wo man ihn den „Ritter der europäischen Demokratie” nannte. Dieser „Ritter” aber schickte einem Gesinnungsgenossen in Übersee, dem aus der Kommunistischen Partei der USA ausgeschlossenen Eastman, geheime Dokumente zum Zwecke der Veröffentlichung, darunter Stenogramme geschlossener Beratungen des Politbüros und des Sekretariats des ZK der KPD zu Fragen der Komintern und der internationalen Arbeiterbewegung. Die dafür ausgehändigte Summe diente zur Schaffung und Festigung der Publikationsbasis des Trotzkismus.
Warum erlitt Trotzki eine Niederlage? Dafür gibt es viele Erklärungen. Hören wir Trotzki selbst. In seinem Buch „Mein Leben” schrieb er, daß „der Sieg Stalins ein Sieg der gemäßigten Tendenz ist, der konservativeren, bürokratischeren, nationaleren Tendenzen der Anhänger des Privateigentum über die Tendenzen der internationalen Revolution und die Traditionen des Marxismus“.
Die Treue zu diesen Traditionen schrieb er sich selbst zu. Weiter, ist nach Trotzki „nicht alles immer für die Revolution. Man denkt auch an sich. Diese Einstellung übertrug sich so: Nieder mit der permanenten Revolution … Unter dieser Flagge ging die Befreiung des Kleinbürgers im Bolschewisten vor sich … Eben darin besteht der Grund meines Verlustes der Macht”. Das Etikett des Kleinbürgertums war bei Trotzki immer ein effektives und wirkungsvolles Mittel der Vernichtung seines politischen Opponenten. Ganz einfach: „Die Nomaden der Revolution sind zum seßhaften Leben übergegangen, da wurden sie wach, lebhaft und nahm spießbürgerliche Züge an”. Da interessiert man sich halt nicht für die „permanente Revolution”. Tatsächlich hatte die „Theorie der permanenten Revolution” Trotzkis in Sowjetrußland keinen Erfolg, obwohl ihre Anhänger titanische Anstrengungen unternahmen. Auf ihrer Basis zwang Trotzki der Partei eine Diskussion auf, in der die Schicksale der Revolution und des Sozialismus entschieden wurden. Dem Zeugnis John Reeds gemäß agitierte Trotzki schließlich in jenen „Zehn Tage(n), die die Welt erschütterten”, die Soldaten und Arbeiter, daß in der kapitalistischen Umkreisung „das revolutionäre Rußland unweigerlich untergehen wird”.
Dann versuchte er zu beweisen, daß wir ohne den Sieg des Proletariats des Westens nicht vom Sieg des Sozialismus in einem Lande zu träumen brauchen. Als sich auch diese These als wenig beständig erwies, brachte er in seinem Buch „Europa und Amerika”, erschienen 1926, eine neue Auslegung der Gesetzmäßigkeiten des revolutionären Weltprozesses hervor. Darin wurde behauptet, daß der globale Antagonismus der Epoche nicht im Verhältnis zwischen Imperialismus und dem in einem Land geborenen Sozialismus oder zwischen den Kolonien und den Metropolen bestehe, sondern „an der Linie der Interessen der USA in Europa”.
„Der bedeutendste Hebel der europäischen Revolution”, behauptete Trotzki, bestünde im absoluten materiellen Übergewicht der USA, das die wirtschaftliche Wiedergeburt Europas behindert. „Der amerikanische Imperialismus, der Europa immer weiter in die Sackgasse treibt, wird es automatisch auf den Weg der Revolution treiben”. Die durch Rußland begonnene Weltrevolution ist den Worten Trotzkis nach dazu berufen, Europa zu vereinigen, ihm zu helfen, als „gute Brücke nach Asien” zu dienen. Nach Trotzki soll die erste Etappe der Revolution mit der Gründung der Vereinigten Sowjetischen Staaten von Europa vollendet werden, die zweite Etappe – mit der Gründung eben solcher Vereinigten Sowjetischen Staaten von Asien und Amerika, die dritte – mit den Vereinigten Sowjetischen Staaten der Welt.
Das ist der trotzkistische Weg zum Sieg der kommunistischen Weltrevolution und der Erringung der Weltherrschaft.
Das trotzkistische Projekt der Weltrevolution wurde weder bei uns im Lande noch im Ausland gutgeheißen, wo man darin die Begründung einer sowjetischen Expansion sah. Allerdings verstanden die Kritiker nicht den einfachen Hintergrund dieser Transformation der „Theorie der permanenten Revolution”.
Dabei war die Sache ganz einfach. Das Schlüsselchen war die Behauptung, daß die UdSSR in die Vereinigten Sowjetischen Staaten von Europa als Föderative Republik eingeht. Da die altersschwache Sozialdemokratie in Europa, vertreten durch die Kautskys und Adlers, nicht fähig war, das vereinigte Sowjetische Europa zu führen, die entstandenen kommunistischen Parteien aber gerade erst den Prozeß der Bolschewisierung begonnen hatten, so waren den Hintergedanken Trotzkis gemäß nur er und seine Anhänger in der Lage, diese welthistorische Mission auf sich zu nehmen. Damit blieben seine Konkurrenten im Kampf um die Macht in Rußland zurück, und es eröffnete sich die verlockende Vakanz der „Diktatoren von Europa”. Allen voran aber leuchtete die Sowjetische Weltrepublik mit dem Autor der neuen Modifikation der „Theorie der permanenten Revolution” an der Spitze.
Ist das vielleicht keine Perspektive? Es versteht sich von selbst, daß Trotzki darüber nicht direkt sprechen konnte, die Logik seiner Konzeption führte aber direkt dahin. Man muß nicht erst unterstreichen, daß solche Ansichten die ohnehin schwierige internationale Lage des Sowjetstaates verkomplizierten.
Im Emigrationsgeschreibsel Trotzkis werden nicht nur Ströme von Verleumdungen über Dsershinski, Frunse, Kirow, Ordshonikidse, Molotow, Kuibyshew, Mikojan, Jaroslawski, Olminski ausgegossen, sondern auch über Sinowjew, Kamenjew, Bucharin, Rykow, Tomski und andere Parteifunktionäre dieser Zeit, deren politische Positionen Trotzki in einzelnen Etappen des innerparteilichen Kampfes unterstützte und zu denen er auch in der Emigration Verbindung hielt.
