Montag, 26. März 2018

Mexiko: Gefrorene Trauer


Eine Studie beschreibt die psychosozialen Folgen des Falls Ayotzinapa für die betroffenen Familien und die mexikanische Gesellschaft
Am 15. März präsentierten mexikanische NGOs eine aussergewöhnliche Studie, welche auf über 500 Seiten die titanische Aufgabe angeht, die psychologischen, medizinischen und sozialen Folgen aufzuzeigen, welche die Polizeiaktion in der Nacht des 26. auf den 27. September 2014 in Iguala verursachte.
Link zu der Studie (Spanisch)
20/03/2018 In der Schreckensnacht im September 2014 hatten Polizisten verschiedener Einheiten die Studenten des Lehrerseminars Ayotzinapa angegriffen. Sechs Menschen wurden ermordet, einer liegt bis heute im Koma, 43 Kommilitonen wurden verhaftet und sind seither verschwunden. In den bald 42 Monaten seit diesem Verbrechen gegen die Menschheit kämpfen die Eltern der Verschwundenen für die Aufklärung des Schicksals ihrer Kinder, bisher ohne Erfolg. Die wenigen Zugeständnisse des Staates konnten sie den Behörden oftmals erst nach langen, kräftezehrenden Mobilisierungen abringen.
Die schon vor diesem Einschnitt nicht einfache Situation der betroffenen Familien, die in armen, meist indigenen Gemeinden in Guerrero und in anderen Bundesstaaten wohnen, verschlechterte sich in Folge der Schreckensnacht von Iguala zusehends, wie die Studie mit vielen Beispielen belegt.
Die aus ihrem Umfeld herausgerissenenen Eltern, die seit Jahren auf der Suche nach ihren Kindern sind, gewärtigen fortschreitende physische Leiden, Schuldgefühle, die Entfremdung von anderen Kindern, die sie zurücklassen mussten. Eine der Unwägbarkeiten, welche die Familien der Verschwundenen erleiden, beschreibt die Studie mit dem Begriff gefrorene Trauer. Dieser zwiespältige Zustand wird provoziert durch die widersprüchlichen Gefühle aus der Annahme, die geliebte Person sei tot und der gleichzeitigen Hoffnung, dass sie lebe.
In ihrem Kampf um Wahrheit und Gerechtigkeit werden die Familien von Ayotzinapa von sozialen und zivilgesellschaftlichen Organisationen begleitet. Dank grossem politischen Druck liess die mexikanische Regierung vorübergehend auch eine von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission mandatierte Unabhängige internationale Expertengruppe (GIEI) zum Thema arbeiten. Eine der Empfehlungen der GIEI an die mexikanische Regierung war die Erstellung eines Berichts über die Folgen dieser schwersten Menschenrechtsverletzungen für die unmittelbar betroffenen Familien und für die mexikanische Gesellschaft. Unabhängig von der Regierung machte sich eine Equippe von 12 Fachleuten an die Arbeit und erstellte den Bericht innerhalb von eineinhalb Jahren. Unter den 12 AutorInnen sind zwei Psychologinnen und ein Arzt der medico-Partnerorganisation Kollektiv gegen Folter und Straflosigkeit CCTI. Das CCTI arbeitete mit dem Lehrerseminar von Ayotzinapa schon vor 2014 zusammen und begleitet die Angehörigen der Repressionsopfer bis heute. Das Resultat der eineinhalbjährigen Arbeit ist ohne Zweifel ein Meilenstein in dem strategischen Kräftemessen zwischen den Familien und ihrem solidarischen Umfeld und dem mexikanischen Staat.
PS: Der Titel der Studie, “Ich wollte bloss, dass es hell wird”, ist ein Zitat aus dem Interview mit einem Studenten, der die Repression überlebte und schildert, wie er zusammen mit anderen Studenten von Angst paralysiert auf das Morgengrauen wartet.
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