Mittwoch, 14. März 2018

Herrschen und beherrscht werden: Tafeln als Abbild der Gesellschaft


Ein Kommentar von Susan Bonath.
Plasberg, Illner, Tagesschau, Bundespressekonferenz, bei Springer rauf, beim Spiegel runter, Relativierer a la »es gibt keine Armut und geht nur um Abfallvermeidung« versus Empörungsmanager: Die Diskussionen um Tafeln im wirtschaftlich stärksten Land Europas reißen nicht ab. Wohlhabende, deren Jackett mehr kostet als ein Regelsatz, sprechen über Armut – welch ein Zynismus.
Leo Fischer, Ex-Titanic-Chefredakteur, brachte es im Neuen Deutschland auf den Punkt: »Noch im Kampf um Müll muss den Befehlen der Kommandanten gehorcht werden, muss Reih und Glied herrschen und schwebt über allem die Zuchtrute. Und noch im Kampf um Müll gibt es predigende Millionäre, die genaue Vorstellungen haben, wie die Ärmsten diesen Kampf zu führen haben.«
Fischer beschreibt das System der totalen Konkurrenz treffend. In jeder Nische, jeder Zelle menschlichen Bewusstseins hat es sich eingenistet. So mutierte die gut gemeinte Idee einer Frauen-Initiative von 1993, verelendeten Obdachlosen in Berlin mit Nahrungsspenden zu helfen, zu einem Konzern mit monströsem Ausmaß: 937 Tafeln mit mehr als 2.000 Ausgabestellen geben den Verursachern der Armut, dem Großkapital, nicht nur einen karitativen Anstrich. Sie ermöglichen es ihnen, ihre aus Wachstumszwang resultierende Überproduktion billig zu entsorgen und zugleich, dank Spendenquittungen, Steuern zu sparen.
Der Bundesverband der Tafeln nennt Großkonzerne und Handelsketten seine Partner. Rewe, Lidl, die Metro, Mercedes Benz zählen dazu. Hinzu kommen Firmen wie Coca Cola, Edeka, Nestlé, Henkel, Netto, Sodexo und andere. Als Kooperationspartner fungiert das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft. Ein hübsches Stelldichein von Wasserräubern, Menschenrechtsverletzern, Ausbeutern und Reichenförderern.
Und wer hätte es geahnt, auch McKinsey ist am Ball. Der global agierende neoliberale Think Tank berät nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die Tafelmacher. Schon Mitte der 1990er Jahre hatte McKinsey Mitarbeiter zu ihnen geschickt, um die Expansion der Resteverteilanstalten zu managen. Zwei Handbücher zum Aufbau und Betrieb einer Tafel sponserte das Unternehmen – ein Erfolgsmodell.
Und die Vorarbeit für mehr: Schon wenig später hockten McKinsey, Bertelsmann, die Wirtschaftslobby und Politiker zusammen. Sie tüftelten Hartz IV aus, inklusive rigidem Sanktionssystem. Man wollte, in Vorahnung der Finanzkrise, ein Erpressungsinstrument schaffen, mit dem der Staat Millionen Menschen in Billigjobs zwingen kann: Die Knute des Entzugs des Existenzminimums, bis in Obdachlosigkeit und in den Hunger. Es ist gelungen, die Exportindustrie boomt. Ein Schelm, wer einen Zusammenhang vermutet.
Doch das sagen Politiker wie der designierte CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn natürlich nicht. Sie lügen lieber: Mit Hartz IV müsse niemand hungern. Es sind auch nicht nur die Sanktionen. Auf perfide Weise rechneten die Regierungsbeauftragten die Regelsätze klein: Man nehme die Einkommens- und Verbrauchs-Stichprobe von 2013, berechne die Ausgaben der untersten 15 Prozent der Ärmsten und streiche davon noch einmal mehr als 100 Euro heraus, für Dinge, die ein Hartz-IV-Bezieher angeblich nicht braucht, wie Bücher, Zimmerpflanzen und vieles mehr.
Die deutsche Gründlichkeit der Rechenkünstler ging noch weiter: So legten sie zum Beispiel für den Snack an der Imbissbude der Ärmsten der Armen den Warenwert beim Billigdiscounter zugrunde, für Bier und Limo berechneten sie den reinen Wasserwert. Am Ende wurden aus weit über 500 Euro für einen Alleinstehenden gut 400. Flüchtlinge, die sich selbst versorgen müssen, erhalten übrigens fast 70 Euro weniger.
