Dienstag, 19. April 2022

Berlin: Veranstaltung zum RAZ, RL, radikal Verfahren

Samstag, 23. April 2022 um 19 Uhr Info- und Stadtteilladen Lunte Weisestraße 53, 12049 Berlin Am 1. Dezember 2021 wurde unser Genosse Cem vor dem Landgericht Berlin verurteilt. In einem Indizienprozess, der sich über 22 Prozesstage zog, lautete das Urteil vorerst 1 Jahr und 6 Monate Haft, ausgesetzt auf 3 Jahre Bewährung und 360 Arbeitsstunden. Angeklagt war er Ursprungs in drei Fällen von Brandstiftung, die Verurteilung erfolgte wegen psychologischer Beihilfe, da er vermeintlich ein Bekennerschreiben verschickt haben soll. Eine Revision steht gegebenenfalls noch aus. Vorangegangen waren 21 Hausdurchsuchung im Zuge der Ermittlungen wegen Mitgliedschaft in und Bildung einer kriminellen Vereinigung (§129) am 21.05.2013. Durchsucht wurden neben privaten Wohnräumen auch Arbeitsstellen und Vereinsräumlichkeiten in Stuttgart, Berlin und Magdeburg. Konkret sollen die damals 9 Beschuldigten der „Revolutionären Linken“ bzw. den „Revolutionären Aktions Zellen“ angehören, diese unterstützt und/oder bei der Herausgabe der Zeitschrift „radikal“ mitgewirkt haben. Die Revolutionären Aktionszellen zeigten sich in den vergangenen Jahren für einige militante Aktionen in Berlin, sowie für die Verschickung von Patronen verantwortlich. Neben einer Rückschau auf das Ermittlungs- und Gerichtsverfahren werden wir in der Veranstaltung vor allem auf die angegriffenen Projekte RAZ (Revolutionärer Autonome Zelle), RL (Revolutionäre Linke) und die Zeitschrift Radikal eingehen. Weiter Infos findet ihr unter: soligruppe.no129.info political-prisoners.net Spendenaufruf: Im Rahmen der Solidaritätsarbeit ist es zu weiteren Repressionsfällen gekommen, wofür wir Spenden sammeln.

Macron verbietet ‘Collectif Palestine Vaincra’: “tiefgreifender Angriff auf die Solidaritätsbewegung mit Palästina” ’

Das “Collectif Palestine Vaincra” war eine wichtige Organisation der palästinensischen Befreiungsbewegung in Frankreich. Im Vorfeld des Präsidentschaftswahlkampfs hat der amtierende Präsident Emanuel Macron die Organisation nun verboten. – Ein Interview mit dem „Comité contre la dissolution du Collectif Palestine Vaincra“, das gegen das Verbot kämpft. Vielen Dank, dass ihr euch für das Interview Zeit genommen habt. Im „Comité contre la dissolution du Collectif Palestine Vaincra“ haben sich verschiedene linke und revolutionäre Organisationen, insbesondere aus Toulouse, zusammengeschlossen. Wer seid ihr und warum habt ihr zusammen gefunden? Dieses Komitee wurde im März 2022 in Toulouse gegründet und besteht aus rund 30 Organisationen, darunter gewerkschaftliche, linke und radikal linke Organisationen, antifaschistische Gruppen, kurdische und pro-palästinensische Organisationen. Sein Ziel ist es, das Verbot des Collectif Palestine Vaincra (CPV) ( deutsch: Komitee Palästina wird siegen, Anmerkung der Redaktion) durch die französische Regierung zu kritisieren. Nach dieser sehr tiefgreifenden politischen Entscheidung Macrons und seines Innenministers scheint es uns wichtig, dass das Kollektiv nicht alleine ist und dass diese autoritäre und freiheitstötende Offensive alle fortschrittlichen und revolutionären Kräfte angeht. Könnt ihr kurz erklären, welche politische Arbeit das Comité Palestine Vaincra gemacht hat und warum es so wichtig ist, gegen seine Auflösung zu kämpfen? Das Collectif Palestine Vaincra war eine Organisation der Unterstützung des palästinensischen Volks und seines Widerstands in der Tradition der antikolonialistischen und antiimperialistischen Bewegung. Mit dem Verständnis, dass Israel eine Siedlungskolonie und der Vorposten des Imperialismus in der arabischen Welt ist, verteidigte das Kollektiv die Perspektive eines freien und demokratischen Palästinas vom Meer bis zum Jordan sowie das Rückkehrrecht der palästinensischen Geflüchteten, die seit der Nakba 1948 das Land verlassen mussten. Als Mitglied des internationalen Netzwerks “Samidoun” war die Unterstützung politischer Gefangener das Herzstück der politischen Arbeit. Besonders wichtig war dabei der Kampf für die Befreiung Georges Abdallahs – ein libanesischer Kommunist und Kämpfer der palästinensischen Befreiung, der seit 1984 in Frankreich gefangen gehalten wird. Es ist wichtig, gegen die Auflösung zu kämpfen, denn diese Entscheidung ist ein sehr tiefgreifender Angriff auf die Solidaritätsbewegung mit Palästina. Hinter dem Kampf gegen dieses politische Verbot steht auch der Kampf gegen die Kriminalisierung der Antizionismus und Antiimperialismus. Mehr als je zuvor gilt es klarzustellen, dass ein Angriff auf einen von uns ein Angriff auf alle Partisan:innen der Gerechtigkeit und Emanzipation ist. Seht ihr einen Zusammenhang zwischen der Auflösung von Palestine Vaincra und der Präsidentschaftswahl in Frankreich? Während der ersten Amtszeit Emmanuel Macrons haben wir eine autoritäre Radikalisierung der französischen Staatsmacht beobachten können. Das hat sich auf verschiedene Arten ausgedrückt, insbesondere in der Repression gegen jegliche Form von Kräften, die den Staat herausgefordert haben; in der Annahme neuer Gesetze, die das Sicherheitsarsenal verschärfen, unter anderem die Gesetze zum Separatismus und das neue Sicherheitsgesetz; sowie in die Auflösung zahlreicher Organisationen, wovon vor allem muslimische und antirassistische Gruppen betroffen waren. Die Auflösung von Palestine Vaincra zählt eher in diese Dynamik. Aber es ist klar, dass die Präsidentschaftswahlen in Frankreich auch ein politischer Kristallisationspunkt sind, an dem der Präsident seine Machtdemonstrationen kurz vor Ende seiner Amtszeit verstärkt. Diese Auflösung ist da eins von vielen Beispielen. Spielt auch der israelische Staat eine Rolle bei der Auflösung? Es ist klar, dass der israelische Staat eine Rolle gespielt hat. Im Februar 2021 hat der israelische Verteidigungsminister und Kriegsverbrecher Benny Gantz Samidoun und Palestine Vaincra als „terroristische Organisationen“ eingestuft, wie viele andere palästinensische Organisationen und Gruppen der Solidaritätsbewegung auch. Nach dieser Einstufung forderten viele französische Befürworter:innen der israelischen Apartheid eine Auflösung des Kollektivs. Nach einer einjährigen Kampagne, die von mehreren gewählten Vertreter:innen aus Toulouse und Parlamentarier:innen aus Macrons Mehrheit getragen wurde, wurde die Auflösung Ende Februar wenige Stunden vor dem jährlichen Abendessen des CRIF (Conseil Représentatif des Institutions juives de France) bekannt gegeben, welche die wichtigste pro-israelische Lobby-Organisation in Frankreich ist. Mehr noch: Emmanuel Macron brüstete sich persönlich mit der Auflösung des Collectif Palestine Vaincra. Bei den Gedenkfeiern für die Opfer der Anschläge von Mohammed Merah in Tolouse erklärte er den Antizionismus vor dem israelischen Präsidenten Isaac Herzog zum „Feind der Republik“. Das sagt viel aus über die skandalöse Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus, aber auch über die Zusammenarbeit Frankreichs mit dem israelischen Apartheidsstaat bei der Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung mit Palästina. Für den 15. bis 22. April ruft ihr zu einer Aktionswoche auf. Welche Aktionen sind in dieser Zeit geplant und kann man diese auch von Deutschland aus unterstützen? Vom 15. bis zum 25. April rufen wir zu einer Aktionswoche gegen die Auflösung vor dem Staatsrat auf. In Toulouse findet am 21. April eine Versammlung statt, bei der wir unsere Ablehnung der Auflösung und der sicherheitspolitischen Offensive bekräftigen werden. Weltweit finden mehrere Initiativen statt, vor allem rund um den 17. April, dem Tag der palästinensischen Gefangenen. Diese Verbindung ist besonders wichtig, da die Unterstützung für palästinensische politische Gefangene wie Georges Abdallah und Ahmad Saadat als Rechtfertigungsgrund im Auflösungsdekret dienten. Dies ist ein äußerst schwerwiegender Angriff! Wir rufen also alle Unterstützer:innen des palästinensischen Kampfes dazu auf, Solidaritätsaktionen mit dem Kollektiv zu machen, wie z.B. Collagen, Solidaritätsfotos, Graffiti, Kundgebungen etc. Natürlich ist die Unterstützung aus Deutschland für uns sehr wichtig, vor allem wenn man bedenkt, dass unsere beiden jeweiligen Länder strategische und führende Verbündete der israelischen Apartheid sind. “Samidoun Deutschland” organisierte zum Beispiel Initiativen in Berlin am 18. April, aber auch in Frankfurt und Aachen am 16. April. Dies wird die Gelegenheit bieten, die Freilassung der fast 5000 palästinensischen politischen Gefangenen zu fordern, aber auch die anti-palästinensische Repression in Europa anzuprangern, wie die Auflösung des Kollektivs Palestine Vaincra oder auch die Ausweisung des palästinensischen Schriftstellers Khaled Barakat aus Deutschland. Wollt ihr noch etwas zum Abschluss sagen? Wir laden eure Leser:innen ein, sich an der Sammlung zur Unterstützung unseres Komitees zu beteiligen und online eine Spende zu machen. Ansonsten ist die wichtigste Solidarität, den Kampf, den Palestine Vaincra begonnen hat, fortzusetzen – den entschiedenen antiimperialistischen Kampf für die Befreiung Palästinas vom Meer bis zum Jordan! https://perspektive-online.net/2022/04/macron-verbietet-collectif-palestine-vaincra-tiefgreifender-angriff-auf-die-solidaritaetsbewegung-mit-palaestina/

[IMI-List] [0610] IMI bei den Ostermärschen / Analyse Hunger und Ukraine Krieg / Weitere Texte zum Ukraine-Krieg

