Der unterschätzte Kontinent
Süddeutsche Zeitung v. 12.2.2018
Von Boris Herrmann
Der spanische Dominikanermönch und Eroberer Bartolemé de Las
Casas unterschied sich von den meisten anderen Konquistadoren der
sogenannten Neuen Welt in einem wesentlichen Punkt: Ihn plagten
bald Gewissensbisse. Die zweite Hälfte seines Lebens verbrachte er
damit, den europäischen Völkermord auf dem amerikanischen
Kontinent zu dokumentieren.
Mitunter als "Apostel der Indianer" bezeichnet, beschrieb er in
seinen Schriften aus dem frühen 16.
Jahrhundert die Ureinwohner Lateinamerikas als "natürliche
Geschöpfe", die in einem unveränderten, geradezu geschichtslosen
Zustand wie im "irdischen Paradies" lebten, "sanft wie Kühe" - bis
eines Tages Kolumbus versehentlich in der Karibik anlandete und
alles zerstörte.
Der reumütige De Las Casas meinte es sicherlich gut, was nicht
heißt, dass er recht hatte. Er ist der Urheber des Bildes vom
edlen Wilden, ein Klischee, das die wissenschaftlichen und
pseudowissenschaftlichen Abhandlungen über das vorkolumbianische
Amerika ein halbes Jahrtausend lang geprägt hat - wie auch
Abenteuerromane, Hollywoodfilme und Schulbücher. Demnach traf
Kolumbus 1492 auf einen weitgehend
unberührten Kontinent, auf dem hier und dort kleine Stämme
siedelten. In den Prärien Nordamerikas jagten ökologisch
vorbildliche Indianer ihren Büffeln hinterher und weiter südlich
war abseits der Inka- und Aztekenreiche vor allem
menschenfeindlicher Dschungel. Zahlreiche neuere
Forschungsarbeiten, die der US-Autor Charles C. Mann in seinem
Buch "1491" zusammengetragen hat,
belegen, dass man all das getrost vergessen kann.
Lebten bis zu 20 Millionen Menschen im Tiefland Mittelamerikas?
In der vergangenen Woche wurde allenthalben von einem
"Sensationsfund im Dschungel von Guatemala" berichtet. Ein
internationales Forscherteam hat dort laut National Geographic
rund 60 000 zuvor unbekannte
Maya-Ruinen entdeckt - die Spuren einer Megapolis unter dem
Blätterdach des Regenwaldes. Die Archäologen verwendeten nach
eigenen Angaben "eine völlig neue Laser-Technologie" namens Lidar,
mit der sich der Erdboden vom Hubschrauber aus abtasten lasse. So
entstanden eindrucksvolle, dreidimensionale Bilder der im zehnten
Jahrhundert mysteriös untergegangenen Maya-Hochkultur. Einer der
beteiligten Forscher, Stephen Houston von der Brown University in
Rhode Island, spricht von einem "Quantensprung der
Maya-Forschung". Die Entdeckung, bei der Houston angeblich
Freudentränen vergoss, deute darauf hin, dass Mitte des ersten
Jahrtausends n. Chr. 15 bis 20 Millionen Menschen in der Region
lebten, viermal so viele wie bisher vermutet.
Erstaunlicherweise reagierte Charles C. Mann deutlich gelassener
auf diese Nachricht. "Archäologen sagen seit geraumer Zeit, dass
das Maya-Tiefland damals das am dichtesten besiedelte Gebiet der
Erde gewesen sein könnte", teilte er mit. Der Bericht von National
Geographic stütze diese These. Auch der Archäologe und
Maya-Experte Nikolai Grube von der Uni Bonn hält den Begriff vom
"Sensationsfund" für übertrieben. Er sagt: "Da haben die Kollegen
den Mund vielleicht ein bisschen zu voll genommen."
Tatsächlich ist die Behauptung, Houston und seine Mitstreiter
hätten erstmals Erkenntnisse über die erstaunliche
Bevölkerungszahl der Maya geliefert,
schlichtweg falsch. Auch ist Lidar keine völlig neue Technik. Seit
2009 wird damit im Maya-Tiefland, das
sich über die heutigen Staaten Mexiko, Guatemala, Belize und
Honduras erstreckt, gearbeitet. Erste Erkenntnisse über die hohe
Siedlungsdichte wurden von Arlen und Diane Chase von der
University of Las Vegas 2011
publiziert. Ihre Untersuchungen führten sie in Belize durch. Auch
in Mexiko und Honduras wird die Maya-Kultur seit einigen Jahren
mit Lidar-Scannern erforscht. Das alles macht den Bericht von
National Geographic nicht weniger relevant. Er ist - und das ist
spektakulär genug - ein weiteres Puzzlestück, das bestens zu der
These passt, die sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten
allmählich zum wissenschaftlichen Konsens gemausert hat: Die
Geschichte des vorkolumbianischen Amerikas muss komplett neu
geschrieben werden.
Auch deshalb, weil sie nie wirklich existierte. Bis zum Ende des
20. Jahrhunderts war diese Historie im
Grunde eine einzige Forschungslücke. Aber gerade das mache die
Alt-Amerikanistik so faszinierend, findet Grube. "In der
Geschichte Europas sind die wichtigsten Pflöcke längst
eingeschlagen, in Amerika betreiben wir noch Grundlagenforschung."