Besonders boshafte und raffinierte Ausfälle gingen an die Adresse des damaligen Generalsekretärs des ZK der KAP(B) (KPdSU(B) in den deutschen Übersetzunge). Der „Aphorismus” Trotzkis, daß Stalin die „hervorragendste Mittelmäßigkeit der Partei” sei, irrt heute von einer Publikation zur anderen, angefangen vom Buch des Kampfgefährten Trotzkis, B. Suwarin „Stalin”, der „Staliniaden” des rechten Sozialrevolutionärs Mark Wischnjak und des rechten Sozialisten André Guide, bis hin zu einigen Arbeiten der heutigen „Demokraten” – der Dramaturgen, Schriftsteller, Publizisten und Historiker, die sich schämen, ihre ursprüngliche Quelle aufzuzeigen.
Zur Klärung dieser höchst delikaten und äußerst verwirrten Frage wäre es, wie ich meine, sehr nützlich, sich der Meinung eines intelligenten russischen Menschen zuzuwenden, der diese Frage ernsthaft analysiert hat, eines Menschen; der sich durch den Willen des Schicksals nach der Revolution auf der anderen Seite des Grenzstreifens wiederfand.
Einer dieser ehrlichen Verteidiger der Größe Rußlands war, unserer Meinung nach, Professor P. N. Miljukow, ein Historiker, der zum philosophischen Durchdenken des Seins neigte und der „letzte Verteidiger der Monarchie”, wie man ihn im Emigrantenkreise nannte, war. Zwanzig Jahre lang analysierte er die Innen- und Außenpolitik der Sowjetunion. Er befand sich im Zentrum der politischen und ideologischen Auseinandersetzungen der russischen Emigration.
Anläßlich des oben genannten „Aphorismus” Trotzkis fragte Miljukow 1935 ironisch und spöttisch: „Warum zog denn die Partei die „Mittelmäßigkeit” Stalins dem „Genie” Trotzkis vor?” … „Die Auswahl der Partei, – resümierte der Führer der rechten Kadetten, – fiel mit dem Gang des historischen Prozesses zusammen, mit den Gesetzen der Geschichte”. Dem Zeugnis des norwegischen Historikers Ens Nielsen nach, hielt Professor Miljukow diesen Standpunkt der historischen Überlegenheit Stalins bis ans Ende seiner Tage aufrecht, verfestigte seine Meinung mit jedem Jahr (Nielsen, Ens Petter, ”Miljukow und Stalin. Über die politische Evolution P. N. Miljukows in der Emigration – 1918-1943 – Oslo, 1983. In seinem letzen, postum veröffentlichen Artikel „Die Wahrheit über den Bolschewismus” schrieb der schwerkranke Wissenschaftler: „Wenn du das erreichte Ziel siehst, verstehst du auch die Bedeutung der Mittel besser, die zu ihm führten.
Ich weiß, daß dieses Bekenntnis, nahe an die Lehre Loyolas heranführt. Aber … was soll man machen? Schließlich müßte man andernfalls auch das Benehmen Peters des Großen mitleidlos verurteilen” („Russischer Patriot”, 1944, Nr. 3 (16)).
Diese Zeilen schrieb Miljukow am Vorabend seines Todes, bald nachdem er vom Sieg der sowjetischen Truppen vor Stalingrad erfahren hatte. Mark Wischnjak, an den sie gesandt wurden, entschloß sich nicht, sie zu drucken, sie kamen aber ans Licht in der russischen Ausgabe des französischen Widerstandes, wurden zum Ausgangspunkt der Veränderung der politischen Einstellung der Emigration, der Mobilisierung ihrer Kräfte für den Kampf gegen den deutschen Faschismus. Man kann mit dem „Herren des Denkens” der russischen Emigration nicht einverstanden sein, seine Meinung aber gar nicht zu beachten, das geht wohl nicht. Schließlich wußte er nicht weniger als wir über das Jahr 1937. Wir denken, die grundlegende und hauptsächliche Gefahr für das Schicksal der Partei und des Landes lag bei all ihrer ideologisch-politischen Schädlichkeit, nicht so sehr in den Ideen, Losungen, Schemata und Aufrufen Trotzkis, sondern mehr in dem intriganten Wesen seiner innerparteilichen Tätigkeit und seiner autobiographischen Aufsätze, wenn er mit der Absicht, Leute, die früher mit ihm zusammen arbeiteten, aufeinanderzuhetzen, ihnen Meinungen; Urteile, Verdächtigungen und Zweifel zuschrieb, die angeblich einer über den anderen unter vier Augen gesagt hätte. So schrieb er über die Angriffe Sinowjews 1912 auf Lenin wegen der Kooptierung Stalins, dieses „kaukasischen Affen mit den gelben Augen” in das ZK der RSDAP. Anfang 1935 erfand Trotzki die Version, daß Stalin den Mord an Kirow organisiert hätte, den er übrigens mit allen Fasern der Seele haßte. 1938 aber, behauptete er, daß weder er noch Stalin etwas mit diesem Mord zu tun hätten, den „organisierten höhere Ränge im NKWD” (Volkskomissariat für innere Angelegenheiten). Ohne jeden Anflug von Verlegenheit druckte er in den „Bulletins der Opposition” Briefe ab, die er von Rakowski, Rosenholz und anderen bekommen hatte und kommentierte diese.
Eine der ersten Forschungsarbeiten über die Tätigkeit des Generalsekretärs des ZK der KAP(B) war das umfangreiche Buch des Emigranten S. Dmitrijewskij „Stalin”. Dmitrijewskij ist ein ernsthafter Kenner des innerparteilichen Lebens in unserem Lande, der Geschichte des Bürgerkrieges, der politischen Verhältnisse und der Ökonomie der von ihm verlassenen Heimat. Die Methode des Autors bei der Analyse und Beurteilung historischer Persönlichkeiten und Ereignisse kann man als unvoreingenommene Betrachtungsweise eines politischen Gegners des Sozialismus charakterisieren. Feststellend, daß die „karikativen Vorstellungen über Stalin” im Ausland hauptsächlich durch Mitarbeiter der sowjetischen Diplomatie und des Außenhandels verbreitet werden, schreibt Dmitrijewski: „Der Hauptautor der Legenden über Stalin ist Trotzki.