---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0610 .......... 25. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/ ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich 1.) Reden von IMI-ReferentInnen bei den Ostermärschen; 2.) Neue Texte zum Ukraine-Krieg (Neutralität, Waffenlieferungen, Spangdahlem); 3.) Eine neue IMI-Analyse über Hunger als Folge des Ukraine-Krieges. 1.) IMIs bei den Ostermärschen Alle Termine und Aufrufe zu den Ostermärschen finden sich beim Netzwerk Friedenskooperative: https://www.friedenskooperative.de/ostermarsch-2022 Redner*innen der Informationsstelle Militarisierung nehmen an folgenden Ostermärschen Teil: SAMSTAG, 16.4.2022: -- 11 Uhr: Der Ostermarsch München beginnt auf dem Marienplatz, dort findet ab 13:30 auch wieder die Abschlusskundgebung statt. Dort spricht u.a. Jacqueline Andres. -- 12 Uhr: Der Ostermarsch Ulm beginnt vor der Wilhelmsburg-Kaserne. Pablo Flock von der IMI spricht auf der Abschlusskundgebung auf dem Hans-und Sophie-Scholl-Platz. -- 12 Uhr: Der Ostermarsch Mannheim beginnt auf dem Kapuzinerplanken. Bei der Abschlusskundgebung auf dem Schillerplatz spricht u.a. Tobias Pflüger. -- 12 Uhr: Der Ostermarsch Stuttgart beginnt im Oberen Schlossgarten nahe Hauptbahnhof. Christoph Marischka spricht auf der Auftaktkundgebung, Claudia Haydt moderiert die Abschlusskundgebung auf dem Schloßplatz. -- 12 Uhr: Der Ostermarsch Göttingen beginnt auf dem Wilhelmplatz, dort Spricht Martin Kirsch von der IMI. MONTAG, 18.4.2022 -- 11 Uhr: Der Ostermarsch Sachsen-Anhalt findet dieses Jahr in Burgstall (Ortsteil Dolle) statt. Auftakt ist am Sportplatz, dort findet auch ab 14 Uhr die Abschlusskundgebung statt, auf der u.a. Jacqueline Andres spricht. -- 14 Uhr: Der Ostermarsch Nürnberg beginnt dezentral am Rosa-Luxemburg-Platz und am Kopernikusplatz, bereits um 12 Uhr in Fürth (Hiroshima Denkmal) mit Friedensradfahrt nach Nürnberg. Auf der gemeinsamen Abschlusskundgebung auf dem Kornmarkt in Nürnberg spricht Christoph Marischka. Alle Ostermärsche nach Bundesländern: https://www.friedenskooperative.de/termine-ostermaersche-2022-nach-bundesland 2.) Neue IMI-Texte zum Krieg in der Ukraine Der Krieg in der Ukraine hält uns leider immer noch im Atem. Seit der letzten IMI-List erschienen dazu u.a. Auswertungen zu den EU-Waffenlieferungen über die EU-Friedensfazilität und zur jüngsten Debatte um schwere Waffen erschienen. Auch eine neue Analyse über die NATO-Aspirationen der neutralen Staaten Schweden und Finnland wurde kürzlich veröffentlicht, ebenso wie eine kurze Stellungnahme zur Verlegung von US-Kampfjets nach Spangdahlem. IMI-Standpunkt 2022/017 – in: Telepolis, 13.4.2022 Schwere Waffen für die Ukraine: „Raus aus der Eskalationslogik“ Diplomatie statt Waffenlieferungen und Stellvertreterkrieg https://www.imi-online.de/2022/04/14/13931/ Jürgen Wagner (14. April 2022) IMI-Analyse 2022/23 Ja zur NATO? Finnland und Schweden nähern sich Beitritt https://www.imi-online.de/2022/04/11/ja-zur-nato/ Christina Boger (11. April 2022) IMI-Standpunkt 2022/16 US-Angriffs-Kampfjets auf Air-Base Spangdahlem verlegt Russische Luftabwehr kann aus Rheinland-Pfalz gestört werden https://www.imi-online.de/2022/04/06/us-angriffs-kampfjets-auf-air-base-spangdahlem-verlegt/ Jens Wittneben (6. April 2022) IMI-Analyse 2022/21 Eine Friedensfazilität für den Krieg EU-Waffenlieferungen an die Ukraine und das Ende der Rüstungsexportrichtlinien https://www.imi-online.de/2022/04/04/eine-friedensfazilitaet-fuer-den-krieg/ Jürgen Wagner (04. April 2022) 3.) IMI-Analyse zum Hunger als Folge des Ukraine-Krieges IMI-Analyse 2022/22 Hunger am anderen Ende der Welt Eine globale Folge des Krieges in der Ukraine https://www.imi-online.de/2022/04/04/hunger-am-anderen-ende-der-welt/ Peter Clausing (4. April 2022) Die Konsequenzen von Kriegen tragen bekanntermaßen nicht jene, die ihn angezettelt haben und – im vorliegenden Fall – schon gar nicht jene, die durch das jahrzehntelange Versagen einer Entspannungspolitik indirekt zu seinem Ausbruch beigetragen haben und nun auf ein Regime Change beim Aggressor hoffen, der am 24. Februar 2022 selbst den Versuch eines Regime Change in seinem Nachbarland startete. Die ukrainische Bevölkerung ist das Opfer dieses Krieges. Seine Dauer, damit verbundenes Leid und mit ihm einhergehende Zerstörungen sind nicht absehbar. Wenig beachtet wird die Bevölkerung eines Landes, dessen Hauptstadt rund 2.400 km Luftlinie von Kiew entfernt ist und das vor rund 10 Jahren mit einem Regime Change bedacht wurde, die nun zusätzlich und besonders heftig unter den Folgen des Ukraine-Kriegs zu leiden hat. Die Rede ist von Libyen, einem Land, das von 2011 bis 2020 von Bürgerkriegen erschüttert wurde. Dabei ist – wie unten zu lesen sein wird – Libyen nicht das am schwersten betroffene Land, was die vom Ukraine-Krieg ausgehenden Schockwellen für die Welternährung anbetrifft. Aber es ist ein besonders tragisches Beispiel für das Nicht-zur-Ruhe-kommen unter den Bedingungen eines krisengeschüttelten Globus. Betrachtet man die Importabhängigkeit bei Weizen im Kontext des Ukrainekriegs, liegt Libyen – zusammen mit Pakistan und Tansania – im oberen Mittelfeld. In der Summe kamen 2021 etwas über 50 Prozent der Weizenimporte dieser Länder aus Russland und der Ukraine, bei Ägypten waren es über 70 Prozent, bei Eritrea 100 Prozent. Inzwischen dürfte in das öffentliche Bewusstsein vorgedrungen sein, dass Russland und die Ukraine zu den wichtigsten Produzenten von Weizen, Gerste und Sonnenblumenkernen bzw. -öl gehören. Beide Länder zusammengenommen produzieren über die Hälfte der globalen Sonnenblumenernte. Bei Gerste und Weizen sind es 19 bzw. 14 Prozent. Hinzu kommt die Abhängigkeit vieler Landwirte von Düngemitteln, bei denen die Russische Föderation Spitzenplätze unter den Exporteuren einnimmt – Platz 1 bei Stickstoffdüngern und Platz 2 bei Phosphor und Kalium. Damit nicht genug, stellt die Synthese von Stickstoffdüngern, wofür inzwischen weltweit fast ausnahmslos Gas verwendet wird, einen extrem energieintensiven chemischen Prozess dar. Die hohen Gaspreise schlugen sich bereits vor Beginn des Krieges in den Stickstoffdüngerpreisen nieder und eine Störung der Gasversorgung in der EU hätte auch Folgen für Preise und Verfügbarkeit von Stickstoffdüngern, deren Produktion an anderen Standorten umso wichtiger würde, wenn Russland als Exporteur ausfällt. Derzeit ist es aber so, dass der größte westliche Düngemittelproduzent – das norwegische Unternehmen Yara – seine Produktion aufgrund der hohen Gaspreise zurückfährt.[1] Drei Faktoren machen wahrscheinlich, dass es infolge des Krieges zu einer spürbar geringeren Getreidemenge auf dem Weltmarkt und somit zu einer massiven Verschärfung der Ernährungssituation in jenen Ländern führen wird, die von Getreideimporten abhängig sind: ungeerntete Flächen, unbestellte Flächen und geringere Erträge. Hinzu kommen logistische Probleme und die Folgen von Sanktionen. All diese Aspekte wurden in einer 40-seitigen Studie[2] der Welternährungsorganisation (FAO) beleuchtet, die Anfang März 2022 publiziert wurde. In Russland und in der Ukraine wird das Wintergetreide in der Regel im Juni und Juli geerntet. Ab April wächst diese Aussaat und es müsste gedüngt werden. Zur gleichen Zeit beginnt die Periode der Aussaat von Sommergetreide und Sonnenblumen. Aussaat und Ernte, aber auch die Düngung und Behandlung mit Pestiziden in der Ukraine dürften durch die kriegsbedingte Zerstörung von Äckern, durch die fehlende Zugänglichkeit der Äcker aufgrund von Kampfhandlungen und durch das Fehlen von Arbeitskräften, die zum Militärdienst eingezogen wurden, beeinträchtigt werden. Hinzu kommt bei Stickstoffdünger, der sich auch zur Herstellung von Sprengstoff eignet, dass er für militärische Zwecke abgezweigt werden könnte. Die FAO schätzt, dass in der Ukraine 20 Prozent des Wintergetreides nicht geerntet werden und dass 30 Prozent der Felder unbestellt bleiben könnten. Ein großer Teil der ukrainischen Getreideexporte wird normalerweise über die Schwarzmeerhäfen abgewickelt wird, insbesondere für die Exporte in den Nahen Osten und nach Nordafrika. Diese Häfen stehen derzeit jedoch nicht zur Verfügung. Auf der russischen Seite sind es vor allem Handelssanktionen, die zu einem verringerten Angebot an Getreide auf dem Weltmarkt führen könnten. Bezüglich des Sonnenblumenöls schätzt die FAO ein, dass dies – im Gegensatz zu Getreide – durch andere Ölfrüchte (Raps, Soja etc.) leichter ersetzt werden könne. Schon 2021 hatte der Food Price Index der FAO, in den die Weltmarktpreise von 95 Agrarrohstoffen und Nahrungsmitteln einfließen,[3] den Wert von 2008, als es in 39 Ländern zu „Brotrevolten“ kam,[4] deutlich überschritten. Während der Index im Jahr 2008 bei 117,5 lag, kletterte er 2021 auf 125,7. Dass es keine neuen Brotrevolten gab, bei denen in der Regel die städtische Bevölkerung der betroffenen Länder erschwingliche Lebensmittelpreise einfordert, war vor allem auf staatliche Subventionen zurückzuführen. Preistreibend wirkte im vorigen Jahr vor allem die Preisentwicklung bei Energierohstoffen. Selbst in Deutschland hatte das schon vor Ausbruch des Ukraine-Krieges zu rund fünf Prozent höheren Lebensmittelpreisen geführt. Der Präsident des Handelsverbands Deutschland, Josef Sanktjohanser, rechnet mit einer zweiten Welle an Preissteigerungen in Deutschland, die dann „sicherlich zweistellig“ ausfallen werde.[5] Es gibt berechtigte Zweifel, dass finanziell angeschlagene Länder, die infolge von Klimawandel und Corona-Krise schon in den Jahren zuvor extrem belastet wurden, die Preissteigerungen bei Lebensmitteln abpuffern können. In einem Arbeitspapier der Bundesakademie für Sicherheitspolitik[6] wird von „schwindender staatlicher Stabilität im Nahen und Mittleren Osten“ (angesichts der realen Situation ein Euphemismus) gesprochen. Die Autoren des Papiers betrachten Ägypten, Jordanien, Libanon, Libyen und Tunesien als Länder, die vor inneren Unruhen stehen würden, weil sie „signifikant von Nahrungsmittelimporten abhängig sind“. Modellrechnungen der FAO zufolge wird sich die Zahl der unterernährten Menschen weiter erhöhen. Diese Zahl steigt bereits seit mehreren Jahren wieder an (2019: 799 Mio.; 2020: 814 Mio.; 2021: 817 Mio). Im Jahr 2022 erwartet die FAO zusätzlich zwischen 7,6 (mittleres Szenario) und 13,1 Millionen Menschen (worst case) in dieser Kategorie. In einem gemeinsam veröffentlichten Papier von FAO und Welternährungsprogramm (WFP)[7] wurden die Hunger-Hotspots für die Zeit von Februar bis Mai 2022 identifiziert. Das sind Länder, in denen Teile der Bevölkerung von akuter Hungerkrise und damit verbunden Hungertod bedroht sind. Das sind Äthiopien, Jemen, Südsudan und – in den Medien kaum beachtet – Nigeria. Hinzu kommen die „Besorgnis erregenden“ Länder Afghanistan, Demokratische Republik Kongo, Haiti, Honduras, Sudan, Syrien und die Zentralafrikanische Republik. Viele dieser Länder sind von einer WFP-Unterstützung abhängig. Aber die Lieferungen des WFP müssen auf dem Weltmarkt eingekauft werden. Das sind in der Tat düstere Aussichten. Wenn hohe Lebensmittelpreise auf Haushalte mit geringer Kaufkraft treffen, hat das auch bei Menschen, die nicht von einer akuten Hungerkrise bedroht sind, negative Konsequenzen – selbst in Deutschland. Um das Essen zu finanzieren, wird dann bei Ausgaben für Heizung, Bildung und Gesundheit gespart. Die Dringlichkeit, den Ukraine-Krieg zu beenden, besteht also nicht nur mit Blick auf die unmittelbar betroffene Bevölkerung in diesem Land, sondern auch aufgrund der schwerwiegenden Auswirkungen auf Millionen von Menschen, die Tausende Kilometer entfernt vom Krisenherd leben. Diplomatie ist die einzige Lösung. Anmerkungen [1] „Yara curtails production due to increased natural gas prices“, Pressemitteilung vom 9.3.2022, www.yara.com. [2] FAO: The importance of Ukraine and the Russian Federation for global agricultural markets and the risks associated with the current conflict, verfügbar unter: www.reliefweb.int. [3] FAO Food Price Index (04/03/2022), www.fao.org. [4] Klaus Pedersen: Food Riots sind keine „chaotischen Gewaltausbrüche“, IMI-Analyse 2010/006, AUSDRUCK (Februar 2010), www.imi-online.de. [5] „Lebensmittel werden noch teurer – bei Aldi schon ab Montag“, Meldung im Deutschlandfunk vom 4.3.2022, www.deutschlandfunk.de. [6] Stefan Lukas / Marius Paradies: Düstere Aussichten für den Nahen Osten: Russlands Angriffskrieg und seine Folgen für die regionale Ernährungssicherheit, BAKS-Arbeitspapier 2/22, www.baks.bund.de. [7] FAO/WFP: Hunger Hotspots February to May 2022 Outlook, docs.wfp.org. IMI-List - Der Infoverteiler der Informationsstelle Militarisierung Hechingerstr. 203 72072 Tübingen imi@imi-online.de Sie können die IMI durch Spenden unterstützen oder indem Sie Mitglied werden (http://www.imi-online.de/mitglied-werden/). Spendenkonto: IMI e.V. DE64 6415 0020 0001 6628 32 (IBAN) bei der KSK Tübingen (BIC: SOLADES1TUB)

