Donnerstag, 26. Mai 2016

Der Tourist sieht alles und nichts (Matthias Biskupek)


Vor einem Jahr war ich das erste Mal in der Türkei, genauer: in Istanbul. Für einen Freund der Mittelmeervegetation mit ihren Ölbäumen, ob in Italien, Spanien oder Israel, ein spätes Besinnen. Doch Metropolen? – Wien ist nicht Österreich, Warschau nicht Polen, Budapest nicht Ungarn. Istanbul ist eine Kunst- und Weltstadt, internationales Gepräge, quirlig. Wieso warst du noch nie dort? hieß es.
Die Reisebegleiterin fuhr schon vor Jahren nach Ankara, dienstlich, hatte dort wenige Kopftücher und keine Ganzverschleierungen gesehen. Im Istanbuler Hotel Arcadia Blue, hochmodern und hoch oben, mit Blick auf Hagia Sophia und Blaue Moschee, waren sie zu sehen: Ganzkörpertuchwesen. Es gehört sich nicht, sie anzustarren, zu eruieren, wie diese wohl essen, aber der Chronist will beobachten. Die Wesen hoben Lappen vom Oberteil, dahinter vermutlich das Gesicht, und schoben Speisen dorthin, wo das ist, was im Biederdeutschen auch Futterluke heißt. Verrät Sprache nicht immer wieder Sinn und Unsinn?

Gewiss, derlei Beobachten ist anstößig. Obwohl die Tuchwesen jetzt an vielen internationalen Flughäfen zu erleben sind. Man ist an Badestrände erinnert, an denen sich Menschen mit vielen Zappligkeiten unter einem Handtuch umziehen.

Der Tourist ist neugierig und darf das sein, denn er beobachtet auch seine Artgenossen. Da ist jene Frau, die noch nie in Istanbul, aber sehr oft in der Türkei war, immer in Side, dem Paradies der Deutschen. Sie spricht kein Wort Türkisch und ist überaus verärgert, wenn die Reiseführer bei Bosporus-Fahrten neben Türkisch nur Englisch, Arabisch oder Französisch beherrschen. Nie mehr Istanbul, verkündet sie. Die jüngsten Terroranschläge, die genau dort geschahen, wo wir vor einem Jahr fast täglich ganz ohne Angst entlangschlenderten, scheinen solchen Menschen Recht zu geben: Nie wieder Istanbul! Doch ist das in New York nicht ähnlich, einst Verbrechenshauptstadt? Als ich dort Anfang der Neunziger gänzlich angstfrei mit Rucksack durch die Straßen zog und ein Unbekannter mich auf Russisch ansprach und nach seiner Botschaft fragte, kam ich mir behaust und weltläufig zugleich vor. 9/11 lag weit vor uns allen.
Istanbul ist Dorf und europäisch-asiatische Riesenstadt zugleich. Die arabischen Männer, die ihre vollverschleierten Frauen mit sich führen, sind oft keine edlen Wüstensöhne, sondern vollschlanke Trainingshosenträger, als seien sie grad aus Tröglitz angekommen. Sie erinnern genau an jene Touristen, die, wenn sie wieder zu Hause sind, sich besorgt geben, weil so viele Morgenlandbewohner hereinströmten.

Istanbul war wohl immer ein zur Globalisierung neigender Ort, er ist wirklich Kunst- und Weltstadt: römisches, griechisches, christliches, byzantinisches Erbe. Die Eroberung durch den Islam, Weltzentrum einer aggressiven Hohen Pforte, Kernzone eines sich rasend schnell modernisierenden Landes nach dem Ersten Weltkrieg, in dem nicht nur der Fes, sondern auch der Schleier verboten war. Angesichts einer neuerdings sich wieder alleinselig dünkenden Regierung scheint die Rück-Sicht wie der Fortschritt. Doch macht ein Erdoğan nicht eigentlich das Gleiche in Grün, also in der Islamfarbe, was die westliche Wertegemeinschaft anstrebt: So, wie wir leben, ist es richtig?

Wer in ferne Gegenden reist, dem kommen die Menschen meist freundlich, gar diensteifrig vor. Das geht dem Norddeutschen in Bayern so und dem Gesamtdeutschen in Italien. Wer allerdings in Berlin seine zuvorkommenden türkischen Obstfrauen kennt, wundert sich in Istanbul über die fast durchweg männlichen Verkäufer, die gern auch zum Tee einladen, wofür man doch bitte eine sehr günstige Lederjacke kaufen möge.

Am Hof Augusts des Starken von Sachsen gab es eine sich deutlich manifestierende und wahrlich kostspielige Liebe zum Osten, zu Turbanträgern, zum nickenden Türken und zum diamantbesetzten Krummsäbel. Am europäischen Rand von Istanbul, im Sommerpalais des Sultans, dem Dolmabahçe Sarayi, installierte man in der Mitte des 19. Jahrhunderts westliche Werte. Man nutzte englische Gasbeleuchtung und Wassertoiletten, importierte Möbel aus Frankreich und Porzellan aus Meißen. Und wegen der hohen Kosten machte man gleich eine westliche Sitte kurzerhand zur türkischen Norm: die Staatsverschuldung.

Vor einem Jahr zog uns ein Fest gleich an der Straßenbahnstation Sultanahmet an: Was mochte es sein? Aha! Das kurdische Newroz, das Frühlingsfest. Sieh an, dachte ich, man wird auch in der Türkei vernünftig und begreift die Kurden als eigene Nationalität, die ihre Sitten auch in Istanbul zeigen kann. Inzwischen ist mir dieser Optimismus vergangen.

Wer nach dem von bunten Süßspeisen überquellenden Istanbul dann wieder in der heimischen Gegenwart landet, dem kommt unsere Welt etwas saurer und grauer, aber auch gradliniger vor. Denn wer die heimische Bürokratie schlimm findet, kennt sie nicht: die türkische. Wir machen uns vom Fremden oft ein Gegenbild zur Heimat und wundern uns dann, wenn weder das eine noch das andere stimmt. Die Wahrheit, heißt es, wird getürkt, wenn wir das für nötig empfinden, aber vielleicht verdeutschen wir auch nur das, was wir vom Nahen und Fernen Osten nicht verstehen.

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