Er kann Stalin bis heute dessen Überlegenheit nicht verzeihen. In der Arena des harten Kampfes aufs Haupt geschlagen, versucht er sich nicht ohne Erfolg an Stalin in der literarischen Arena zu rächen. Indem er sein Talent als Pamphletist benutzt, sein hauptsächliches und einziges Talent, schuf er ein karikierend-abstoßendes Abbild … Daher stammen auch die im Munde der „Vertreter” des Stalinschen Regimes seltsam klingenden Resonanzen. Man darf nicht vergessen, daß die ausländischen Vertretungen der Sowjets lange Zeit aus politischen Abfällen zusammengestellt wurden, aus Abfällen von Leuten, die innerhalb des Landes nicht brauchbar oder unerwünscht waren, von Trotzkisten und dem wimmelnden Sumpf. Davon wimmelt es auch heute noch im Ausland.” (S. Dmitriewskij, „Stalin”, Verlag „Strela”, Stockholm 1931, S. 6). Muß man sich da wundern, daß die Reisen sowjetischer Vertreter ins Ausland nicht selten mit Treffen mit Trotzki endeten?
In seinen Büchern „Die Verbrechen Stalins”, „Stalin”, „Die verratene Revolution”, in den Artikeln der „Bulletins der Opposition” beschreibt Trotzki provokatorisch geheime Treffen seiner Emissäre mit seinen Anhängern in der UdSSR, wo es nach seinen Worten den mächtigsten und zahlreichsten antisowjetischen Untergrund gab. Er verstand es, für seine egoistischen Ziele das natürliche Mißtrauen und den Argwohn Stalins auszunutzen, indem er sich bemühte, eine Spaltung in die sowjetische Führung hineinzutragen. Wer kann heute sagen, in welchen Fällen das Trotzki auch tatsächlich gelang?
Besonders interessant ist das Verhältnis der deutschen Faschisten zu Trotzki. Adolf Hitler las die Biographie Trotzkis (das Buch Trotzkis „Mein Leben”) gleich nach deren Erscheinen durch. Der Biograph Hitlers Konrad Heyden erzählt in seinem Buch „Der Führer”, wie Hitler den Kreis seiner Freunde durch grenzenloses Lob für „Mein Leben” in Erstaunen versetzte. „Prachtvoll!” schrie Hitler seine Gesprächspartner an, vor ihnen mit dem Büchlein Trotzkis herumwedelnd – ich habe aus diesem Buch viel gelernt und auch ihr könnt vieles daraus lernen” [Rückübersetzung aus dem Russischen] … „Die japanische Geheimpolizei benutzte es als Zwangslektüre für die in den Gefängnissen inhaftierten japanischen und chinesischen Kommunisten, darauf hoffend, deren Kampfgeist zu brechen” (M. Seiros und A. Kan, „Der geheime Krieg gegen Sowjetrußland”, Moskau 1947, S. 242). 1936 schrieb Trotzki, daß, wenn Deutschland einen Krieg gegen die UdSSR entfesselt, so ist deren Niederlage unumgänglich. Im Jahre 1940 sendete er unter dem Namen „Man betrügt Euch” eine Botschaft an das sowjetische Volk und rief am Vorabend des Krieges dazu auf, Stalin zu stürzen und die Regierung zu reorganisieren. Das ging alles über den Rahmen des „Kampfes um die Macht” hinaus und nahm offen antisowjetischen Charakter an. Das ist durch nichts zu rechtfertigen.
Die Tätigkeit Trotzkis fügte der Komintern großen Schaden zu. Trotzki griff die Einheitsfronttaktik an, die dem Faschismus entgegenstand. Er griff die Führer der Bruderparteien, unter ihnen Dimitroff, Thälmann, Torres, Gottwald und andere an. In Spanien, dem ersten Opfer der faschistischen Aggression, verkündeten die Trotzkisten die Losung: ”Nieder mit der Republik! Es lebe die Diktatur des Proletariats!”. Vom Wesen her war das ein Dolchstoß in den Rücken des republikanischen Spaniens, wo an mehreren Orten Trotzkisten auf Kommunisten und Republikaner schossen. 1938 verkündeten etwa 20 Trotzkisten in Paris die Gründung der „IV. Internationale”, die der Leninschen Komintern direkt entgegenstand. Diese trotzkistische Allianz trug die Spaltung in die Reihen der kommunistischen Parteien, störte die Vereinigung der Völker an den antifaschistischen Fronten. Allerdings verstrickte sie sich selbst fast sofort in unlösbare Widersprüche, unzählige Streitereien, Skandale und Intrigen. Sie zerfiel mehrmals in feindselige Gruppierungen, die gegeneinander kämpften, ohne auf Mittel und Methoden zu achten, dann vereinigten sie sich erneut zum Block, demonstrierten Einheit, wobei sie in der Regel diese Einheit nicht auf prinzipieller Grundlage schufen, sondern auf zeitweiliger, konjunkturabhängiger Basis.
Trotzki hatte allen Grund, um sein Leben zu fürchten. Dabei konnte die Bedrohung nicht nur von Stalin ausgehen, der seine Tätigkeit aufmerksam verfolgte, sondern auch von Seiten seiner früheren Kampfgefährten. Die Prinzeninseln, wo man früher byzantinische Würdenträger einsperrte, dann Frankreich, Norwegen und zum Schluß Mexiko werden zum zeitweiligen Asyl. Nirgendwo fühlte er sich in Sicherheit. Vor der Anreise nach Mexiko stieß Trotzki auf den Widerstand der Gewerkschaften und der kommunistischen Parteien, die ihn den „Hauptfeind des Sozialismus” nannten. Die Lage erschwerte sich für ihn, nachdem sich der Trotzkismus durch die Provokationen in Spanien befleckt hatte.
In Mai 1940 unternahm eine Gruppe bewaffneter Leute, zu denen der bekannte Bildhauer Siqueiros gehörte, einen bewaffneten Überfall auf Coyoacan, die „weiße Festung” Trotzkis. Die Attacke war schlecht vorbereitet und Trotzki lag mit Frau und Enkel hinter einem eichenen Schreibtisch, während MPi-Garben die Stukkatur der Wände zerfetzten. Der Anschlag gelang nicht. Die Wache fing die Angreifer ab. Nach diesem Zwischenfall verwandelte sich Trotzki vollständig in einen Gefangenen der „weißen Festung”. Er begann an Selbstmord zu denken, er litt periodisch an starken Depressionen, aber er gab mit manischer Aufdringlichkeit Interviews, Erklärungen, schrieb Vermächtnisse, fühlend, daß sich die Wolken über seinem Haupt zusammenballen.