[IMI-List] [0609] Analyse: Jemen / Neue Texte rund um den Ukraine-Krieg

---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0609 .......... 25. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/ ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich 1.) neue Texte zum Krieg rund um den Ukraine-Krieg; 2.) IMI-Analyse: „Und wer spricht noch von Jemen?“. 1.) Analysen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg Der Krieg in der Ukraine dominiert natürlich auch bei uns derzeit alles. Neben vielen Veranstaltungen und auch Kundgebungen mit IMI-Beteiligung sind seit der letzten IMI-List auch schon wieder eine Reihe neuer Texte dazu erschienen. Besonders hinweisen möchten wir auf die aktuelle Ausgabe unseres Podcastes, der sich aus unterschiedlichen Blickwinkeln mit der Thematik befasst. Weiter sind erschienen eine Analyse über die beschlossene Verdopplung der NATO-Präsenz in Osteuropa und der geplanten massiven Aufstockung der Truppenzahl. Eine erste Auswertung des „Strategischen Kompasses“ liegt nun auch vor, ein neues Grundlagendokument, mit dem die EU sich für die „Rückkehr der Machtpolitik“ rüsten will. Außerdem veröffentlicht wurde auch noch ein Kommentar zur derzeitigen Aufrüstungsdebatte. Alle Artikel rund um den Krieg in der Ukraine finden sich weiter auf unserer Sonderseite: https://www.imi-online.de/2022/03/18/sonderseite-ukraine-krieg-2/ IMI-Analyse 2022/20 Gastgeber wider Willen? NATO setzt vier neue Battlegroups durch https://www.imi-online.de/2022/03/31/gastgeber-wider-willen/ Martin Kirsch (31. März 2022) IMI-Mitteilung Antimilitaristischer Podcast zum Krieg in der Ukraine (Ausgabe 24) https://www.imi-online.de/2022/03/29/antimilitaristischer-podcast-zum-krieg-in-der-ukraine-ausgabe-24/ (29. März 2022) IMI-Standpunkt 2022/015 – in: Telepolis, 26.3.2022 Strategischer Kompass weist den Weg zur Militärmacht EU Der Krieg in der Ukraine beschleunigt den Prozess hin zu einer Militärunion. Aber was bedeutet das konkret? Eine Analyse https://www.imi-online.de/2022/03/28/strategischer-kompass-weist-den-weg-zur-militaermacht-eu/ Özlem Alev Demirel und Jürgen Wagner (28. März 2022) IMI-Standpunkt 2022/014 Autoritäre Aufrüstungsgelüste Tagesthemen-Kommentator fordert Ende der politischen Kontrolle des Militärs https://www.imi-online.de/2022/03/26/autoritaere-aufruestungsgelueste/ Martin Kirsch (26. März 2022) 2.) IMI-Analyse: „Und wer spricht noch von Jemen?“. Gerade weil, wie oben erwähnt, der Krieg in der Ukraine derzeit so viel Raum einnimmt, drohen andere Konflikte unter den Tisch zu fallen. Deshalb hier der Hinweis auf einen neuen Artikel zu Mali (https://www.imi-online.de/2022/03/25/mali-ein-trotziges-kind/) sowie nachfolgend eine Analyse zum Jemen: IMI-Analyse 2022/19 Und wer spricht noch von Jemen? Inkohärenz einer kriegsverurteilenden Außenpolitik und der Krieg in Jemen https://www.imi-online.de/2022/03/30/und-wer-spricht-noch-von-jemen/ Jacqueline Andres (30. März 2022) Nur wenige Tage vor dem siebten Jahrestag des Beginns des verheerenden Kriegs in Jemen tourte der deutsche Bundeswirtschaftsminister und Vizekanzler Robert Habeck durch die Golfstaaten Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate. Ziel der Reise sei es gewesen, erste Gespräche mit Katar zur Lieferung von Flüssiggas zu führen und die Wasserstoffversorgung durch Kooperation mit den Emiraten voranzutreiben. Wasserstoff soll an einem späteren Zeitpunkt die Nutzung von Flüssiggas ablösen. Beide Vorhaben seien Teil der Bemühungen, angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine die Abhängigkeit der BRD von russischem Gas zu reduzieren, welches im Jahr 2020 noch 65,2% der gesamten Gasimporte nach Deutschland ausmachte. Habeck verteidigte seine Bemühungen in den Golfstaaten mit der Aussage, dass es zwischen einem nicht demokratischen Staat, bei dem die Situation der Menschenrechte problematisch ist, und einem autoritären Staat, der einen aggressiven, völkerrechtswidrigen Krieg vor „unserer“ Tür führe, allerdings einen Unterschied gebe.[1] Robert Habeck blendet damit den verheerenden Krieg in Jemen aus, oder er ist ihm egal, weil er eben nicht vor „seiner“ Türe stattfindet – die VAE sind im blutigen Krieg in Jemen aktive Kriegspartei und Katar war es von 2015 bis 2017 auch. Der Krieg in Jemen verursachte die größte humanitäre Katastrophe weltweit und die Aussichten sind düster, weil die Kampfhandlungen zunehmen und die internationale Gemeinschaft – Habeck und die Bundesregierung eingeschlossen – keinen Druck zur Beendigung des Krieges aufbaut, sondern ganz im Gegenteil die Zusammenarbeit mit den Golfstaaten intensiviert und damit die Monarchen, ihren Krieg und den Tod der Menschen in Jemen legitimiert. Krieg in Jemen – aktueller Stand der Kampfhandlungen … Im Laufe der letzten sieben Jahre führte die von Saudi-Arabien angeführte Militärkoalition mehr als 24.876[2] Luftschläge durch. Die Kampfhandlungen nahmen in den ersten Monaten des Jahres 2022 zu. Erst am Freitag, den 25. März 2022, setzten die Ansar Allah, inoffiziell auch als Houthis bezeichnet, durch einen Raketenangriff einen Ölspeicher des saudischen Ölkonzerns Aramco in Jeddah in Brand. In unmittelbarer Nähe des brennenden Speichers liegt die Formel 1 Rennstrecke, wo zum gleichen Zeitpunkt Trainings für das Rennen am vergangenen Sonntag stattfanden. Ein Rennfahrer fragte sein Team via Funk, ob es sein Auto sei, das verbrannt rieche. Für weitaus weniger Berichterstattung sorgten die nur wenige Stunden später – weitab von internationalen Großevents – erfolgten Vergeltungsschläge der Militärkoalition auf zivile Infrastruktur in Jemen. Nach Angaben der Ansar Allah trafen die Luftangriffe der von Saudi Arabien angeführten Koalition ein Kraftwerk, eine Treibstoffversorgungsstation und das staatliche Sozialversicherungsbüro in der Hauptstadt Sanaa. Bei den Angriffen starben acht Menschen. Auch Öleinrichtungen in der Hafenstadt Hodeida, in der 70% der kommerziellen und humanitären Importe des Landes abgewickelt werden, wurden zum Ziel der Angriffe.[3] Die Kampfhandlungen intensivieren sich wieder und können mit denen des Jahres 2018 verglichen werden: Laut Angaben der Vereinten Nationen führte die von Saudi Arabien angeführte Militärkoalition im Jahr 2021 monatlich im Schnitt 600 Luftangriffe aus – Ansar Allah verübten im gleichen Zeitraum 340 Raketen- und Drohnenangriffe auf Saudi-Arabien. Allein in den ersten vier Wochen dieses Jahres stiegen Zahl und Ausmaß der Angriffe stark an – die Koalition führte mehr als 1.400 Luftangriffe aus und Ansar Allah 39 Angriffe in Saudi-Arbien und neuerdings auch auf die VAE.[4] Die Luftwaffe der VAE griff daraufhin Ziele in Jemen an und es bleibt fraglich, ob die VAE zukünftig wieder eine größere Rolle in den Kampfhandlungen spielen werden, nachdem sie im Jahr 2019 einen Großteil der eigenen Truppen aus dem Jemen abgezogen hatten und sich u.a. auf die Unterstützung von Proxies im Land konzentrierten.[5] Unklar ist auch, welche Rolle Katar in den kommenden Monaten einnehmen wird. Die Beziehungen zu Saudi Arabien und den VAE verbessern sich, darauf deutet u.a. die Verhaftung des jemenitischen Journalisten Saleh Al Jarmouzi in Doha vor wenigen Wochen hin, nachdem dieser die militärischen Aktivitäten der von Saudi Arabien angeführten Militärkoalition in Jemen kritisierte.[6] Unter anderem kritisierte er die drei Luftangriffe auf ein Gefängnis in der nordjemenitischen Stadt Sa‘ada, durch die am 21. Januar 2022 mehr als 90 Menschen starben und mehr als 200 verletzt wurden. Die Militärkoalition verwendete dabei eine Bombe des US-amerikanischen Rüstungskonzerns Raytheon. Es wird davon ausgegangen, dass zu dem Zeitpunkt rund 1.300 Menschen in Untersuchungshaft und etwa 700 Migrant*innen dort inhaftiert waren.[7] Wenige Tage zuvor, am 17. Januar 2022, hatten Ansar Allah Öleinrichtungen beim Flughafen von Abu Dhabi angegriffen und dabei drei Menschen getötet. Während der UN-Sicherheitsrat wenige Tage später einstimmig den Angriff der Ansar Allah verurteilten, bezogen sie keine gemeinsame Stellung zur Bombardierung des Gefängnisses durch die Militärkoalition. Bislang hat die Militärkoalition immer wieder zivile Infrastruktur angegriffen: Schulen, Krankenhäuser, Märkte, Hochzeiten, Beerdigungen und Fabriken. Die Ansar Allah zielt bei ihren Drohnen- und Raketenangriffen hingegen immer wieder auf Öleinrichtungen und hat Landminen in Jemen gelegt. Der Krieg kostet viele Menschenleben: Im Jahr 2021 starben nach Angaben des Armed Conflict Location & Event Data Project mehr als 17.800 Menschen in Kampfhandlungen.[8] Nach Angaben von UNICEF wurden seit 2015 mehr als 10.200 Kinder durch die Kriegshandlungen in Jemen getötet oder verletzt – alleine 47 in den ersten zwei Monaten diesen Jahres.[9] Insgesamt starben laut eines Berichts des UNDP seit Kriegsbeginn im März 2015 etwa 380.000 Menschen an den direkten und indirekten Folgen des desaströsen Krieges – Schätzungen nach könnte die Zahl der Kriegstoten bis 2030 auf 1,3 Millionen ansteigen. Diese Berechnungen stammen jedoch aus dem vergangenen Dezember, d. h. vor der aktuellen Eskalation und vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine, der sich auch auf den Jemen auswirkt.[10] …und die humanitäre Katastrophe In Jemen herrscht seit Jahren die schlimmste humanitäre Krise der Welt – und immer, wenn der Tiefpunkt erreicht scheint, bricht die nächste Katastrophe über den Jemen herein. Auf den Kriegsausbruch am 26. März 2015 folgte eine bis heute anhaltende, durch die Koalition auferlegte See-, Land- und Luftblockade, durch die Hunger in Jemen ausbrach und die Wirtschaft einbrach. Ein Jahr später brach Cholera aus und die zerstörte Wasserinfrastruktur und der klimabedingte Wassermangel verschlimmerten die Lage. Im Jahr 2020 kam die Pandemie hinzu, die von den Überresten der bis dahin durch den Krieg wiederholt angegriffenen Gesundheitseinrichtungen schlecht aufgefangen werden konnte. Im Jahr 2022 sind diese zu 50% zerstört. Nun herrscht in der Ukraine Krieg und der Weizenpreis in Jemen, der 30% der Weizenimporte aus der Ukraine bezieht, stieg von ursprünglichen umgerechnet 20€ pro 50 kg auf 28€ an.[11] Abdulrahman Abadeli, der in einem provisorischen Geflüchtetenlager in Mokka lebt, zeigt sich besorgt: „Dieser Krieg in der Ukraine hat uns dazu gebracht, über die Zukunft nachzudenken und anstatt Gott zu bitten, den Krieg im Jemen zu beenden, bitte ich Gott auch, den Krieg in der Ukraine zu beenden, damit wenigstens Lebensmittel in den Jemen kommen können.“[12] Seit Jahren warnen Hilfsorganisationen, dass das humanitäre Desaster in Jemen zu einer Hungerkatastrophe auswächst – nie sah es schlimmer aus als jetzt und die Prognosen sind düster. Laut dem Bericht des Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen zu Jemen vom Februar 2022 sind aktuell 17,4 Millionen Menschen – also 54 % der Bevölkerung – auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Diese Zahl kann bis Dezember 2022 auf 19 Millionen anwachsen. Rund 31.000 Menschen leiden an Hunger katastrophalen Ausmaßes – bis Dezember könnte dieses harte Schicksal 161.000 Menschen betreffen.[13] Doch kaum ein Blick richtet sich noch auf Jemen. Die von den UN, Schweden und der Schweiz organisierte Geberkonferenz in Genf lief schlecht: Von den benötigten 4,27 Milliarden $ konnte nur ein Drittel erzielt werden. Auch die vorangegangene Geberkonferenz 2021 enttäuschte: Nur 1,7 Milliarden von erhofften 3,85 Milliarden US$ wurden zugesagt.[14] Blicken wir auf die aktuell ins Unermessliche steigenden Militärausgaben zahlreicher Staaten, ist dieses klaffende Finanzierungsloch zur Bekämpfung einer augenscheinlich anrollenden Hungerkatastrophe beschämend. Was es für den Frieden braucht Die Wissenschaftlerin Helen Lackner, die selbst lange in Jemen lebte und forschte, betonte in einem Interview, dass eine Einigung zwischen den Ansar Allah und ihren Gegnern möglich sei – vorausgesetzt, die Resolution 2216 des UN-Sicherheitsrats aus dem Jahr 2015, auf die sich die Verhandlungen bis jetzt beziehen, würde geändert, denn diese fordere die vollständige Kapitulation der Ansar Allah. Seit dem ersten Kriegsjahr weiteten die Ansar Allah ihr Einflussgebiet aus und kontrollieren mittlerweile 70% der Bevölkerung. Eine Forderung nach Kapitulation ist nicht realistisch. Gleichzeitig erklärt Lackner, dass ein Friedensabkommen zumindest zu einem Ende der Kampfhandlungen zwischen den Ansar Allah und der Militärkoalition führen könnte, die weiteren Problemen blieben weiter bestehen und der Wiederaufbau würde höchstwahrscheinlich auf einer neoliberalen Logik basieren, die nicht förderlich ist für den sozialen Frieden.[15] Doch keine Seite wird einen militärischen Sieg erringen, beide verlieren durch die andauernden Kampfhandlungen – und am meisten verliert die Bevölkerung. Ein weiterer wichtiger Schritt besteht im Ende von Waffenlieferungen an die Kriegsparteien. Zwar beschloss die letzte Bundesregierung nach der Ermordung des Journalisten Khashoggi in der saudischen Botschaft in Istanbul einen löchrigen Exportstopp an die am Jemenkrieg beteiligten Staaten (dies wären Ägypten, Bahrein, Jordanien, Kuwait, Saudi Arabien und die VAE), doch die Lieferungen gingen weiter.[16] Erst im Jahr 2020 wurden Rüstungsausfuhren an Ägypten im Wert von 752 Millionen Euro erlaubt sowie in die Vereinigten Arabischen Emirate (51,3 Millionen Euro), nach Kuwait (23,4 Millionen Euro), nach Jordanien (1,7 Millionen Euro) und Bahrain (1,5 Millionen Euro) .[17] Die letzte Bundesregierung zeigte sich in den letzten neun Tagen ihrer Amtszeit besonders großzügig und genehmigte einen Großteil aller 2021 erstellten Lizenzen, als nichts mehr zu verlieren war und sie eigentlich keine politisch relevanten Entscheidungen mehr treffen sollte. Dazu zählen zwei umstrittene Ausfuhrlizenzen für Fregatten und Luftabwehrsysteme an Ägypten, obwohl dieser Staat in die Kriege in Jemen und in Libyen verwickelt ist.[18] Die Waffenlieferungen aus weiteren westlichen Staaten, wie UK, Frankreich, Spanien und Italien laufen ebenfalls weiter. Obwohl Präsident Biden bei Amtsantritt versprach, sich für ein Ende des Krieges und der Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet einzusetzen, befeuerte er ihn Ende 2021 mit der Genehmigung für den Verkauf von Raketen in Höhe von etwa 650 Millionen US$.[19] Anfang dieses Jahres, nach den Angriffen auf Ziele in den VAE, schickten die USA zur Unterstützung das Kriegsschiff USS Cole und mehrere Kampfjets – die militärische Zusammenarbeit wächst – das ist kein Schritt zur Deeskalation.[20] Die staatlichen Amtsträger*innen schauen nicht mehr auf den Jemen, aber die Kriegsgegner*innen fordern ein Stopp der Rüstungsexporte und eine Politik der Deeskalation und der Abrüstung. Am siebten Jahrestag des Krieges fanden zwar nur Demonstrationen in Kanada und Irland statt, aber die italienische Basisgewerkschaft USB und die Hafenarbeiter*innen in Genua bereiten sich auf den nächsten Streik am 31. März 2022 vor, wenn der saudische Frachter der Transportschifflinie Bahri einläuft. Wiederholt nutzte das saudische Königreich diese Transportschifflinie für den Waffenhandel, den die Hafenarbeiter*innen ebenfalls wiederholt erfolgreich gestört und verhindert haben.[21] Aktiv stellen sie sich gegen die Waffenlieferungen in Kriegsgebiete weltweit – kohärent blieben sie bei ihrer antimilitaristischen Haltung, denn die Verlier*innen aller Kriege seien am Ende immer wie sie die Arbeiter*innen. Das ist es wohl auch, was es für den Frieden braucht: Eine mangelnde Bereitschaft durch Waffenherstellung und -lieferungen zu Kompliz*innen der Kriege in Jemen, in Syrien, in Äthiopien oder auch in der Ukraine zu werden: Ein Aufbegehren gegen die allgemeine Aufrüstungseuphorie und ein Aufzeigen der verwendeten zivilen Logistikinfrastruktur und der profitierenden Unternehmen. Im Sommer finden antimilitaristische Aktionstage vom 30. August bis 4. September während der Documenta in Kassel statt – auch hier bietet sich eine gute Gelegenheit, um die Verantwortung des auch in Kassel sitzenden Rüstungskonzerns im Jemenkrieg aufzuzeigen – denn die Militärkoalition bombardiert Jemen auch mit Bomben von Rheinmetall. Anmerkungen [1] Robert Habecks Mission am Golf – Die heikle Suche nach neuen Energiequellen, zdf.de, 19.3.2022 [2] https://yemendataproject.org/ [3] Ahmed al Haj und Samy Magdy:Saudi airstrikes hit Yemen’s Houthis after Jiddah attack, apnews.com, 26.3.2022 [4] UN warns of escalation of conflict in Yemen and its effects on civilians after Saudi bombing of a detention center, cfjustice.org, 30.1.2022 [5] Georg Mader: Brisant: Raketen aus dem Jemen auf Abu Dhabi, militaeraktuell.at, 10.2.2022 [6] Why Did Qatar Arrest Yemeni Activist Critical of Saudi-Led Coalition?, albawaba.com, 8.2.2022 [7] Yemen: Call for independent probe into deadly prison airstrikes, news.un.org, 28.1.2022 [8] Dozens of children killed, maimed in Yemen in two months: UNICEF, aljazeera.com, 12.3.2022 [9] Ebd. [10] Hanna, T.L., Bohl, D.K. and Moyer, J.D. (2021). “Assessing the Impact of War in Yemen: Pathways for Recovery.” Frederick S. Pardee Center for International Futures. Josef Korbel School of International Studies. Denver: Report for UNDP. [11] United Nations to Hold Pledge Conference to Support Yemen Humanitarian Efforts, voanews.com, 16.3.2022 [12] Russia-Ukraine war: Conflict leaves displaced Yemenis fighting for survival, middleeasteye.net, 26.3.2022 [13] WFP Yemen Situation Report #02, February 2022, reliefweb.int, 22.3.2022; Brutal War on Yemen: Dire Hunger Crisis Teetering on the Edge of Catastrophe, reliefweb.int, 19.3.2022 [14] UN aid drive to avert Yemen catastrophe falls far short, aljazeera.com, 16.3.2022 [15] Yemen Could Have Peace — If the Saudis Stop Demanding Victory, jacobinmag.com, 24.1.2022 [16] Lisa Klie: Deutsche Waffen töten im Jemen-Krieg, Was sagt die Bundesregierung?, IMI-Analyse 2019/11, imi-online.de, 28.3.2019 [17] Rüstungsexporte in Milliardenhöhe Deutsche Waffen für Krisenregion, tagesschau.de, 3.1.2021 [18] Kurz vor Amtsende: Alte Regierung genehmigte heikle Rüstungsexporte, tagesschau.de, 16.12.2021 [19] Jemen: US-Waffenlieferung, IMI-Aktuell 2021/709, imi-online.de, 29.11.2021 [20] Georg Mader: Brisant: Raketen aus dem Jemen auf Abu Dhabi, militaeraktuell.at, 10.2.2022 [21] Dai lavoratori voci contro la guerra, weaponwatch.net, 21.3.2022 IMI-List - Der Infoverteiler der Informationsstelle Militarisierung Hechingerstr. 203 72072 Tübingen imi@imi-online.de Sie können die IMI durch Spenden unterstützen oder indem Sie Mitglied werden (http://www.imi-online.de/mitglied-werden/). Spendenkonto: IMI e.V. DE64 6415 0020 0001 6628 32 (IBAN) bei der KSK Tübingen (BIC: SOLADES1TUB)