Auch die Strompreise haben die Regelsätze längst überholt. Knapp 35 Euro gewährt der Staat dem Hartz-IV-Bezieher für Haushaltsenergie und Instandhaltung der Wohnung. Woran sparen wohl die Leute, um ihre Rechnungen und Zwangsabgaben begleichen zu können? Am Essen. Das Leben in Deutschland ist nun einmal teurer als in Somalia.
Doch die private Tafelfürsorge steht ja bereit. Allerdings nicht für jeden: Wer Essen braucht, muss seine Bedürftigkeit mit einem behördlichen Bescheid nachweisen. Doch ohne Postanschrift und Meldeadresse gibt es weder Hartz IV noch Sozialhilfe. Obdachlose, die nicht in einer Massenunterkunft im Mehrbettzimmer übernachten wollen, gehen leer aus, ebenso wie vollsanktionierte Jugendliche oder erwerbslose EU-Migranten ohne Leistungsanspruch. Die Elendsten haben nämlich gar keinen Zugang zu den Resten.
Die Tafeln sind auch ein riesiges, spendenfinanziertes Disziplinierungsprogramm, eine Ein-Euro-Job-Fabrik zum Schönen der Arbeitslosenstatistik. Oft hängt ein ganzer Rattenschwanz der Arbeitsbeschaffung für Arme an ihnen: Kleiderkammern, Möbellager, eine monströse Maßnahmen-Industrie.
Die Tafeln sind schließlich Beruhigungs- und Wohlfühlpille für den engagierten Helfer. Man tut ja was, man ist ein guter Mensch. Doch zugleich spiegelt ihr Konzept den autoritären Staat im Kleinen wider: WIR sammeln für euch die Essensreste ein. WIR bestimmen, wer den Tafelausweis bekommt. WIR verteilen, denn die Reste gehören UNS. WIR definieren eure Bedürfnisse. Reiht euch ein, bettelt unterwürfig, seid dankbar. Denn ihr wisst: An die Container hinter den Supermärkten dürft ihr nicht ran, das ist strafbar.
Das ist gelebte kapitalistische Kultur, eine kleine Machtnische für Beherrschte, die so die Wunden ihrer eigenen Unterdrückung kompensieren. Die Tafel ist ein Abbild der fremdbestimmten Konkurrenzgesellschaft, die noch nicht gestrauchelte Besitzlose zum Verkauf ihrer Arbeitskraft, den Rest zum Betteln zwingt. Sie ist die Parodie auf das Wechselspiel zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Dominanz und Unterwerfung.
Die Tafel hält uns den Spiegel vor. Bis ganz unten haben wir uns das Maß der Herrschenden zu eigen gemacht. Die erfolgreichsten Selbstvermarkter führen auch an den Essensausgabestellen die Hierarchie an, gefolgt von den Fleißigen, Folgsamen, Gehorsamen. Wer all das nicht mitmacht, weil er nicht kann oder will, soll sich gefälligst vor allen anderen demütig in den Staub bücken.
Als wäre jemand, der Billigjobs ablehnt und darum sanktioniert wurde, schädlicher für die Gesellschaft, als der Rüstungsfabrikant und seine willigen Sklaven. Als würde der Flüchtling in seiner Massenunterkunft mehr Schaden anrichten, als ein skrupelloser Banker oder ein Kriegseinsätze abnickender Politiker im Bundestag. Wahrlich viele würden der Gesellschaft weniger schaden, wenn sie nichts täten.
Übrigens: Hat eigentlich schon einmal jemand den Euro für den Straßenmusiker von einem Nachweis seiner Bedürftigkeit abhängig gemacht? Was, verdammt noch mal, gehen uns staatliche Bescheide an?
Freiheit, Selbstbewusstsein und Mitgefühl sehen jedenfalls anders aus. Es ist wohl so: Solange der Sklave nicht frei, sondern selbst Sklavenaufseher sein will, ist die Gesellschaft weit von dem entfernt, was Karl Marx einst wünschte: Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.

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