Aber das Ende kam plötzlich, am 20. August 1940 von der Hand des Spaniers Ramon del Rio Mercader, eines Menschen, der noch eine ganze Reihe anderer Namen, Staatsbürgerschaften und Biographien besaß. Es gibt eine Reihe Versionen darüber, wer seine Hand mit dem Eispickel führte, der den Kopf Trotzkis zerschmetterte. Eine davon wurde mit Stalin verbunden. Der Autor dieser Zeilen sollte diese Version im Sommer 1944 kennenlernen, als seine Schützenkompanie zur Erholung in einem kleinen Dorf bei Pskow lag. Zwischen verschiedenen Papieren des von seinen Bewohnern verlassenen Hauses stießen die Gardisten auf die Zeitung „Pskower Prawda” von 1943, welche von den Hitlerleuten in russischer Sprache für die besetzte Gegend um Pskow herausgegeben wurde. Eine ganze Kolumne nahm der Artikel über Trotzki und seine Ermordung ein. Die Hitlerleute bemühten sich überzeugend zu beweisen, daß alles in Moskau, in Stalins Arbeitszimmer im Kreml geplant worden sei. Angeblich setzte ein Unterseeboot ohne Erkennungszeichen und Signalbeleuchtung in einer Frühjahrsnacht des Jahres 1940 in einer kleinen mexikanischen Bucht eine kleine Landungsgruppe von „Offizieren des NKWD” aus, die nach allen Regeln des Kriminalgenres auch das Attentat auf Trotzki organisierten. Heute erschienen in unserer Literatur Beschreibungen der Versionen der Ermordung T rotzkis, werden Initiatoren und Organisatoren g enannt, sowie Motive, Variationen, handelnde Personen erforscht. Für die fundamentalsten, wenn auch nicht unstrittigen, halte ich die Artikel von D. Wolkogonow und N. W asetzkis, die unterstreichen, daß die dokumentarischen Bestätigungen und Zeugnisse für eine abschließende Bewertung nicht ausreichen. „Ich denke, – schreibt Wolkogonow, – daß es in absehbarer Zeit nicht gelingen wird, dokumentarische Zeugnisse zu erhalten, die diese Versionen bestätigen oder verwerfen.” „Darum muß man sich – das wievielte Mal schon! – gemäß Wasetzki, – auf mittelbare Fakten und Argumente stützen”. Und man bemüht sich, diese in den Vorahnungen und Mutmaßungen Trotzkis selbst zu finden. Das wird die Sache aber kaum voranbringen.
Wir meinen, daß die Beschäftigung mit den wesentlichen Abschnitten des Lebens und der politischen Tätigkeit von L.D. Trotzki erlaubt, über die Richtigkeit der Leninschen Beurteilung hinsichtlich seines „Nichtbolschewismus” zu befinden, die mit der Formel „mit uns, aber keiner von uns” konkretisiert wurde.
Wenden wir uns nun einem anderen Mythos zu, der behauptet, daß Trotzki ein „hervorragender marxistischer Theoretiker” sei. In seiner Zeit beriefen sich auf ihn sehr stark seine Gesinnungsgenossen. Heute aber erscheint er erneut in den gedruckten und besonders den mündlichen Beiträgen einiger unserer „Perestroika”-Publizisten und Historiker. Schauen wir uns an, ob diese Beurteilung der Wirklichkeit entspricht oder ob sie offensichtlich überzogen ist.
Vor allem, wie beurteilten denn Zeitgenossen das theoretische Potential Trotzkis? In der Regel – nicht besonders hoch. „Sein Verhältnis zur Kunst ist kalt, – bemerkte Lunatscharski im „Großen Umsturz”, – die Philosophie hielt er für drittrangig, umfassende Fragen der Weltanschauung umgeht er irgendwie.”. „Die marxistische Methode, – behauptete 1924 die Krupskaja, – war noch nie eine starke Seite des Genossen Trotzki”. In Zusammenhang damit muß man anmerken, daß sich mit einer ernsthaften Analyse der theoretischen Ansichten Trotzkis bis heute niemand befaßt hat. Kritiker und Erforscher des Trotzkismus beschränkten sich in der Regel auf die Analyse des politischen Wirkens und der Parteilinie oder auf ein äußerst vereinfacht aufgenommenes Trotzkistisches „Sozialismusmodell”.
Man muß auch objektive Schwierigkeiten bei der Analyse der theoretischen Position von Trotzki erwähnen. Sie sind damit verbunden, daß seine Arbeiten vielfach in mehreren Städten und Verlagen herausgegeben wurden, wobei sein „Redaktionskollektiv” in jeder Ausgabe vorangegangene Kritik beachtete, im Auftrage des Autors wesentliche Änderungen eingearbeitet wurden, die in der Regel nirgendwo besprochen wurden. In den Arbeiten Trotzkis sind faktisch Aussagen zu allen Grundfragen der Gesellschaftswissenschaft jener Zeit enthalten, was ihm gestattete, gegebenenfalls die Priorität ihrer Lösung zu beanspruchen, konkret gehören dazu Fragen der Planung, der Notwendigkeit des Überganges zur NÖP und vieles andere.
Das wurde dadurch begünstigt, daß die Darlegung dieser Fragen voll von Vorbehalten, Halbandeutungen und anmaßenden Auslassungen war. Im Unterschied zu Lenin bemühte er sich nie, drastische Änderungen seiner theoretischen Anschauungen, die Gründe dieser Veränderungen zu erklären. Letztendlich gibt es auch keine Einheit und keine Ganzheit in den politökonomischen und philosophisch-soziologischen Anschauungen Trotzkis. Sie unterlagen ständig den Änderungen der „Mode”, weniger der marxistischen, als vielmehr der bürgerlichen Wissenschaft.
Als Lenin Trotzki in seinen „Briefen an den Parteitag” charakterisierte, stellte er fest, daß er sich durch „hervorragende Begabungen” auszeichnet, „wahrscheinlich der begabteste Mensch im derzeitigen ZK ist”. Die Arbeiten Trotzkis zeugen davon, daß er die Geschichte der Wissenschaft, die russische und ausländische Soziologie, ökonomische Theorien, Kunst- und Literaturwissenschaft, sittliche Probleme und ihre Lösung durch Ethik und Pädagogik nicht schlecht kannte.