[IMI-List] [0608] Neue Texte rund um den Ukraine-Krieg / Analyse: Migration und Militarisierung

---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0608 .......... 25. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/ ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, in dieser IMI-List finden sich 1.) eine Reihe neuer Texte im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg; 2.) eine IMI-Analyse: „Migration und Militarisierung“ 1.) Analysen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg In den letzten Tagen entstanden eine Reihe neuer Texte im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg und den jüngsten Aufrüstungsankündigungen der Bundesregierung entstanden. Eine ausführliche Analyse erschien soeben zum Kabinettsbeschluss am Mittwoch, in dem die Haushaltsplanung bis 2026 und die Verwendung des 100 Mrd. Euro Sondervermögens der Bundeswehr genauer geregelt wurde. Heute online ging auch eine Auswertung der neuen NATO-Präsenz in Slowenien, für die Deutschland die meisten SoldatInnen stellt und mit der auch neue Waffendeals einhergehen. Außerdem sind seit der letzten Mail ein Kommentar über die Ungereimtheiten der Aufrüstungsdebatte, zur Entsendung von Jugendoffizieren in die Schulen und zur Entscheidung über die Tornado-Nachfolge erschienen. Alle alten und neuen Texte zum Ukraine.-Krieg finden sich auch auf unserer Sonderseite: https://www.imi-online.de/2022/03/18/sonderseite-ukraine-krieg/ IMI-Analyse 2022/10 Geldregen für die Bundeswehr Kabinett beschließt Eckwerte bis 2026 und 100 Mrd. Sondervermögen für die Bundeswehr https://www.imi-online.de/2022/03/18/geldregen-fuer-die-bundeswehr/ Jürgen Wagner (18. März 2022) IMI-Analyse 2022/09 Aufrüstung der Slowakei NATO-Präsenz und Rüstungsdeals https://www.imi-online.de/2022/03/18/aufruestung-der-slowakei/ Martin Kirsch (18. März 2022) IMI-Standpunkt 2022/012 Merkwürdigkeiten der Aufrüstungsdebatte https://www.imi-online.de/2022/03/16/merkwuerdigkeiten-der-aufruestungsdebatte/ Christoph Marischka (16. März 2022) IMI-Analyse 2022/08 Tornado-Nachfolge – Teure Maximallösung bedient alle Interessen https://www.imi-online.de/2022/03/16/tornado-nachfolge-teure-maximalloesung-bedient-alle-interessen/ Jürgen Wagner (16. März 2022) IMI-Standpunkt 2022/011 Jugendoffizier*innen erklären den Krieg https://www.imi-online.de/2022/03/14/jugendoffizierinnen-erklaeren-den-krieg/ Jan Sander (14. März 2022) 2.) IMI-Analyse: Migration und Militarisierung IMI-Analyse 2022/07 - in: CILIP 128, 6. März 2022 Migration und Militarisierung Die EU produziert eine Ökonomie der Angst https://www.imi-online.de/2022/03/11/migration-und-militarisierung/ Jacqueline Andres (11. März 2022) Die einst als Zivilmacht betitelte EU transformiert sich in eine Sicherheitsunion. Die dort angenommenen Bedrohungen sind ein Motor für Forschung und Entwicklung. Auch für die illegalisierte Migration präsentiert sich die Sicherheitsindustrie als Lösungsanbieterin für politische, soziale und ökologische Probleme, die sie mitverursacht. In der Region von Calais stürmten am 1. Januar 2022 Polizist*innen mit Schlagstöcken, Helmen und Schutzschildern auf Geflüchtete zu, rissen ihre Zelte nieder und setzten Tränengas gegen sie ein. Den Angegriffenen blieb keine Zeit, ihr Hab und Gut zu retten. Die Räumung schloss sich an rund 150 weitere an, die allein zwischen den Weihnachtsfeiertagen und Neujahr in der Region durchgeführt wurden.1 Diesen gewalttätigen Ein­sätzen liegt eine Versicherheitlichung von Migration zugrunde, die entmenschlicht, leicht ausbeutbare Arbeitskräfte schafft und das Sterben von Menschen normalisiert. Noch deutlicher tritt die EUropäische Stilisierung von people on the move zur Bedrohung an der polnischen Grenze zu Belarus zum Vorschein. Polnische Regierungsvertreter*innen sprechen von Menschen, die als „Waffen“ zur Destabilisierung der Grenze eingesetzt werden2 – der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, und die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, nutzen die gleiche Analogie und werten die Lage als „hybriden Angriff“.3 Technologisierte Grenzüberwachungsinstrumente So nimmt es nicht wunder, wenn die zur „Bedrohung“ stilisierten Migrant*innen tatsächlich mit Militärtechnik kontrolliert und bekämpft werden. Viele Rüstungskonzerne verkaufen diese als „Dual Use-Technologien“ für die Grenzüberwachung. Sie lassen sich grob unterteilen in Schutzausrüstung der Einsatzkräfte (Bewaffnung und gepanzerte Fahrzeuge); Sensorik und Optronik (Wärmebildkameras, Nachtsichtgeräte und Sensoren); Aufklärungstechnologien (Drohnen, Satelliten, Radargeräte) und Datenanalysewerkzeuge bzw. Analytik (u. a. biometrische und KI-Anwendungen). Die EU-Grenzagentur Frontex verfügt mit der neuen „Ständigen Reserve“ in der „Kategorie 1“ über 3.000 bewaffnete Beamt*innen. Zu deren geplanten Ausrüstung lud Frontex die Unternehmen Heckler&Koch, SigSauer, Glock und Grand Power 2019 zu einem „Industriedialog zu Waffen, Munition und Holster“ ein.4 Wegen rechtlicher Schwierigkeiten verzögerte sich die Beschaffung der Waffen für die „Kategorie 1“; den Auftrag erhielten erst im Herbst 2021 die Firmen Glock aus Österreich für die Pistolen sowie Mildat und Parasnake Arkadiusz Szewczyk aus Polen für die Lieferung von 3,6 Millionen Schuss Munition. Zwar freute sich Frontex Anfang Dezember 2021 über einen „historischen Schritt für die ständige Reserve und die Europäische Union“, als die Agentur zum ersten Mal bewaffnete Beamt*innen der „Kategorie 1“ an der litauisch-belarussischen Grenze stationierte, bewaffnet werden diese aber zunächst vom Gaststaat Litauen.5 An ihren Grenzen setzen EU-Mitgliedstaaten auch gepanzerte Fahrzeuge ein. So schickte Österreich z. B. im Frühjahr 2020 einen Polizeipanzer des Typs SurviorR II, ein MAN-Geländewagen von Achleitner aus Österreich, der von Rheinmetall umgerüstet und vertrieben wird, nach Griechenland.6 Die griechische Polizei verkündete 2021, eine auf einem Polizeipanzer montierte Schallkanone an der Grenze zur Türkei einsetzen zu wollen. Dabei handelt es sich um ein Long Range Acoustic Device (LRAD) des Typs 450XL des US-amerikanischen Unternehmens Genasys. Die Technik stammt aus einem Auftrag aus den Nullerjahren vom US-Verteidigungsministerium. Die Firma sollte ein auf Schallwellen basierendes Gerät zur Kommunikation zwischen Schiffen und zur Abwehr potenzieller Angreifer*innen entwickeln. US-amerikanische oder beispielsweise thailändische Polizeibehörden setzen diese Schallkanonen seitdem bei Protesten ein, obwohl deren immense Lautstärke u. a. einen Hörverlust verursachen kann. Im maritimen Bereich wird das Gerät u. a. von der EU-Mission Atalanta LRAD‘s zur „Pirateriebekämpfung“ vor der Küste Somalias genutzt.7 Auch bei der Aufklärungstechnik lässt sich die Nutzung von ursprünglich für das Militär entwickelten Technologien zur Grenzüberwachung feststellen. Frontex hat seit 2015 Zugriff auf Daten des EUropäischen Satellitenprogramms Copernicus, und erstellt mit den Satellitenbildern im Rahmen des European Surveillance Systems (EUROSUR) ein Lagebild der Grenzen in nahezu Echtzeit.8 Im zentralen Mittelmeer setzt Frontex eine von Israeli Aerospace Industries hergestellte Langstreckendrohne des Typs Heron 1 ein.9 Das israelische Militär nutzt das Luftfahrzeug seit den Nullerjahren in Gaza, etwa im Rahmen der Operation „Gegossenes Blei“ ab 2008.10 Auch die Bundeswehr flog die Heron 1 seit 2010 in Afghanistan, seit 2016 auch in Mali. Zur Luftaufklärung nutzt Frontex außerdem an einem Versorgungskabel „gefesselte“ Zeppeline. 2019 testete die Agentur einen solchen Aerostat auf der griechischen Insel Samos, derzeit steigen sie am Evros-Grenzfluss zur Türkei in die Luft. Hauptauftragnehmer sind die deutsche in-innovative navigation GmbH und die französische CNIM Air Space.11 Ausgerüstet sind die Aerostaten mit dem elektro-optischem Infrarot-System ARGOS-II HD der deutschen Firma Hensoldt.12 Das Modul exportiert Hensoldt auch in die Türkei, dort ist es in die Kampfdrohne Bayraktar TB2 eingerüstet, mit der das türkische Militär seit 2016 Angriffe auf Kurd*innen in Nordsyrien und Nordirak fliegt.13 Die von elektro-optischen, radarbasierten oder akustischen Sensoren gesammelten Daten werden zusammen mit anderen Datenquellen von Anwendungen ausgewertet, die auf Künstlicher Intelligenz (KI) basieren. Unter anderem basieren Gesichtserkennungssysteme, wie sie Spanien an den Grenzen von Ceuta und Melilla14 und Griechenland in Flüchtlingslagern einsetzen wollen, auf KI.15 Akteure der EUropäischen Sicherheitsindustrie Zwar werden Millionenbeträge in die Erforschung, Entwicklung und Produktion der beschriebenen Technologien gesteckt, doch können sie das Versprechen der „Bekämpfung“ von Migration oftmals nicht halten. Gewinner*innen gibt es trotzdem: die EUropäische Sicherheitsindustrie, die ihre Produkte zusehends für die innere Sicherheit und Grenzüberwachung vermarktet. Deren Verwendung durch Frontex sowie Grenztruppen der EU-Mitgliedstaaten wird gefordert und gefördert durch Akteur*innen, die vor allem aus großen Luftfahrt-, Raumfahrt- und Rüstungsunternehmen stammen. In den frühen Nullerjahren und nach der „Finanzkrise“ ab 2007 gingen die Rüstungsausgaben der EU deutlich zurück. Der zur gleichen Zeit aufkommende Markt für „Homeland Security“ in der EU kann deshalb als Neuerfindung der Rüstungsindustrie gesehen werden.16 Diese Entwicklung wird begleitet durch Forschungsorganisationen (z. B. Universitäten oder Fraunhofer Institute), Beratungsunternehmen (z. B. Deloitte), Regierungs-ministerien und EU-Institutionen. Weitere wichtige Akteur*innen sind Lobbyorganisationen, die Phänomene wie Migration als Sicherheitsproblem definieren und für dessen Bekämpfung mit für das Militär entwickelten Technologien werben.17 Aus der Rüstungslobbygruppe Aerospace and Defence Industries Association of Europe heraus gründete sich 2007 der Lobbyverband European Organisation for Security (EOS), der sowohl zivile als auch militärisch nutzbare Sicherheitslösungen anbietet.18 Erforschung („Innovation“) und Entwicklung der Technologien erfordern hohe staatliche Ausgaben, die die Lobbyorganisationen von den EU-Mitgliedsstaaten oder aus EU-Mitteln einwerben. Auf diesem Feld konkurrieren die großen Rüstungsunternehmen Airbus, Leonardo, Indra und Thales und damit auch die dahinterstehenden Regierungen aus Deutschland, Italien, Spanien und Frankreich. Horizont Europa Ein solcher EU-Topf ist das Forschungsrahmenprogramm, das 2021 als Horizont Europa zum neunten Mal anlief. Von 2021 bis 2027 fördert die EU Forschungs- und Innovationsprojekte zur Stärkung der globalen „Wettbewerbsfähigkeit“ mit 95,5 Milliarden Euro. Das Programm besteht aus drei Pfeilern: Wissenschaftsexzellenz (25 Milliarden Euro), Globale Herausforderungen und industrielle Wettbewerbsfähigkeit Europas (53,5 Milliarden Euro) und Innovatives Europa (13,6 Milliarden Euro). Weitere Unterteilungen erfolgen innerhalb der Pfeiler, so