Einig sind sich die meisten zeitgenössischen Grundlagenforscher
darüber, dass der amerikanische Kontinent vor 1492 unermesslich geschäftiger, dichter
besiedelt und weiter entwickelt war als 500
Jahre lang behauptet und gerne geglaubt wurde.
Alles "edle Wilde" damals? Das stimmt keineswegs
Grube und sein Kollege Simon Martin publizierten im Jahr 2000 ein Standardwerk zur Blütezeit der
Maya-Kultur zwischen dem vierten und achten Jahrhundert. Darin
beschreiben sie eine Welt aus Stadtstaaten, deren politische
Landschaft und religiöse Mythen sich in vieler Hinsicht mit dem
antiken Griechenland vergleichen lassen. Die Maya hatten eine voll
entwickelte Schrift, einen komplexen Kalender, sie rechneten mit
der Null, betrieben intensive Landwirtschaft und führten
untereinander Kriege wie Athen gegen Sparta. Die von Houston
angegebene Gesamtbevölkerungszahl des Maya-Tieflandes von 15 bis 20
Millionen Menschen hält Grube für gewagt. Noch sei es zu früh,
eine seriöse Schätzung abzugeben, aber er stimmt mit Charles Mann
darüber ein, dass es sich um das am dichtesten besiedelte Gebiet
der damaligen Zeit gehandelt haben könnte. Es ist so gesehen
geradezu bizarr, von einer Alten Welt und einer Neuen Welt
zu sprechen.
Dass es im präkolumbianischen Amerika riesige Metropolen gab wie
Teotihuacán im mexikanischen Hochland (150
000 bis 200 000 Einwohner),
steht außer Frage. Die neueren Schätzungen zur ursprünglichen
Bevölkerungsdichte des Kontinents beziehen sich aber nicht nur auf
die bekannten Hochkulturen der Maya, der Inka und der Azteken.
Auch nördlich des Rio Grande und im südamerikanischen Tiefland des
Amazonas lebten wohl weit mehr Menschen als lange angenommen, und
zwar keineswegs nur als Jäger und Sammler, also als edle Wilde.
"Ein Großteil von ihnen betrieb Landwirtschaft und siedelte in
komplexen Strukturen", sagt Grube.
Am Mississippi, unweit des heutigen St. Louis, blühte zwischen 950 und 1250
n. Chr. die Stadt Cahokia auf, höchstwahrscheinlich durch eine
Intensivierung des Maisanbaus. Sie soll mindestens 15 000 Einwohner gehabt haben,
vergleichbar mit dem damaligen London. Auf die US-amerikanischen
Archäologen Clark Erickson und William Balée geht die These
zurück, dass im Department Beni in Zentralbolivien fast 78 000 Quadratkilometer Schwemmgebiet von
Waldinseln und kleinen Hügeln (Mounds) durchzogen war, verbunden
durch Dammwege. Diese Kulturlandschaft sei vor möglicherweise 2000 Jahren von Menschen angelegt worden -
es müssen viele gewesen sein.
Die europäischen Eroberer hatten einen unschlagbaren Verbündeten mitgebracht: die Pocken
Auch die brasilianische Amazonasregion war vor Kolumbus
vermutlich dichter besiedelt als heute. Der größte Regenwald der
Welt ist noch immer weitgehend unerforscht, aber es wächst die
Zahl der Anthropologen und Archäologen, die behaupten, dass er zu
erheblichen Teilen auf Schwarzerde gewachsen ist, die von
indianischen Kulturen stammt. Es gibt Theorien, wonach die Hälfte
des Gebietes aus Sekundärwald besteht und der Dschungel eine alte
Kulturlandschaft überwucherte. "Ein geschlossenes Urwaldgebiet hat
es nie gegeben", sagt Grube.
Zu den großen offenen Fragen gehört, wie es den Eroberern Hernán
Cortés und Francisco Pizarro gelingen konnte, mit ein paar Hundert
ausgemergelten Seefahrern einen von Abermillionen bevölkerten
Kontinent in die Knie zu zwingen. Es waren skrupellose Mörder mit
überlegenen Waffen, klar. Aber sie hatten wohl unfreiwillig auch
einen unschlagbaren Verbündeten mitgebracht: die Pocken. Nach
neueren Schätzungen könnten 60 bis 70 Prozent der indianischen Urbevölkerung
binnen weniger Jahre nach dem Eintreffen der Spanier von
Pockenwellen hinweggerafft worden sein. Aber auch das ist noch
nicht zweifelsfrei bewiesen.
Aus Sicht von Grube und Mann gehört es zu den Spätfolgen des
europäischen Kolonialismus, dass eine ernstzunehmende
Alt-Amerikanistik gerade erst in Gang kommt. So lange man in der
eurozentrischen Welt nicht so genau wusste, was sich in der
westlichen Hemisphäre von 1492
abspielte, wirkte das Verbrechen der Eroberer vielleicht nicht
ganz so monströs.
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