Ihm waren Raffinesse und Beweglichkeit des Denkens, eine ausreichend umfangreiche Allgemeinbildung, die spitze Feder eines glänzenden Stilisten und Publizisten zu eigen.
Allerdings brachten der Mangel an Systematik und Überzeugung an der Wahrheit des Marxismus Trotzki nicht selten zu Relativismus, Eklektik, dem bekannten Mosaikcharakter seines theoretischen Denkens, die durch seine Entschiedenheit und Intoleranz gegenüber anderen Meinungen und Problemlösungen noch verstärkt wurden. Das alles begrenzte seine theoretischen Möglichkeiten. „Die außergewöhnlich packende Selbstsicherheit” Trotzkis ließ häufig Abweichungen, sogar äußerst ernsthafte, von Konzeption und Methode von Marx und Engels zu.
Besondere Aufmerksamkeit lassen die Kritiker des Trotzkismus dem „Kasernensozialismus”, mit seiner Militarisierung der Arbeit, seinen „Bestarbeiterbataillonen”, der Verstaatlichung der Gewerkschaften, den Aufrufen zur Selbstbeschränkung der Werktätigen zuteil werden. In der Militarisierung der Arbeit sah Trotzki die „unumgängliche Methode der Organisierung und Disziplinierung der Arbeitskraft in der Übergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus”.
Diese Epoche setzte er mit der Periode des Kriegskommunismus gleich, deren gesamte Ökonomie und Politik durch die Anforderungen des Bürgerkrieges bedingt waren. In dieser Periode war Trotzki völlig vom kompromißlosen Kampf gegen den „Teufel des Marktes” erfaßt, er meinte, daß „mittels planmäßiger Durchsetzung der Arbeitspflicht und zentralisierter Organisation der Verteilung, die ganze Bevölkerung des Landes in ein gesamtsowjetisches System des Wirtschaftens und der Selbstverwaltung einbezogen wird” (L. D. Trotzki, „Die Kultur der Übergangsperiode”, Moskau-Leningrad, 1927, S. 428).
Dabei ging er davon aus, daß „Repressionen zur Erreichung wirtschaftlicher Ziele ein notwendiges Instrument der sozialistischen Diktatur” sind und man zwischen „ökonomischem und juristischem Zwang keine Wasserscheide ziehen darf” (L. D. Trotzki, „Terrorismus und Kommunismus”, Petersburg 1920, S. 140, 156).
Die trotzkistische Göttin des außerökonomischen Zwangs erforderte auch einen entsprechenden Unterdrückungsapparat. In dieser Beziehung hat S. Kunjew recht, „die Idee der Arbeits-Konzentrationslager stammt von Trotzki …von Trotzki stammt die Idee, daß ein System von Lagern nicht nur für die Überreste der Klassenfeinde, sondern, wie das auch aus den Reden von Trotzki hervorgeht, für die breiten Massen ausgearbeitet wurde“.
Unter der Einwirkung der NÖP erfahren die Ansichten Trotzkis über die Ökonomie ernsthafte Veränderungen. Er denkt darüber nach, wie man die „bürokratische Gleichgültigkeit im Bereich der Wirtschaftsführung”, „die mangelnde Koordinierung der Wirtschaftselemente” liquidieren könnte, um ein „billiges Produkt mit hoher Qualität” zu bekommen. „Die ganze Schwierigkeit, – schreibt er, – besteht darin, den Zusammenhang persönlicher Aktivität und Interessiertheit mit dem plangesellschaftlichen Charakter der Wirtschaft herzustellen”. Allerdings war es Trotzki nicht gegeben, dieses Problem auf den Gleisen der Variierung verschiedener Formen des außerökonomischen Zwangs zu lösen, und er war genötigt zu konstatieren, daß „wir noch sehr weit von der Lösung der Aufgabe im Ganzen entfernt sind”.
Es ist bekannt, daß die theoretischen Arbeiten Lenins geradezu wie auf soziale Bestellung der Zeit erschienen, auf Bestellung des realen politischen Kampfes des Proletariats und der Partei. Das begründete die Kontinuität und Vollständigkeit des Lenin’schen theoretischen Denkens, die Logik seiner folgerichtigen Entwicklung. Im Unterschied dazu waren auslösende Momente der theoretischen Tätigkeit Trotzkis völlig zufällige Fakten seiner persönlichen Biographie.
So erinnert sich in der Zeitschrift „Ogonjok” die Parteiveteranin S. N. Nemzowa daran, wie während ihrer Arbeit im Trust für Gummierzeugnisse ein unvorstellbarer Zwischenfall passierte. Es zeigte sich, daß man Trotzki ein Gummiwärmflasche verkauft hatte, hergestellt in einem der Betriebe der Gummiindustrie, die auf seinem Bauch auslief.
Im Ergebnis gab es außer einem lautstarken Skandal bald darauf die Herausgabe des Sammelbandes „Der Kampf um Qualität”, der aus einer Reihe von Artikeln, Reden und Niederschriften bestand, in denen nicht nur für diese Zeit höchst aktuelle Probleme besprochen wurden. Und als in letzter Zeit in unserer Presse wiedermal das Interesse an diesen Problemen aufflammte, konnte man in einigen Publikationen die Darlegung der Gedanken des Autors dieses Sammelbandes finden, bis hin zur textlichen Übereinstimmung.
Was verstand also Trotzki unter Marxismus und dessen Philosophie? Die grundlegende Aufgabe jeglicher Philosophie in Vergangenheit und Gegenwart ist es, schrieb er, „die verallgemeinerten Aussagen aller Wissenschaften in ein System zu bringen”. Den Marxismus betrachtete er lediglich als „Methode der historischen Analyse und der politischen Orientierung” (Trotzki, L., „Der neue Kurs”, Moskau 1924, S. 44).
Die Entstehung der Theorie Marxens, die Quellen ihrer Entwicklung meinend, behauptete Trotzki, daß „ der Marxismus im weiten materialistischen und dialektischen Sinne die Anwendung des Darwinismus auf die menschliche Gesellschaft ist” (Trotzki, L., „Die Aufgaben der kommunistischen Erziehung”, Moskau 1927, S. 15).
Die philosophische Methode des Marxismus ist die Dialektik, die nach Trotzki, „als universeller Schlüssel in Erscheinung tritt, der die Möglichkeit gibt, sich in allen Situationen zurechtzufinden”.