gehört der Cluster „Zivile Sicherheit für die Gesellschaft“ (1,6 Milliarden) zum zweiten Pfeiler und gliedert sich wiederum auf in Schutz der EU und ihrer Bürger*innen vor Kriminalität und Terrorismus (87 Millionen Euro), Management der EU-Außengrenzen (55,5 Millionen Euro), Schutz wichtiger Infrastrukturen (31 Millionen Euro), Cybersicherheit (134,8 Millionen Euro), Resilienz im Krisen- und Katastrophenfall (72 Millionen Euro) und die vermehrte Nutzung von Forschungsergebnissen durch Anwender*innen (25,5 Millionen Euro).19 Im Bereich des Grenzmanagements fächern sich die Ausschreibungen in fünf Kategorien. Die erste betrifft Projekte, die zur großflächigen und autonomen Überwachung aus der Stratosphäre beitragen. Sie sollen kompatibel mit bestehenden und künftigen Grenz- und Seeüberwachungssysteme in der EU sein, einschließlich EUROSUR. Gefördert wird Forschung zu „UAVs, Ballons, Luftschiffen, Höhenplattformen (HAPs), Lighter-Than-Air (LTA)-Lösungen, Mikrosatelliten, Satellitenbilder“.20 Die zweite Kategorie zielt auf eine sicherere und verbesserte Einsatzfähigkeit von Grenz- und Küstenwachen und des Zolls. Projekte sollen sich an dem Bedarf von Frontex orientieren und die Grenzagentur bei der Entwicklung einbeziehen. Geforscht werden kann „an Sicherheitslösungen und Schutzausrüstungen für das eingesetzte Personal, fortgeschrittenen Kommunikationssystemen und fortgeschrittenen Human Interface Geräten und Sensoren“.21 Die dritte Kategorie soll verbesserte Grenzkontrollen zur Erleichterung des Reiseverkehrs, der Reisenden und der Grenz- und Küstenwachen ermöglichen. Der Fokus liegt hier auf der Erforschung von stationären und mobilen und leicht transportablen Technologien zur Überprüfung von Pässen, biometrischen Daten und Dokumenten in z. B. Zügen, auf Straßen oder auch Schiffen.22 Die vierte Kategorie widmet sich der Erkennung verbotener Gegenstände im Postverkehr und die letzte Kategorie der verbesserten Erkennung von verbotenen Gegenständen am und im Körper von Personen. EU als Sicherheitsunion? Im Kern hat der im Vertrag von Amsterdam verankerte „Raum der Freizügigkeit, der Sicherheit und des Rechts“ bereits die Fundamente einer Argumentation für die „Festung Europa“ geschaffen: Die innere Sicherheit der EU erfordere eine verstärkte Kontrolle der Außengrenzen zum Schutz und Erhalt der „europäischen Lebensweise“. In dieser Zeit spielte das Primat der „Sicherheit“ eine immer größere Rolle auch im militärischen Bereich: 2003 wurde die Europäische Sicherheitsstrategie angenommen und ein Jahr später die Europäische Verteidigungsagentur (EVA) geschaffen, um die Rüstungsplanung, -beschaffung und -forschung voranzutreiben. Ab 2016 strebte die EU an, ein globaler Sicherheitsakteur zu werden. Beeinflusst hat diese Entwicklung der angekündigte EU-Austritt Großbritanniens, das zuvor bei militärischen Bemühungen der EU, wie z. B. der 2003 gegründeten Battle-groups, bremsend wirkte.23 2016 löste die neu geschaffene Globale Strategie die Sicherheitsstrategie aus 2003 ab. Um global geeint militärisch agieren zu können, etabliert sie drei Instrumente, für die die EVA seither verantwortlich ist: die Ständige Strukturierte Zusammenarbeit zur Förderung gemeinsamer Rüstungsprojekte; die Koordinierte Jährliche Überprüfung der Verteidigung zur Erstellung eines jährlichen Berichts über die EUropäische Sicherheits- und Rüstungslandschaft, um die Harmonisierung und Synchronisation voranzutreiben; und den Europäischen Verteidigungsfonds (EVF) zur Finanzierung gemeinsamer Rüstungsforschung und -entwicklung. Seit 2021 ist der EVF aktiv – ausgestattet mit einem Gesamtbudget von stolzen 7,953 Milliarden Euro für den Zeitraum 2021-2027. Der für die Implementierung des Fonds verantwortliche Thierry Breton, EU-Kommissar für Binnenmarkt und Dienstleistungen mit der erweiterten Zuständigkeit für Verteidigung und Raumfahrt (und ehemaliger CEO von Thales und ATOS), erklärt: „Es geht einfach darum, Europa auf dem geostrategischen Schachbrett der Welt zu behaupten.“24 Die Ergebnisse der durch den EVF geförderten Forschung z. B. an autonomen Systemen, Sensoren, Quantentechnologie oder auch Analytik können die beteiligten Unternehmen auch für andere Vorhaben nutzen, diese Produkte landen anschließend auch auf dem Markt für Grenzüberwachung. Die EU-Kommission will den Firmen auch Zugang zu Mitteln aus der zivilen Forschung erleichtern, wo besonders die Bereiche KI und „disruptive Technologien“25 im Mittelpunkt stehen. In ihrem Anfang 2021 vorgelegten Aktionsplan für Synergien zwischen der zivilen, der Verteidigungs- und der Weltraumindustrie fordert die Kommission, dass „die EU-Finanzierung von Forschung und Entwicklung, einschließlich der Bereiche Verteidigung und Raumfahrt, wirtschaftliche und technologische Vorteile für die EU-Bürger mit sich bringt (die ‚Spin-offs‘)“. Umgekehrt heißt es, dass die Nutzung von Forschungsergebnissen der Zivilindustrie und Innovationen, die von der Zivilbevölkerung ausgehen, in Projekten der europäischen Verteidigungszusammenarbeit erleichtert wird (die „Spin-ins“).26 Diese Weichenstellung räumt der Sicherheitsindustrie in der EU eine zukunftsgestaltende Rolle ein, die zu einer weiteren Militarisierung der inneren und äußeren Sicherheitspolitik der EU beitragen wird – eine Rolle, die die sozialen Bewegungen und Organisationen vehementer für sich beanspruchen müssen, um mit der rassistischen und umweltzerstörerischen „Ökonomie der Angst“ zu brechen. Anmerkungen 1 Violence flares during Calais migrant camp eviction, www.infomigrants.net/ en/post/37616/france-violence-flares-during-calais-migrant-camp-eviction 2 Political Crisis initiated by the regime of Alexander Lukashenka. Polish-Belarusian border brief – update by 3 January 2022, Polnische Regierung v. 3.1.2022, www.gov.pl/web/libya/political-crisis-initiated-by-the-regime-of-alexander-lukashenka-polish-belarusian-border-brief-no6-3-january-2022 3 Rede der Präsidentin von der Leyen zur Lage der Union: Die Seele unserer Union stärken v. 15.9.2021 4 Frontex Files – Der militärisch-grenzpolizeiliche Komplex, netzpolitik.org v. 5.2.2021, https://netzpolitik.org/2021/frontex-files-der-militaerisch-grenzpolizeiliche-komplex 5 Frontex and Lithuania agree on service weapons delivered to Frontex standing corps officers, Frontex v. 9.12.2021 6 Nehammer: Europa geeint für den Schutz der EU-Außengrenze, BMI Österreich v. 12.3.2020, https://bmi.gv.at/news.aspx?id=346C5464734B395477594D3D. Auch in Deutschland erfreuen sich diese Fahrzeuge steigender Beliebtheit. Rheinmetall liefert ab 2023 insgesamt 55 Survivor R an die Bundespolizei und Bereitschaftspolizeien, weitere Aufträge sollen folgen. Bislang werden die Polizeipanzer von Spezialkräften einiger Landespolizeien genutzt. Sie können mit weiteren Waffen, darunter auch Schallkanonen, aufgerüstet werden, vgl. Survivor R wird neuer „Sonderwagen 5“, vgl. www.cilip.de/2021/12/11/bundesinnenministerium-kauft-polizeipanzer-survivor-r-von-rheinmetall 7 Seepiraterie – Deutsche Gegenwehr hilft, Deutsche Welle v. 27.3.2013 8 www.copernicus.eu/de/dienste/sicherheit 9 Monroy, M.: Unbemannte Überwachung der Festung Europa, in: Europäische Studien zur Außen- und Friedenspolitik 3/2021, S. 12, https://oezlem-alev-demirel.de/wp-content/uploads/2021/06/Grenzdrohnen-Studie-Monroy.pdf 10 Precisely Wrong, Gaza Civilians Killed by Israeli Drone-Launched Missiles, HRW v. 30.9.2009, www.hrw.org/report/2009/06/30/precisely-wrong/gaza-civilians-killed-israeli-drone-launched-missiles#_ftnref14 11 Monroy a.a.O. (Fn. 9), S. 13. Aerostats von CNIM werden u.a. vom französischen Militär zur Überwachung ihrer Stützpunkte im Sahel genutzt, vgl. CNIM Soars with New Aerial Coastal Surveillance Solutions, Navalnews v. 18.10.2020, www.navalnews.com/event-news/euronaval-2020/2020/10/euronaval-cnim-soars-with-new-aerial-coastal-surveillance-solutions 12 HENSOLDT to support Frontex maritime surveillance project, Hensoldt v. 26.8.2021 13 Deutsche Technik für den türkischen Drohnenkrieg, netzpolitik.org v. 12.10.2021, https://netzpolitik.org/2021/raketen-und-sensoren-deutsche-technik-fuer-den-tuerkischen-drohnenkrieg 14 España prepara un nuevo modelo fronterizo para Ceuta y Melilla, El Pais v. 13.12.2021 15 Greece: New Biometrics Policing Program Undermines Rights, HRW v. 18.1.2022, www.hrw.org/news/2022/01/18/greece-new-biometrics-policing-program-undermines-rights. Polizeibeamt*innen sollen mobil und ortsungebunden biometrischen Daten abnehmen und mit Datenbanken abgleichen können. Finanziert ist das Vorhaben zu 75% durch den EU-Fonds für Innere Sicherheit. 16 Baird, T.: Interest groups and strategic constructivism: businessactors and border security policies in the European Union, Journal of Ethnic and Migration Studies, Vol. 44, No. 1, 2018, DOI: 10.1080/1369183X.2017.1316185, S. 118-136, S. 124 17 ebd., S. 122 18 War starts here, A guided tour about the arms industry lobbying in Brussels, https://corporateeurope.org/sites/default/files/publications/war_starts_here.pdf 19 Quaranta, G.: Horizon Europe Cluster 3: Civil Security for Society, Agenzia per la Promozione della Ricerca Europea, uniroma1.it, 28.5.2021 20 Enhanced security and management of borders, maritime environment, activities and transport, by increased surveillance capability, including high altitude, long endurance aerial support, https://ec.europa.eu/info/funding-tenders/opportunities/portal/screen/ opportunities/topic-details/horizon-cl3-2021-bm-01-01 21 Increased safety, security, performance of the European Border and Coast Guard and of European customs authorities, https://ec.europa.eu/info/funding-tenders/opportunities/portal/screen/opportunities/topic-details/horizon-cl3-2021-bm-01-02 22 Improved border checks for travel facilitation across external borders and improved experiences for both passengers and border authorities’ staff, https://ec.europa.eu/info/funding-tenders/opportunities/portal/screen/opportunities/ topic-details/horizon-cl3-2021-bm-01-03 23 Demirel, Ö.; Wagner, J.: DG Defence. „Ministerium für europäische Verteidigung und Rüstung“, in: IMI-Analyse 2019/39, 19. 12.2019 24 Lasch, C.: Europäische Aufrüstung und Europäischer Verteidigungsfonds – eine erste Bilanz, in: IMI-Studie 2021/9, 2.12.2021 25 Der Begriff meint innovative Technologien, die ein bestehendes Produkt, Verfahren oder Dienstleistung ersetzen oder verdrängen. 26 Communication from the Commission to the European Parlament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Commitee of the Regions, Action Plan on synergies between civil, defence and space industries v. 22.2.2021 IMI-List - Der Infoverteiler der Informationsstelle Militarisierung Hechingerstr. 203 72072 Tübingen imi@imi-online.de Sie können die IMI durch Spenden unterstützen oder indem Sie Mitglied werden (http://www.imi-online.de/mitglied-werden/). Spendenkonto: IMI e.V. DE64 6415 0020 0001 6628 32 (IBAN) bei der KSK Tübingen (BIC: SOLADES1TUB)

[IMI-List] [0607] Cold Response / Manöver / Ukraine-Krieg

---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0607 .......... 25. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/ ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, trotz der überaus brenzligen Situation halten die westlichen Staaten an der Durchführung geplanter Manöver fest. Am 14. März soll das Großmanöver Cold Response in Norwegen starten, zu der wir soeben eine überaus lesenswerte Studie veröffentlicht haben. Traurige Aktualität hat auch insgesamt der gesamte Manöver-Schwerpunkt der März-Ausgabe unseres Magazins, die sich ebenso in dieser IMI-List findet, wie am Ende Hinweise auf neue Texte zum Ukraine-Krieg (NATO-Vorgeschichte & Waffenlieferungen). 1.) Manöver Cold Response IMI-Studie 2022/2 Norwegens kalte Antwort Manöver, Abschreckung und Aufrüstung an der NATO-Nordflanke https://www.imi-online.de/2022/03/07/norwegens-kalte-antwort/ Ben Müller (7. März 2022) Einleitung Ungeachtet der Eskalation und der blutigen Kämpfe in der Ukraine wird ab dem 14. März 2022 der Nordatlantik und das norwegische Festland für drei Wochen zum Austragungsort der Militärübung „Cold Response“. Etwa 35.000 Soldat*innen aus 23 NATO-Staaten[1] sowie den Partnerländern Schweden und Finnland werden erwartet, davon etwa 14.000 aus Landstreitkräften, 13.000 aus der Marine und 8.000 aus Luftverbänden oder anderen Einheiten. Damit handelt es sich um die größte Übung, die Norwegen seit den 1980er Jahren geleitet hat. Die britische Marine schickt ihren neusten Flugzeugträger „Prince of Wales“, und auch mit der Teilnahme des US-Flugzeugträgers „Harry S. Truman“ wird gerechnet. Gesamte Studie hier: https://www.imi-online.de/2022/03/07/norwegens-kalte-antwort/ INHALTSVERZEICHNIS Einleitung Cold Response 2022 Gute Nachbarschaft im Hohen Norden Sorge vor einer russischen Invasion Norwegen als Militärübungsplatz Zusammenarbeit mit den USA Augen und Ohren der NATO im Norden Aufrüstung und Abschreckung Missverständnisse und Sicherheitsbedürfnisse Auswirkungen des Ukraine-Kriegs Exkurs 1: Radarstation Vardø Exkurs 2: Marinebasis Olavsvern Gesamte Studie hier https://www.imi-online.de/2022/03/07/norwegens-kalte-antwort/ 2.) AUSDRUCK (März 2022): Schwerpunkt Manöver Soeben erschienen ist die März-Ausgabe des IMI-Magazins AUSDRUCK mit einem leider brandaktuellen Schwerpunkt zu Manövern und neben weiteren Beiträgen auch ersten Artikeln zum Ukraine-Krieg. Das Magazin kann wie immer gratis hier heruntergeladen werden: https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-Maerz-Web.pdf Mitglieder und Fördernde erhalten das Magazin auf Wunsch auch in Print, wer uns unterstützen möchte: https://www.imi-online.de/mitglied-werden/imi-mitglied-werden/ SCHWERPUNKT: MANÖVER -- Editorial (Martin Kirsch und Jürgen Wagner) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-Editorial.pdf -- Manöver als gefährliche Machtdemonstrationen (Tobias Pflüger) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-TP.pdf -- Wege an die Front: Logistik für Übung und Ernstfall in EU und NATO (Victoria Kropp) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-VK.pdf -- NATO-Kommando in Ulm koordiniert Truppenbewegungen in Europa (Martin Kirsch) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-MK-Ulm.pdf -- NATO-Manöver im Cyberraum: Cyber Coalition, Locked Shields und Crossed Swords (Aaron Lye) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-AL.pdf -- Großmanöver gegen Russland: Das Großmanöver Defender Europe 2022 (Claudia Haydt) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-CH.pdf -- Vom Szenario zur Aufrüstung: Der Feind steht wieder im Osten (Martin Kirsch) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-MK-Szenario.pdf -- Militär, Manöver und der Sprit (Jacqueline Andres) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-JA.pdf -- Manöver und Züge stoppen: Erfahrungen einer Kleingruppe (Jan Hansen) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-JH.pdf -- Westliche Militärpräsenz und Manöver im Indo-Pazifik (Jürgen Wagner) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-JW-FONOPs.pdf MAGAZIN UKRAINE-KRIEG -- Der NATO-Weg in die Eskalation (IMI) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-Tabelle.pdf -- Die Dummheit des Krieges und der Aufrüstung (der NATO) (Christoph Marischka) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-CM.pdf -- Die NATO macht mobil: Deutschland als Aufmarschgebiet (Martin Kirsch) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-MK-Aufmarsch.pdf -- Zeitenwende beim Rüstungshaushalt (Jürgen Wagner) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-JW-Haushalt.pdf -- Auf zur Blockbildung ... mit oder ohne China? (Andreas Seifert) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-CL.pdf ARKTIS -- Schifffahrt in der Arktis: Herausforderungen, Konkurrenz und das Ringen um Einfluss (Ben Müller) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-BM.pdf SAHEL & NORDAFRIKA -- Europas demütigendes Dilemma in Mali: Ultima Ratio (Christoph Marischka) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-CM-Mali.pdf -- Wi(e)der die Kolonialmacht? Wie Frankreich in Westafrika die Kontrolle entgleitet (Pablo Flock) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-PF.pdf -- Schweigen gegenüber dem Schlachten im Sudan (Pablo Flock) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-PF-Sudan.pdf WEITERE ARTIKEL -- Bundeswehr als Krisenmanager im zivilen Katastrophenschutz (Martin Kirsch) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-MK-Impfgeneral.pdf -- Europäische Aufrüstung und Europäischer Verteidigungsfonds: Eine erste Bilanz (Catrin Lasch) https://www.imi-online.de/download/Ausdruck-108-2022-CL.pdf 3) Ukraine-Krieg: Neue Texte Seit der letzten IMI-List sind zwei weitere Texte zum Ukraine-Krieg erschienen: Zur Frage der Waffenlieferungen und der Rolle der NATO. Alle Texte zum Thema finden sich auf unserer Sonderseite: https://www.imi-online.de/2022/03/11/sonderseite-ukraine-krieg/ IMI-Standpunkt 2022/010 (Update: 11.3.2022) Ukraine-Krieg Weshalb Waffenlieferungen ein falscher Weg sind https://www.imi-online.de/2022/03/07/ukraine-krieg/ Jürgen Wagner (7. März 2022) IMI-Analyse 2022/06 Der NATO-Prolog des Ukraine-Krieges Die NATO, Russland und der jahrzehntelange Weg in die Eskalation https://www.imi-online.de/2022/03/03/der-nato-prolog-des-ukraine-krieges/ Jürgen Wagner (3. März 2022) IMI-List - Der Infoverteiler der Informationsstelle Militarisierung Hechingerstr. 203 72072 Tübingen imi@imi-online.de Sie können die IMI durch Spenden unterstützen oder indem Sie Mitglied werden (http://www.imi-online.de/mitglied-werden/). Spendenkonto: IMI e.V. DE64 6415 0020 0001 6628 32 (IBAN) bei der KSK Tübingen (BIC: SOLADES1TUB)

[IMI-List] [0606] Ukraine-Krieg: 100 Mrd. / Sonderseite / China / Truppenbewegungen