Wenn man diese und andere, ähnliche Aussagen beurteilt, muß man feststellen, daß Trotzki nicht nur die historischen Wege der Formierung des Marxismus, den von ihm vollzogenen Umsturz des gesellschaftlichen Denkens schlecht verstanden hatte, sondern eine im Sinne des klassischen Positivismus vereinfacht einseitige Vorstellung über die Grundfunktionen der marxistischen Philosophie hatte, die er vorzugsweise auf ihre methodologische Funktion reduzierte. Dabei unterschätzte er ihre gnoseologische, logische und axiologische Funktion.
Er war weit entfernt vom Verständnis des Hauptsächlichen und Bestimmenden im Marxismus als politökonomische, philosophischsoziologische und sozialpolitische Begründung der welthistorischen Mission der Arbeiterklasse – eine Gesellschaft zu schaffen, die keine Ausbeutung, keine Unterdrückung, keine Kriege, keine Gewalt, keinen sozialen Egoismus und keine Ungerechtigkeiten kennt.
Den Leninismus definierte Trotzki als „äußere Verdichtung des Marxismus für die unmittelbare revolutionäre Tätigkeit in der Epoche der Agonie der bürgerlichen Gesellschaft” (Trotzki, L., „Militärische Doktrin oder scheinmilitärische Doktrinierung, Petrograd, 1922, S. 28). Das Verständnis „äußere Verdichtung” bedeutete bei ihm nicht Entwicklung unter neuen historischen Bedingungen, sondern Vereinfachung, Verarmung, Verkürzung des Marxismus durch Lenin. Indem er den Leninismus als „System revolutionärer Tätigkeit” betitelte, unterstrich Trotzki, daß er verbunden sei mit ”der Erziehung des revolutionären Gefühls, das auf gesellschaftlichem Gebiet dasselbe ist, wie die Empfindung der Muskeln bei physischer Arbeit”.
Man muß unterstreichen, daß Trotzki nie vom Marxismus-Leninismus im Ganzen sprach, sondern „Marxismus” und „Leninismus” getrennt betrachtete, sie gewissermaßen einander entgegenstellte. „Marx,- war für ihn, – ein Prophet mit Visionen, Lenin – der größte Verwirklicher des Vermächtnisses” (Trotzki, L. D., „Über Lenin (Materialien zur Biographie)”, Moskau 1924, S. 113).
Eben von Trotzki, nicht von Deborin, wie das in unserer Literatur gehandelt wird, geht die Gegenüberstellung des „Theoretikers Marx” und des „Praktikers Lenin” aus. Trotzki beschuldigt Lenin unbegründet einer angeblichen Inkonsequenz, bemüht sich aber in keiner seiner Arbeiten darum, die Ansichten Lenins zu irgendeiner Frage zu analysieren. Es ging auch nicht ohne Mystifikationen ab. „Die Unvollständigkeit der marxistischen Dialektik” hinsichtlich revolutionärer Tätigkeit wird bei Lenin angeblich durch eine „verborgene schöpferische Kraft” ausgefüllt, die „wir Intuition nennen”, „auf russisch aber Wagemut” bedeute. Lenin widerspiegelt, den Worten Trotzkis nach, die russische Arbeiterklasse in ihrer noch frischen bäuerlichen Vergangenheit. Wenn man die theoretischen Ansichten Trotzkis analysiert, muß man eine Berichtigung an der entstandenen Vorstellung vornehmen, daß die Vertreter des Mechanismus in der sowjetischen Wissenschaft der 20er Jahre Bucharin, Skworzow-Stepanow und andere Mechanisten waren.
Im Unterschied zu ihnen stellt man sich Trotzki als Subjektivist und Voluntarist vor. In Wirklichkeit war alles komplizierter (Siehe B. A. Tschagin, W. I. Kluschin, „Der historische Materialismus in der UdSSR in der Übergangsperiode 1917-1936”, Moskau, „Wissenschaft”, 1986). Die philosophisch-soziologische Konzeption Trotzkis war wahrscheinlich nicht weniger als bei Bucharin von Mechanismus und Simplifizierung belastet, die mit der Reduzierung komplizierter Erscheinungsformen auf einfache und elementare verbunden sind.
Trotzki schreibt im Buch „Aufgaben der kommunistischen Erziehung”, Die Psychologie reduziert sich für uns letztendlich zur Physiologie, wie diese letztere zur Chemie, Physik und Mechanik”. Die Bestimmung der Gesellschaftswissenschaften, fährt er fort, ist es, alle sozialen Erscheinungen „auf physiologische, und weiter auf mechanische und mechanische Gesetze zu reduzieren”.
Leider bringt der Autor keinerlei Beispiele für die Wirkung mechanischer Gesetze in der Gesellschaft, was ihm erlauben würde, sich auf eine Ebene mit Lamettrie und anderen französischen Materialisten des XVIII. Jahrhunderts zu stellen, die sich den menschlichen Organismus als eine Gesamtheit vom Federn, Hebeln, Pumpen, Treibriemen und Ähnlichem vorstellten. Die Gesellschaft und ihre Organe verglich man mit den einzelnen Teilen des menschlichen Organismus.
Obwohl der Mechanisismus (mechanischer Materialismus) Bucharins fast sofort nach dem Erscheinen seiner „Theorie des historischen Materialismus” scharfer Kritik seitens Stolpners, Einsafts, Gonikmanns und anderer Marxisten unterzogen wurde, so sind analoge Ansichten Trotzkis außerhalb der Kritik geblieben, obwohl sie im Grad der Vulgarisation die Bucharinschen weit überschreiten.
Durch die Kritik umgangen wird auch eine solche Erscheinung des Mechanisismus bei Trotzki wie geographischer Determinismus, auf den gestützt, er die Besonderheiten der historischen Perioden in der Geschichte Rußlands auf ausgesprochen natürliche Gründe zurückführt und dabei die Idee der Klassenunabhängigkeit seines Staates entwickelt. Eine besondere Form des mechanischen Materialismus bei Trotzki ist die Bilologisierung der marxistischen Theorie, die sich bald im Sozial-Darwinismus auflöst. „Unser Kampf um wissenschaftliche Errungenschaften selbst, – schreibt er, – ist nur ein kompliziertes System von Reflexen”. Sogar „in der Grundlage des sozialen Wettbewerbs liegt ein Existenzkampf”. Indem er im Prinzip die Idee des Fortschritts als folgerichtige Entwicklung der Gesellschaft ablehnte, führt er sie auf die Vervollkommnung der biologischen Natur des Menschen zurück.