---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0606 .......... 25. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/ ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, der Krieg in der Ukraine geht weiter und mit jedem weiteren Tag wird er weitere Opfer fordern – und vermutlich auch an Brutalität zunehmen. Wir versuchen weiterhin auch andere Konfliktgebiete und -felder im Auge zu behalten. Beiträge im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine werden wir künftig auch auf dieser Sonderseite dokumentieren: https://www.imi-online.de/2022/02/28/sonderseite-ukraine-krieg/ Außerdem finden sich in dieser IMI-List 1.) der Hinweis auf eine Darstellung der aktuellen NATO-Truppenbewegungen; 2.) ein Beitrag zur Perspektive Chinas und 3.) eine erste Analyse zum angekündigten 100-Mrd-Euro-Sondervermögen für die Rüstung. 1.) NATO-Truppenbewegungen in Deutschland IMI-Analyse 2022/05 Die NATO macht mobil Deutschland als Aufmarschgebiet https://www.imi-online.de/2022/03/01/die-nato-macht-mobil/ Martin Kirsch (1. März 2022) 2.) Chinesische Perspektive auf den Krieg in der Ukraine IMI-Standpunkt 2022/009 Auf zur Blockbildung … mit oder ohne China? https://www.imi-online.de/2022/03/01/auf-zur-blockbildung-mit-oder-ohne-china/ Andreas Seifert (1. März 2022) 3.) (Mehr als) 100 Mrd. Zusätzlich für die Rüstung IMI-Standpunkt 2022/008 (Update: 1.3.2022) Zeitenwende beim Rüstungshaushalt https://www.imi-online.de/2022/02/28/zeitenwende-beim-ruestungshaushalt/ Jürgen Wagner (28. Februar 2022) Von einer „Zeitenwende“ sprach Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Regierungserklärung zum Ukraine-Krieg am 27. Februar 2022. Und in der Tat übersteigt das, was er darin angekündigt hat, alles, was bis kürzlich auch nur ansatzweise für möglich gehalten worden wäre. Der russische Angriff auf die Ukraine ebnet so auch den Weg für eine beispiellose Militarisierung Deutschlands, die eine Reihe von Bereichen betrifft, besonders aber die Rüstungsausgaben. Chronisch unterfinanziert? Dem angesichts der aktuellen Eskalation häufig und bewusst erweckten Eindruck, die Bundeswehr sei in den letzten Jahren und Jahrzehnten systematisch kaputtgespart worden, muss entschieden entgegengetreten werden. Seit der Eskalation um das Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine stieg das Budget der Bundeswehr von 32,5 Mrd. Euro (2014) auf 46,9 Mrd. (2021) steil an – und das sind nur die offiziellen Zahlen, hinter denen sich noch einmal etliche Milliarden versteckte Militärausgaben verbergen (siehe IMI-Standpunkt 2019/058). Wenn die Truppe nun etwa in Person von Heeresinspekteur Alfons Mais argumentiert, sie stehe „blank“ da, so ist das nicht auf eine mangelnde Finanzierung, sondern auf chronisch verschwenderische Strukturen zurückzuführen. Noch 2014 kritisierte die damalige Staatssekretärin für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung, Katrin Suder: „Waffensysteme kommen um Jahre zu spät, Milliarden teurer als geplant – und dann funktionieren sie oft nicht richtig oder haben Mängel.“ Im ersten Bericht über das Rüstungswesen aus dem Jahr 2015, dessen Aufgabe es ist, die Defizite im Beschaffungswesen offenzulegen, hieß es, die untersuchten Rüstungsgroßprojekte wiesen eine durchschnittliche Verspätung von 51 Monaten auf und lägen insgesamt 12,9 Mrd. Euro über dem ursprünglich geplanten Preis. Trotz aller Beteuerungen mehrerer folgender VerteidigungsministerInnen ist es offenbar nicht gelungen, hier eine „Verbesserung“ (sofern eine effizientere Beschaffung von Waffen als solche bezeichnet werden kann) zu erreichen. Im nunmehr 14. Bericht zu Rüstungsangelegenheiten vom Dezember 2021 ist nachzulesen: „Aktuell beträgt die Verzögerung im Mittel 52 Monate gegenüber der ersten parlamentarischen Befassung und neun Monate gegenüber den aktuellen Verträgen. Die Veranschlagung der betrachteten Projekte im Haushalt 2021/54 […] liegt rund 13,8 Mrd. Euro über der Veranschlagung zu Projektbeginn.“ Vor Kriegsbeginn: Finanz- vs. Verteidigungsministerium Noch unter Kanzlerin Angela Merkel gab die damalige Bundesregierung die ambitionierte Zusage, bis 2023 eine voll ausgestattete schwere Brigade (ca. 5.000 SoldatInnen), bis 2027 eine Division (15.000-20.000 SoldatInnen) und bis 2032 drei Divisionen in die NATO einzuspeisen. Die Ampel übernahm diese äußerst kostspielige Zusage in ihrem Koalitionsvertrag: „Die NATO-Fähigkeitsziele wollen wir in enger Abstimmung mit unseren Partnern erfüllen und entsprechend investieren.“ Noch Anfang Februar 2022 klaffte aber zwischen dem, was das Finanzministerium im Finanzplan bis 2026 für die Bundeswehr vorgesehen hatte und dem, was das Verteidigungsministerium zu benötigen meinte, um die NATO-Fähigkeitsziele umsetzen zu können, eine gewaltige Lücke – eine rund 38 Mrd. Euro große Lücke, um genau zu sein. Während für 2022 noch einmal eine deutliche Erhöhung auf 50,33 Mrd. Euro vorgesehen ist, gingen anschließend die Vorstellungen von Finanz- und Verteidigungsministerium ganz erheblich auseinander, wie die Oldenburger Zeitung am 12. Februar 2022 berichtete: „Danach benötigt die Bundeswehr im Jahr 2023 statt der vom Finanzministerium bislang in der mittelfristigen Planung vorgesehenen 47,3 Milliarden Euro 53,7 Milliarden Euro. Dieses Delta wächst jährlich: 2024 werden statt 47,1 Milliarden Euro 55,4 gebraucht, 2025 57,2 statt 46,7 Milliarden. Und 2026 beträgt der Bedarf statt 46,7 stolze 59,1 Milliarden Euro. Der Fehlbetrag summiert sich insgesamt auf 37,6 Milliarden Euro. […] In einer ersten Reaktion hatte das Finanzministerium die Forderungen zurückgewiesen.“ Noch Anfang Februar 2022 stand die Bundeswehr unter erheblichem Druck – schließlich ermahnte der Staatssekretär im Finanzressort, Werner Gatzer, das Verteidigungsministerium Anfang Februar 2022, es sei deutlich zu großzügig mit den sogenannten Verpflichtungsermächtigungen umgegangen worden. Was das hieß, erläuterte der Blog Augengeradeaus: „Mit den so genannten Verpflichtungsermächtigungen kann das Verteidigungsministerium Verträge für Rüstungsgüter abschließen, deren Kosten erst in den nächsten Jahren fällig werden. […] Die Forderung nach realistischer Planung enthält den dezenten Hinweis, dass das Wehrressort in den vergangenen Jahren, laienhaft gesprochen, ungedeckte Schecks auf die Zukunft erhalten hat.“ Damit diese ungedeckten Schecks nicht platzen, nahm der Druck auf eine Erhöhung des Rüstungshaushaltes bereits vor dem russischen Angriff deutlich zu. Doch was nun angekündigt wurde, übersteigt alle Erwartungen bzw. Befürchtungen. Nach Kriegsbeginn: Scholz öffnet die Geldschleuse In seiner Regierungserklärung vom 27. Februar 2022 kündigte Kanzler Olaf Scholz eine Reihe von Maßnahmen an, besonders drastisch sind die Aussagen zu den künftigen Militärausgaben, die die Einrichtung eines einmaligen „Sondervermögens“ sowie dauerhaft deutlich höhere Militärausgaben betreffen. Während die Bundeswehr selbst vorrechnete, zur Erreichung der NATO-Planziele würden ihr in den Jahren 2022 bis 2026 rund 38 Mrd. Euro fehlen, soll sie nun deutlich mehr als das erhalten: „Wir werden dafür ein Sondervermögen ‚Bundeswehr‘ einrichten“, kündigte Scholz in seiner Regierungserklärung an. „Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen.“ Das Geld werde mit dem Bundeshaushalt 2022 bereitgestellt, der am 9. März 2022 vorgelegt werden soll. Dies schaffe die Möglichkeit, ab 2023 wieder die Schuldenbremse einhalten zu können, heißt es dazu in der FAZ. Die Dimension dieses Sondervermögens wird beispielsweise in der Europäischen Sicherheit und Technik erläutert: „Mit den beabsichtigten 100 Milliarden Euro verdoppelt der Bund seine Sondervermögen, zu denen unter anderem der Energie- und Klimafonds und die Rücklagen für die Flüchtlingshilfe gehören.“ Doch damit nicht genug: „Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren“, so Scholz ebenfalls in seiner Regierungserklärung. Der Bundeswehrverband bestätigt, dass diese Gelder zusätzlich zu den bereits ausgelobten Sondervermögen hinzukommen werden: „Bundesvermögen werden außerhalb des Bundeshaushaltes bewirtschaftet – für die Bundeswehr heißt das, dass die nun angekündigten 100 Milliarden Euro nicht mit dem Verteidigungsetat für das laufende Jahr verrechnet werden, sondern tatsächlich „on top“ kommen.“ Laut Statista belief sich das deutsche Bruttosozialprodukt im Jahr 2021 auf 3.570 Mrd. Euro, wäre für ihn bereits die Scholzsche Formel angewandt worden, hätte sich der Militärhaushalt statt der tatsächlich eingestellten 46,9 Mrd. Euro auf mindestens 71,4 Mrd. Euro belaufen müssen. Unklar ist gegenwärtig noch, ob die Erhöhungen bereits 2022 oder 2023 bzw. 2024 umgesetzt werden. Klar ist aber, dass mit einem sprunghaften Anstieg der Ausgaben zu rechnen sein wird, der sich durch eine Kopplung ans Bruttoinlandsprodukt bei fortgesetztem Wirtschaftswachstum auch verstetigen wird. Wer von diesen Mehrausgaben profitieren wird, beschrieb die Welt: „Während vor kurzem die Lobbyisten der Rüstungskonzerne noch alles unternahmen, um bei einer sich abzeichnenden Lücke im Wehretat mit ihrem Projekt zum Zuge zu kommen, scheint die Geldfrage jetzt gelöst. Von einem neuen Super-Verteidigungsetat profitieren nicht nur größere deutsche Rüstungskonzerne wie Rheinmetall, Krauss-Maffei Wegmann, Hensoldt, Diehl und Heckler & Koch oder europäische Hersteller wie Airbus und der Lenkwaffenkonzern MBDA. Milliardenbeträge werden auch an US-Rüstungskonzerne wie Lockheed Martin und Boeing fließen.“ Wieviel ist genug? Mehr als fraglich ist, ob die Bundeswehr-Strukturen überhaupt „sinnvoll“ derartige Gelder verarbeiten könnten, was durchaus auch von BefürworterInnen höherer Ausgaben bezweifelt wird. Zudem hat die NATO als Ganzes ihre Militärausgaben in den letzten Jahren bereits deutlich erhöht: sie stiegen nach NATO-Angaben von 895 Mrd. Dollar (2015) auf 1106 Mrd. (2020) an. Demgegenüber sanken die russischen Ausgaben laut SIPRI von 85 Mrd. Dollar (2015) auf 61,7 Mrd. Dollar (2020). Die NATO-Militärausgaben sind also heute bereits rund 18mal höher als die Russlands. Augenscheinlich haben die militärischen Ausgabensteigerungen bislang in keiner Weise zu mehr Sicherheit geführt, wie derzeit leider offensichtlich wird. Im Gegenteil, diese Ausgaben und die mit ihr zusammenhänge Politik sind sicher auch ein Teil des Problems und nicht der Lösung. IMI-List - Der Infoverteiler der Informationsstelle Militarisierung Hechingerstr. 203 72072 Tübingen imi@imi-online.de Sie können die IMI durch Spenden unterstützen oder indem Sie Mitglied werden (http://www.imi-online.de/mitglied-werden/). Spendenkonto: IMI e.V. DE64 6415 0020 0001 6628 32 (IBAN) bei der KSK Tübingen (BIC: SOLADES1TUB)

[IMI-List] [0605] Ukraine-Krieg: Stellungnahmen und Analysen

---------------------------------------------------------- Online-Zeitschrift "IMI-List" Nummer 0605 .......... 25. Jahrgang ........ ISSN 1611-2563 Hrsg.:...... Informationsstelle Militarisierung (IMI) e.V. Red.: IMI / Jürgen Wagner / Christoph Marischka Abo (kostenlos)........ https://listi.jpberlin.de/mailman/listinfo/imi-list Archiv: ....... http://www.imi-online.de/mailingliste/ ---------------------------------------------------------- Liebe Freundinnen und Freunde, wir sind wohl alle geschockt von den Ereignissen in der Ukraine – die klare Kritik an dem russischen Angriff zieht sich durch fast alle Stellungnahmen der Friedensbewegung, auch durch die unsrigen. Die Situation ist ernst, sie darf nicht noch ernster werden, indem diejenigen noch mehr Gehör finden, die jetzt nach genau den militärischen Mitteln schreien, die uns in diese Lage gebracht haben. Die IMI hat sich die letzten Tage mehrfach untereinander ausgetauscht, erste Positionen und Analysen verfasst und wird sich auch morgen an einer Kundgebung gegen den Krieg beteiligen. Hier eine Auswahl der neuesten Texte: eine Zusammenstellung bisheriger Stellungnahmen der Friedensbewegung, zwei erste kurze Stellungnahmen unsererseits und eine längere Analyse zur Rolle des Ulmer Logistikkommandos JSEC, das nun angesichts zu erwartender weiterer Truppenverlegungen nach Osteuropa von zunehmender Bedeutung sein wird. Schon kurz vor der jetzigen Eskalation erschien eine Analyse des anstehenden Großmanövers Defender 2022, auf die wir ebenfalls hinweisen möchten: IMI-Analyse 2022/04 - in: AUSDRUCK (März 2022) Organisierter Aufmarsch NATO-Kommando in Ulm koordiniert Truppenbewegungen in Europa https://www.imi-online.de/2022/02/24/organisierter-aufmarsch/ Martin Kirsch (24. Februar 2022) IMI-Standpunkt 2022/006b Zur aktuellen Entwicklung in der Ukraine Aktualisierung der Stellungnahme vom 22. Februar 2022 https://www.imi-online.de/2022/02/24/zur-aktuellen-entwicklung-in-der-ukraine/ Claudia Haydt (24. Februar 2022) IMI-Mitteilung Ukraine: Erklärungen aus der Friedensbewegung https://www.imi-online.de/2022/02/24/ukraine-erklaerungen-aus-der-friedensbewegung/ (24. Februar 2022) IMI-Analyse 2022/03 Säbelrasseln gegen Russland Das Großmanöver Defender Europe 2022 https://www.imi-online.de/2022/02/15/saebelrasseln-gegen-russland/ Claudia Haydt (15. Februar 2022) IMI-Standpunkt 2022/007 Die Dummheit des Krieges und der Aufrüstung (der NATO) https://www.imi-online.de/2022/02/24/die-dummheit-des-krieges-und-der-aufruestung-der-nato/ Christoph Marischka (24. Februar 2022) Der militärische Einmarsch Russlands in die Ukraine stellt einen eklatanten Bruch des Völkerrechts dar und ist zu verurteilen. Insbesondere ist zu verurteilen und zu unterstreichen, dass sich die russische Regierung hierbei auf ihren Status als Atommacht abstützt. Dies ist insbesondere zu unterstreichen, weil es die sehr weitgehende Handlungsunfähigkeit der NATO und ihrer Mitgliedsstaaten erklärt. Den innerhalb des militaristisch aufgeladenen Diskurses womöglich nachvollziehbaren Forderungen nach einem militärischen Beistand der Ukraine ist auch deshalb eine klare Absage zu erteilen, weil dieser die Welt kurzfristig (noch näher) an den Abgrund eines Atomkrieges führen würde. Dasselbe gilt auf längere Sicht allerdings für die nun erhobenen Forderungen nach einer weiteren Aufrüstung der NATO-Ostflanke, der NATO-Streitkräfte und Erhöhung der Rüstungshaushalte der NATO-Mitgliedsstaaten. Diese Politik der vergangenen Jahre ist die Ursache der aktuellen Eskalation und – aktuell ganz offensichtlich – nicht deren Lösung. Über Jahre hat Russland Sicherheitsgarantien und einen Stopp der NATO-Osterweiterung eingefordert – stattdessen wurde aufgerüstet, auf beiden Seiten. Dies betrifft nicht alleine die militärische Ebene, sondern nahezu alle Politikbereiche. Von der Handels- und Sanktionspolitik über die Cybersicherheit und den Kampf um Informationshoheit bis hin zu den Patenten für Impfstoffe war und ist das Verhältnis zwischen den Großmächten von Konkurrenz statt Kooperation geprägt. Dass diese früher oder später auch militärisch eskaliert, war absehbar. Es gab allerdings – v.a. jenseits der Großmächte – auch andere Ansätze. Ausgehend von zivilgesellschaftlichen Initiativen haben im Juli 2017 122 von 193 in den UN vertretenen Staaten für die Verabschiedung des Atomwaffenverbotsvertrags gestimmt, aktuell haben ihn 86 Staaten unterzeichnet und 59 Staaten ratifiziert. Die Atommächte, Deutschland und auch die allermeisten NATO-Mitgliedsstaaten sind nicht darunter. Nach dem Ende der sog. „Blockkonfrontation“, der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts bestand weltweit die Hoffnung auf eine Friedensdividende. V.a. die NATO aber hat auf ihrem Fortbestand und ihrer Osterweiterung beharrt und obendrein ihre Aktivitäten 1999 (Serbien) und 2001 (Afghanistan) über ihr Bündnisgebiet hinaus ausgedehnt. Auch dadurch wurde in den vergangenen 30 Jahren eine historische Möglichkeit verspielt, die Welt von der Geißel der Atomwaffen zu befreien, abzurüsten und auf eine kooperative Form der internationalen Sicherheit hinzuarbeiten. Dies hätte die immensen Summen, die weltweit in Rüstung und Militärs fließen, für andere, dringende Aufgaben der Menschheit freigesetzt. Stattdessen wurden v.a. unter dem US-Präsidenten Donald Trump wichtige Abkommen der Rüstungskontrolle und Mechanismen der Deeskalation aufgekündigt bzw. aufgegeben. Dieser Kurs darf nicht fortgesetzt und erst recht nicht durch den russischen Einmarsch in der Ukraine beschleunigt werden. So selbstverständlich wie nun von allen Seiten eine weitere Aufrüstung der NATO und der Bundeswehr als „Reaktion“ eingefordert wird, so sehr verdeutlicht der Krieg in der Ukraine das Scheitern dieser Politik. Und es ist nicht nur der Krieg in der Ukraine, der dieses Scheitern offenbart, sondern es ist auch das Scheitern an anderen Herausforderungen, die nur gemeinsam gelöst werden können und nicht in einer Situation der beständig eskalierenden Großmachtkonkurrenz: Dem Klimawandel, dem Artensterben, der aktuellen und künftigen Pandemien und der Überwindung einer auf Wettbewerb, Wachstum und Ausbeutung basierenden Ökonomie. Die Überwindung dieser Probleme und Konflikte sollten wir nicht hochgerüsteten Potentaten und Bündnissen überlassen, sondern selbst in die Hand nehmen. Das bedeutet auch, ihnen jene Mittel zu entziehen, auf denen ihre Macht fußt und aus denen sich ihre Konkurrenz und Kriege speisen. Auf den Straßen und in den Haushaltsverhandlungen sollte Abrüstung statt Aufrüstung das Gebot der Stunde sein. Einen von vielen Bezugspunkten hierfür lieferte der UN-Generalsekretär in seiner Rede vom 23. März 2021, in der er zu einem „weltweiten Waffenstillstand“ aufrief, um sich dem „gemeinsamen Feind“ stellen zu können. Gemeint war damals Covid19. „Das Wüten des Virus offenbart die Dummheit des Krieges“, so Guterres in seiner Rede, die historisch hätte werden können – wäre sie beachtet worden. Weitere solche „gemeinsamen Feinde“ wären der Klimawandel, Ressourcenverbrauch, Rassismus, Atomwaffen und der Militarismus mitsamt der dahinter stehenden ökonomischen Strukturen. IMI-List - Der Infoverteiler der Informationsstelle Militarisierung Hechingerstr. 203 72072 Tübingen imi@imi-online.de Sie können die IMI durch Spenden unterstützen oder indem Sie Mitglied werden (http://www.imi-online.de/mitglied-werden/). Spendenkonto: IMI e.V. DE64 6415 0020 0001 6628 32 (IBAN) bei der KSK Tübingen (BIC: SOLADES1TUB)

Kommentar: Z wie Strafverfahren gegen die Meinungsfreiheit

Du darfst dir eine Konföderiertenfahne in den Garten hängen, eine vom Deutschen Kaiserreich und von Saudi-Arabien. Autoaufkleber, die die Bundeswehr oder die US-Army glorifizieren sind schon gar kein Problem. Was aber zukünftig nicht mehr gehen soll, sind Z-Symbole in der Öffentlichkeit. Also Z-Symbole, die für „Für den Sieg“ (Russ. trans.: sa pobedu) stehen und damit Unterstützung für die russische Armee zeigen sollen. Gegen Menschen, die angeblich Entsprechendes getan hätten, wurden bereits Strafverfahren eingeleitet. Laut Bundesinnenministerium sei die Billigung eines Angriffskrieges eine Straftat, ganz so wie z.B. Diebstahl oder Betrug als Straftaten definiert werden. Für diese absurde These muss die Rechtsgrundlage mit Paragraf 140 StGB (Belohnung und Billigung von Straftaten)erst mühsam herbei konstruiert werden. Dabei kommt die Reform des § 140 StGB vom 3. April 2022 gelegen, mit der auch die Billigung von „noch nicht begangenen schweren Straftaten“ unter Strafe gestellt wird. Das Ganze wird übrigens von der Bundesregierung gewohnt woke als Vorgehen gegen menschenverachtende Hetze und Hass im Netz angepriesen. Dieser Vorstoß ist ein neuerlicher Angriff auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, der in Sachen Radikalität und Tragweite seines Gleichen sucht. Wenn er vor der Justiz Bestand hat, dann ist der Willkür in Zukunft keine Grenze mehr gesetzt. Dann wird der Meinungskorridor vollends von der Regierungsbank aus abgesteckt. Dann wird Solidarität mit den von ihnen unterdrückten Völkern schon auf der symbolischen Ebene zum Vergehen. Dann wird sicherlich auch ein „Ho Ho Ho Chi Minh“, wie es in den Westberliner 70er Jahren durch die Straßen schallte, zur „Billigung einer Straftat“. Die Angriffskriege der BRD bzw. die Beteiligung an solchen zu glorifizieren wird hingegen straffrei bleiben. Schließlich sind die Bombenangriffe auf Jugoslawien oder Yemen auch gar keine Angriffskriege, sondern humanitäre Interventionen oder friedenserhaltende Maßnahmen – je nachdem welchen Regierungspolitiker man fragt. Geschrieben von kolu 11. April 2022

Bundesfamilienministerin Anne Spiegel tritt zurück

Es war nur eine Frage der Zeit und nun ist es passiert. In der Ampelregierung unter Führung des Paten von Hamburg – dem Gangster Olaf Scholz – ist der erste Kopf gerollt. Bundesfamilienministerin Anne Spiegel (Grüne) verkündete am Nachmittag des 11. April 2022 ihren Rücktritt aus ihrem Amt und das nur gut vier Monate nach ihrer Vereidigung. Der Grund dafür liegt in der Flutkatastrophe im Juli letzten Jahres. Anne Spiegel war zu diesem Zeitpunkt Landesministerin für Umwelt in Rheinland-Pfalz, das von der Flut stark betroffen war. Trotzdem fuhr Spiegel, die wegen ihres damaligen Amtes in direkter Verantwortung war, nur zehn Tage nach der Flut für ganze vier Wochen in den Urlaub. Erst gestern Abend versuchte sich Anne Spiegel in einer jämmerlichen Stellungnahme zu den Vorwürfen zu rechtfertigen. Ihre Ämter seien ihr zu viel gewesen, ihre armen Kinder hätten es so schwer in der Pandemie gehabt und ihr Mann sei auch noch krank gewesen – deshalb hätte sie in den Urlaub fahren müssen. Diese Erklärung trug sie mit zitternder Stimme vor, geradezu winselnd nach Mitleid, welches sie vom Volk und den Arbeitern nicht bekommen wird. In dem ganzen Prozess der Ermittlungen gegen sie zeigte sich eine Ungereimtheit nach der anderen. Gleich mehrfach bestätigte sich, dass sie gelogen hat. So behauptete sie zum Beispiel, dass sie an Sitzungen zumindest per Video-Liveschalte teilgenommen hätte, was sich letzten Endes als Lüge erwies. Als Bundesministerin in der wahrscheinlich korruptesten Regierung jemals in der BRD war Anne Spiegel natürlich nicht frei von „Skandalen“. So soll Spiegel mit Geldern ihres Ministeriums auf Landesebene ihren Wahlkampf finanziert haben, was offenkundig illegal, bei bürgerlichen Politikern aber eine weiterverbreitete Methode ist. Die Flutkatastrophe im Sommer 2021 Am 14. und 15. Juli 2021 ereignete sich in Teilen von NRW und Rheinland-Pfalz eine schwerwiegende Flutkatastrophe. Unterschiedliche Landkreise waren betroffen, ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht, mindestens 180 Menschen kamen ums Leben und tausende Existenzen wurden zerstört. Obwohl präzise Warnungen für eine solche Katastrophe an die Landesregierung und an die Landkreise ausgesprochen wurden, ließen die zuständigen Politiker die Bevölkerung im Dunkeln und ließen einfach geschehen, was geschah. Die Flut im letzten Sommer fiel direkt in den Bundestagswahlkampf, sodass die Kanzlerschaftstkandidaten schon einen Tag nach der Katastrophe auf der Matte standen und die Geschehnisse für ihren Wahlkampf instrumentalisierten. Ganz besonders ausgezeichnet hat sich an dieser Stelle der CDU Kanzlerkandidat Armin Laschet, der nach einer betroffenen Rede in Erftstadt herzlich zu Lachen anfing und damit ungewollt seinen ganzen Zynismus ausdrückte. Die CDU spielte sowieso eine ganz besondere Rolle in der Flutkatastrophe, zumal viele betroffene Kreise durch Politiker der CDU geführt wurden und werden. Die Untätigkeit trotz der Warnungen ließ schon damals mehr auf politisches Kalkül schließen als auf einfache Fehler. Kalkül, mit dem Ziel durch eine Neuauflage des „Gummistiefelwahlkampfs“ von Gerhardt Schröder aus dem Jahr 2002 die Wahl zu gewinnen. Diese schwarze Rolle, die der CDU in der ganzen Sache zukommt, sollte man im Blick haben, wenn man sich nun die vorlaute CDU anschaut, die als Erstes den Rücktritt von Anne Spiegel gefordert hat. Geschrieben von refa 12. April 2022

Die Ukraine im Kreise der Familie

Nachdem die deutsche EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen vergangene Woche ins ukrainische Butscha fuhr, um sich die Auswirkungen des Krieges selbst anzuschauen, nährte sie die Hoffnung der ukrainischen Regierung, schnell der EU beitreten zu können. Immer wieder hatte der ukrainische Präsident Selenskyi seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges darum gebeten bzw. gebettelt, dass er endlich in den Kreis der „europäischen Familie“, wie von der Leyen die EU bei ihrem Besuch nannte, aufgenommen werde. Bislang wurde diese Bitte nicht erhört. Doch ganz pressebewusst überreichte von der Leyen dann dem Präsidenten bei der gemeinsamen Pressekonferenz den Fragebogen, der die Grundlage für die kommenden Gespräche über den EU-Beitritt der Ukraine sein soll. Auch versprach sie, dass es diesmal nicht, wie sonst üblich bei Beitritten, ein jahrelanger Prozess sein werde, sondern eher eine „Sache von Wochen“, die EU-Kommission werde ihre Einschätzung bis zum Sommer dem Europäischen Rat vorlegen und unterstütze die Ukraine bis dahin jeden Tag darin, den Fragebogen auszufüllen. Ob das nicht alles leere Versprechungen an die herrschende Klasse der Ukraine sind, um diese in Kriegslaune zu halten, wird sich dann wohl in wenigen Wochen zeigen. Bis dahin muss sich die ukrainische Regierung wohl mit netten und emotionsgeladenen Phrasen europäischer Spitzenpolitiker zufrieden geben, an denen auch Ursula von der Leyen und der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell bei ihrem Besuch nicht sparten. So wurde z.B. wieder eine EU-Botschaft in Kiew eröffnet, es werde wieder deutlich, „dass die Ukraine existiert, dass es da eine Hauptstadt gibt, eine Regierung gibt und Vertretungen anderer Länder“, so Borrell. Der Besuch der europäischen Delegation, auch in persona unter Führung des deutschen Imperialismus zeigt deutlich auf, wie versucht wird, nicht mit in den Krieg hineingezogen zu werden, aber das Land unter seinem Einfluss zu halten. Auch indem besonders auf die Massen, die dem Krieg ausgesetzt sind und mit ihrem Leben bezahlen, von von der Leyen Bezug genommen wurde. Dieses, so die bürgerliche Politikerin, würde die „Fackel der Freiheit“ halten. Dass das Volk in der Ukraine durchaus die „Fackel der Freiheit“ hält, daran besteht kein Zweifel, so zeigte sich z.B. die Kampfbereitschaft gegen den russischen Imperialismus, aber auch gegen die eigene Regierung an den zahlreichen Menschen, die Molotow-Cocktails bauten und die nicht kapitulieren werden (wir berichteten).

Imperialistischer Krieg heißt Terror gegen die Massen

In den vergangenen Wochen haben unterschiedliche Medien über Massaker in den Gebieten um Kiew berichtet. Videos zeigen auf den Straßen liegende Leichen in den Orten um Kiew, viele von ihnen an den Händen gefesselt. Diese Gebiete wurden vorher von der russischen Armee kontrolliert und bei den Toten handelt es sich um Bewohner der Kiewer Vororte, die exekutiert wurden. Die meisten kennen diese Bilder und sind zurecht angewidert von den Verbrechen der russichen Armee. Offensichtlich haben russische Soldaten in Putins imperialistischem Angriffskrieg Massenmord gegen die ukrainische Bevölkerung verübt. Das sind auch eigentlich keine Neuigkeiten und es sollte bei aller Brutalität niemanden verwundern, dass in einem imperialistischen Aggressionskrieg massiver Terror gegen das Volk ausgeübt wird. Die Herrschenden haben ihre Grausamkeit wiederholt unter Beweis gestellt und ohne jeden Zweifel gezeigt, dass ein solcher Krieg ohne sie nicht möglich ist. Es wurden auch schon recht früh Berichte und Stimmen laut nachdem Putin der russischen Armee befohlen hatte, zivile Infrastruktur, Wohnhäuser und sogar Krankenhäuser bombardieren zulassen. Laut Berichten aus den bürgerlichen Medien sollen alleine in Butscha um die 300 Menschen getötet worden sein, hauptsächlich Männer zwischen 16 und 60 Jahren. Zudem sollen die russischen Soldaten die Häuser durchsucht und geplündert haben. Die russische Regierung und die von ihr kontrollierten Medien widersprachen, dementierten diese Vorwürfe und sagten, es handle sich um eine Inszenierung, erfundene Fakten und Propaganda. Wie wir bereits an anderer Stelle sagten: Die herrschende Klasse hat überall ihre Propagandakanäle und ist bereit, jede noch so absurde Lüge zu verkaufen, um ihre Interessen durchzusetzen. Vor allem aber sind die Imperialisten und die bürokratische Bourgeoisie, egal auf welcher Seite sie stehen, Verbrecher und Feinde der Völker. Der gerechtfertigte Hass auf den russischen Invasor darf keineswegs einhergehen mit Sympathien für die NATO oder den Landesverkäufer Selenskij. Egal, wie empört die Herrschenden in anderen imperialistischen Ländern tun; sie sind selbst keinen Deut besser. Es gibt keine guten Imperialisten und das Gehabe mit dem sie ihre moralische Überlegenheit proklamieren ist nichts anders als verlogen und heuchlerisch. Ja, was die russische Armee dort gemacht hat ist ohne jeden Zweifel ein Kriegsverbrechen. Ja, die russichen Imperialisten sind Völkermörder und Verbrecher. Aber das gleiche gilt für die Leute, die sich jetzt empört darüber geben. Was bringt ausgerechnet die NATO in eine Position, das zu verurteilen? Wie kann Joe Biden, der Chef der US-Regierung sich hinstellen und Putin als Kriegsverbrecher bezeichnen ohne dabei rot im Gesicht zu werden? Diese Schweine haben genug Blut an den Händen, haben genug eigene Massaker zu verantworten und dann stellen die sich hin und sagen „Da sind die Kriegsverbrecher!“ Sie sind nur empört, weil es diesmal nicht sie waren, die die Massen abgeschlachtet haben. Was haben die gemacht in Jugoslawien, im Irak oder in Afghanistan? Das waren genausosehr „humanitäre Interventionen“, wie die Russen gerade in der Ukraine den „Faschismus“ bekämpfen. Und natürlich fahren die NATO-Mitglieder jetzt ihre Propaganda hoch. Sie nutzen die Verbrechen des russischen Imperialismus zu ihrem eigenen Vorteil. So dient das Massaker in Butscha der NATO jetzt dazu, der Ukraine eine „Vielzahl unterschiedlicher Waffensysteme“ zu versprechen, die ein paar Wochen vorher noch nicht mal zur Debatte standen. Geschrieben von ruko 15. April 2022