So behauptet Trotzki, nachdem er sein Wirtschaftssystem rationalisiert, d. h. mit Bewußtsein durchdrungen hat, macht sich der Mensch daran, sich selbst zu rationalisieren. Er stellt sich die Aufgabe, beim Gehen, bei der Arbeit, beim Spiel in die Bewegung seiner eigenen Organe die allerhöchste Klarheit, Zielstrebigkeit, Sparsamkeit an Energie und damit Schönheit zu bringen … Er möchte zunächst die halbbewußten, dann die unbewußten Prozesse in seinem eigenen Organismus beherrschen: die Atmung, den Blutkreislauf, die Verdauung, vor allem die Fortpflanzung – und sie der Kontrolle der Vernunft und des Willens unterwerfen”.
Solch eine Rationalisierung nannte er eine der Hauptaufgaben des sozialistischen Aufbaus und der Selbsterziehung, da im Ergebnis seiner Lösung „der menschliche Körper harmonischer werden wird, die Bewegung rhythmischer, die Stimme musikalischer, sich die Form des Lebens eine dynamische Anmut aneignen wird” (Trotzki, L., Aufgaben der kommunistischen Erziehung, S. 448, 449).
Trotzki zollte auch der „Adoption des Freudismus” Tribut, der forderte, daß man jeden als der Pawlowschen Lehre über die höheren Nervenfunktionen des Organismus verwandt und als Grundbestandteil des soziologischen Systems des Marxismus betrachtet. Dabei hypertrophierte er auf dieser Basis die Rolle der Sexualität als Entwicklungsfaktor der Gesellschaft, die „Geschlechtserziehung” der Jugend stellte er über politische Bildung und sittliche Erziehung. Die freudistischen Ideen Trotzkis wurden nach der Revolution von Friedmann, Salkind, Malis und anderen „Freudomarxisten” weiterentwickelt, die eine unbegrenzte Einmischung der Gesellschaft ins Geschlechtsleben der Menschen forderten und Klassenpsychologie sowie Ideologie auf eine Sublimation der sexuellen Energie reduzierten. Die freudistischen Ideen konnten den Marxismus nur kompromittieren.
Trotzki ging auch an der weitverbreiteten Mode des „sozialen Energetismus” nicht vorbei, die einst die Gesellschaftswissenschaft befiel. „Der Mensch, – behauptete er, – ist ein ziemlich faules Tier. Auf dieser seiner Eigenschaft ist vom Wesen her auch in bedeutendem Maße der menschliche Fortschritt begründet, denn, wenn er nicht bestrebt wäre, seine Kräfte sparsam anzuwenden, nicht bestrebt wäre, mit geringer Energiemenge möglichst viele Produkte zu bekommen, so hätte es keine Entwicklung der Technik und der gesellschaftlichen Kultur gegeben. Unter diesem Blickwinkel erweist sich die Faulheit des Menschen als progressive Kraft” (Trotzki, L., „Terrorismus und Kommunismus”, S. 125). Da braucht man sich nicht zu wundern, daß Eichenwald nach ihm, im hungernden Moskau 1922 das Buch „Lob des Müßiggangs” herausgab, wo er begeistert das „Totschlagen der Zeit” lobpreiste.
Die gezeigten Beispiele der Verzerrungen des materialistischen Geschichtsverständnisses und der sozialen Dialektik waren bei Trotzki nicht Folge von mangelnder Sorgfalt, Eile, Versprechern oder rednerischer Übertreibung. Sie erschienen auch in der Darlegung sozialpolitischer Probleme, von deren Lösung das Schicksal des sozialistischen Aufbaus abhing. Konkret waren ihm von Anfang an Verzerrungen der Dialektik des Nationalen und des Internationalen zu eigen. Trotzki war geneigt unter Internationalem etwas Nichtnationales, im Sinne des Kosmopolitismus ausgelegt, zu verstehen.
Der Begriff „Nationales” bedeutete in seinem Munde etwas Minderwertiges, Archaisches, Zurückgebliebenes, dem er das Internationale gegenüberstellte. In diesem Sinne sprach er über die „nationalen Traditionen des Oktobers”, über „das Nationale in Lenin”, bei der Charakteristik des russischen Volkes, das angeblich „keinerlei kulturelles Erbe empfing”, der russischen Arbeiterklasse, deren Grundzüge „Analphabetentum, Fehlen organisierter Routinen, eines Systems in der Arbeit, kultureller und technischer Erziehung” seien (Trotzki, L., 1905, 2. Ausgabe, S. 303).
Rußland wurde den Worten Trotzkis nach dann auch so, wie es die Waräger, die Schweden, die Deutschen, Knopp, Jus, Nobel, Rothschild und das Börsengenie, der „Wikinger aller Wikinger – der große Internationalist Mendelsohn” lehrten. (Trotzki, L., 1905, 2. Ausgabe, S. 29). Das Büchlein Trotzkis „Politische Silhouetten” ist voll mit den Namen solcher „Internationalisten” wie Singer, Schuhmeyer, Adler, Kautsky und sogar seines besonders vertrauten Stenographen Glasmann, der sich erschoß, nachdem er aus der Partei ausgeschlossen und wegen gemeiner Verbrechen dem Gericht übergeben worden war.
Man könnte die Betrachtung der theoretischen Ansichten Trotzkis fortsetzen, konkret, seinen Technizismus bei der Auslegung der Produktivkräfte analysieren, die Trotzki mit der Technik und dem gesamten technischen System der Gesellschaft gleichsetzte, wobei er die Hauptproduktivkraft der Gesellschaft, die Werktätigen ignorierte, oder die Subjektivierung der Produktionsverhältnisse, die als „Wille der Volksmassen, der auf sich selbst gerichtet ist” ausgelegt wurden, seine schädliche Betrachtung und Bewertung der Kulturen der Völker unseres Landes und ihrer Geschichte. Aber auch das bisher Gesagte reicht aus, um sich vom theoretischen Niveau des „hervorragenden Marxisten” zu überzeugen.
Grenzenloser Ehrgeiz, Hochmut, das ideologische Allesfressen und anderes hinderten Lew Dawidowitsch daran, „seine außerordentlichen Fähigkeiten“ auf dem Gebiet der Ausarbeitung und Entwicklung der Theorie zu realisieren. Der „Nichtbolschewismus” Trotzkis bestimmte nicht selten seine ideologischen Eskapaden und Schwankungen, die wiederum seine häufigen Abweichungen von der kollektiv erarbeiteten Parteilinie nährten und verstärkten.
War Trotzki denn nun Marxist? Die Frage ist gar nicht eindeutig. Seine Weltanschauung, wie auch die Weltanschauungen vieler Altersgenossen, die gemeinsam mit ihm den dornigen Weg der Revolution betraten, wurde unter dem mächtigen geistigen Einfluß des Marxismus formiert. Allerdings, wie bekannt, wurde diese Theorie unterschiedlich von den Menschen aufgenommen, die geistig die Interessen verschiedener Schichten und Klassen der russischen Gesellschaft ausdrückten.
Diese Aufnahme hing nicht nur von den sozialpolitischen Begründungen und Bedingungen ab, sondern auch von den Fähigkeiten der Menschen, schöpferisch und tief in das Wesen der wissenschaftlich-proletarischen Lehre einzudringen, um daraus Inspiration und feste Überzeugung zu schöpfen, die in den Klassenschlachten des XX. Jahrhunderts so notwendig war. Ich denke, daß G. A. Siw in bekanntem Maße recht hatte, der 1921 bemerkte, daß „Trotzki seinerzeit die Theorie des Marxismus gut darlegen konnte, wenn es jedoch zu ihrer Anwendung in der Praxis kam, so kapitulierte er unbedingt”.
Wie die Arbeiten Trotzkis aus den 20er Jahren bezeugen, tauchten in seinem theoretischen Gepäck neben vielem, das für immer fest formuliert war, oft auch vulgarisierte marxistische Thesen, bis nicht verdaute Ideen des Sozialdarwinismus, der sozialen Reflexologie, des Freudomarxismus und anderer damals modischer „-ismen“ auf, vermischt mit beträchtlichen Dosen subjektivistischen Herangehens an die Geschichte.
Das alles gibt uns das Recht, daß das Niveau seiner theoretischen Anschauungen, besonders auf philosophisch-sozialem Gebiet, merklich hinter der wissenschaftlicher Reife mehrerer durchschnittlicher sowjetischer marxistischer Wissenschaftler zurückblieb und in keiner Weise mit der theoretischen Kraft Lenins zu vergleichen war. Da er keine Stabilität der theoretischen Anschauungen hatte, zur Eklektik, zur Vereinigung des Unvereinbaren neigte, entfernte sich Trotzki mit jedem Jahr, besonderes nach dem Tode Lenins, weiter und weiter von den Grundprinzipien des revolutionären Marxismus, bestand er unermüdlich auf der Unmöglichkeit eines Sieges des Sozialismus in einem Lande. In der Emigration bricht er endgültig mit der marxistischen Lehre und geht auf ihre alternativen ideologisch-theoretischen Positionen über, wobei er sich auf Subjektivismus und Voluntarismus stützt.
Ausgehend vom oben Dargelegten, ergeben sich alle Grundlagen, um die Aussage zu formulieren, daß Trotzkis Abweichungen vom Marxismus-Leninismus sehr bedeutend und in der Übergangsperiode gefährlich waren.
Das erlaubt uns, sich mit der Aussage D. Wolkogonows einverstanden zu erklären, der in einem seiner Artikel in der „Literaturnaja Gaseta” schrieb: „Heute kann man sagen, daß, wenn Trotzki am Steuerruder der Partei gestanden hätte, diese noch schwerere Prüfungen erwartet hätten, durch welche die Gefahr des Verlustes der sozialistischen Errungenschaften gedroht hätte”. Schließlich begannen gerade Trotzki und seine Anhänger noch zu Lebzeiten Lenins die Lenin’sche Revolutions- und Sozialismuslehre mit der Absicht zurückzuweisen, den Leninismus durch den Trotzkismus zu ersetzen.(Siehe auch D. Wolkogonow, Trotzki – Das Janusgesicht der Revolution, Econ-Verlag 1992).
Zum Schluß muß man sagen, daß der Trotzkismus heute im Westen eine eigenartige Wiedergeburt erlebt. Eilig und oberflächlich „färbt man den Judas um”. In der modernen bürgerlichen und revisionistischen Presse, schreibt man ihm die Rolle eines „großen Revolutionärs”, des „Architekten des Oktobers”, des „ersten Antistalinisten” usw. zu. Die Dinosaurier der „IV. Internationale” erklären, daß die heute in unserem Lande durchgeführte Perestroika die Verwirklichung des Programms der politische Revolution sei, zu der schon Trotzki aufrief.
Die Universität von Harvard gab unlängst in russischer und englischer Sprache zwei Bände Trotzkis „Über Stalin” heraus. In Amerika erschienen erstmals das zweibändige „Bulletin der Opposition” von Trotzki und nicht veröffentlichte Tagebücher von Trotzki. In russischer Sprache erschien das Buch „Trotzki. Eine Biographie” von Isaak Deutscher. Ich denke, das war nicht nur ein eigenartiger „Salut” zum 70. Jahrestag des Oktobers, sondern auch eine Vorbereitung zur Ausfüllung des Vakuums, das auf unserem ideologischen Acker entstand, nachdem er im Zuge der Perestroika gejätet wurde, wenn wir emsig nicht nur das angesammelte Unkraut jäten und herausreißen…
Die eigenartige Beleuchtung der Figur Trotzkis nutzend, erschienen Bewunderer seiner „Talente” und treten in unserem Lande in verschiedenen Auditorien auf. Sie gehören vor allem zum Medium der liberalen Intelligenz, von der einige Vertreter offensichtlich durch Vorurteile nationalistischen Charakters belastet sind. Für „die Vollständigkeit der historischen Wahrheit” suchen sie eifrig tatsächliche und scheinbare Verdienste Trotzkis, verzerren den echten historischen Prozeß, vertuschen die Schärfe und Bedeutsamkeit des Kampfes der bolschewistischen Partei für den Leninismus gegen den Trotzkismus, reduzieren ihn auf einen gewöhnlichen Kampf um persönliche Macht. Allerdings hat die Geschichte schon lange ihr Urteil über den Trotzkismus gesprochen, das einer Revision nicht bedarf, wie es die Anhänger der „strafenden Hand” gern möchten, ob hier im Lande oder im Ausland.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen