Für Dialektik in Organisationsfragen
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Revolution und Verrat
Da hat die herrschende Klasse die Spendierhosen angezogen und uns allen einen Feiertag ‚geschenkt‘, um den 500. Geburtstag des Thesenanschlags zu Wittenberg gebührend zu feiern. So beschloss das Kabinett 2011 jährlich bis 2017 5 Mio. € direkt im Etat des Kultur- und Medienbeauftragten dafür einzustellen neben weiteren Beträgen in den jeweiligen Fachressorts. Daneben spendiert „die Wirtschaft“ soeben mal geschätzt zwischen 10 und 13 Mrd. €, ohne groß zu murren. Ganz im Gegenteil, der Kirchentag in Berlin wurde von Firmen großzügig gesponsert. Auch die öffentliche Hand finanzierte den Kirchentag maßgeblich mit. Das Land Berlin gab achteinhalb Millionen Euro (wo es doch an allen anderen Ecken und Enden fehlt), Brandenburg eine Million, der Bund zwei. Zusammengenommen war das die Hälfte des Gesamtetats. Da kann man schon mal fragen, was uns das angeht. Und war Martin Luther wirklich der rechtschaffene Demokrat und tapfere Freiheitskämpfer, als der er uns präsentiert wird? Es ist kein Zufall, dass sich heute gerade die bürgerlichen Kräfte in unserem Land besonders auf die Reformation berufen. Sie wollen sich ihrer „eigenen Identität vergewissern und ein positives Deutschlandbild im Ausland fördern“.[2] Es ist natürlich ein „religiöses Ereignis“, soll aber als „Chance zur aktiven Fortentwicklung der Demokratie“[3]genutzt werden. Um zur „größeren Verbundenheit der europäischen Bürgerinnen und Bürger – und insbesondere der jungen Menschen einen besonders wichtigen Beitrag zu leisten.“[4] „Das Reformationsjubiläum ermöglicht die erneute Vergewisserung gemeinsamer kultureller Herkunft … in den Diskursprozessen im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik auf Augenhöhe mit ausländischen Partnern.“[5]Da wird mit voller Wucht allen klar gemacht, wir sind die Kulturträger Europas, wir sind stolz auf unsere Geschichte und ohne uns gäbe es die Freiheits- und Menschenrechte gar nicht. Dabei wird 2014 der „christliche Freiheitsbegriff“ noch stark betont, was eine deutliche Abgrenzung zu Nichtchristen impliziert. In einer Erklärung der Bundesregierung von 2017[6] wird mehr das „Gemeinsame“ in den Vordergrund gestellt. Sie ist bemüßigt, weniger abzugrenzen und noch mehr Gruppen einzubinden. „Eine Gesellschaft, die sich ihrer kulturellen Prägungen bewusst ist, kann auch dem Anderen, dem Fremden Raum geben, ohne sich dadurch bedroht zu fühlen.“[7]Dabei wird verschwiegen, dass es natürlich um eine Revolution ging. Dass der Thesenanschlag ziviler Ungehorsam war. Die bürgerlichen Freiheiten werden heute in diesem Land zusammengeknüppelt. Was versteht denn der bayrische Innenminister Joachim Herrmann unter Religionsfreiheit, wenn er am 16.03.2016 im bayrischen Landtag verkündet: „Unserem ganzen Land kann es nur guttun, wenn wir am 31. Oktober 2017 nicht mehr dieses geistlose Halloween feiern, sondern das Jubiläum der Reformation begehen. Bayern ist und bleibt ein christlich geprägtes Land. Wir werden das mit diesem besonderen Feiertag zum Ausdruck bringen.“
Welches Geschichtsbild wird uns da vermittelt, was soll in unsere Köpfe rein und vor allem was soll raus? Ging es da wirklich nur um religiöse Fragen? Oder war es die erste große Entscheidungsschlacht des Bürgertums, war es Klassenkampf? Die am heldenhaftesten kämpften und am meisten bluten mussten, waren nicht die Sieger, ja sie kämpften nicht mal für ihre eigene Sache, sondern für die Sache der Bürger, die sich feige hinter den Fürsten und deren Landsknechten verkrochen. Wer lebte und kämpfte für welche Interessen im 16. Jahrhundert zur Zeit der Reformation? Was konnte so massive Veränderungen in Gang setzen? So wie die Bürgerlichen sich für ihre Geschichte interessieren, sollten auch wir unsere revolutionäre Tradition kennen.
Die ökonomische Lage und soziale Schichtung in Deutschland Ende des 15. Jahrhunderts
Die deutsche Industrie hatte einen bedeutenden Aufschwung genommen. Es wurde in den Städten in Gewerbebetrieben, die in Zünften organisiert waren, für weitere Kreise und entlegenere Märkte produziert, als dies früher der Fall war. Der Abbau von Rohstoffen wie Eisenerz und Kohle vervielfachte sich und auch der Ackerbau wurde verfeinert und vielfältiger. Der Aufschwung hatte aber nicht mit dem Aufschwung anderer Länder Schritt gehalten. „Der Ackerbau stand weit hinter dem englischen und niederländischen, die Industrie hinter der italienischen, flämischen und englischen zurück und im Seehandel fingen die Engländer und besonders die Holländer schon an, die Deutschen aus dem Feld zu schlagen.“[8]Auch war die Bevölkerung immer noch dünn gesät. Keine einzige Stadt konnte sich so entwickeln, dass sie zum kommerziellen und industriellen Schwerpunkt des ganzen Landes werden konnte wie zum Beispiel Paris oder London. Die einzelnen lokalen Zentren verfolgten ihre eigenen Interessen.
So zersplitterte das feudale Reich und der Kaiser verlor seine Macht an die Fürsten, auch wenn er noch versuchte, sich mit wechselnden Bündnissen als Zentralmacht zu behaupten. Die Fürsten waren im Besitz der meisten Hoheitsrechte: Sie machten Krieg und Frieden auf eigene Faust, hielten stehende Heere, riefen Landtage zusammen und schrieben Steuern aus. Das Geldbedürfnis der Fürsten wuchs immens, die Steuern wurden immer drückender. Wo die direkte Besteuerung der Bauern nicht ausreichte, wurden Münzen gefälscht, städtische Privilegien verkauft, geplündert und Rechte entzogen, die dann wieder teuer erkauft werden mussten.
Der mittlere Adel war fast ganz verschwunden. Entweder waren sie zu kleinen Fürsten aufgestiegen oder zum niederen Adel hinabgesunken. Der niedere Adel, die Ritterschaft ging ihrem Untergang entgegen. Während ihr Einkommen nicht anstieg, wurden die Waffen und Pferde immer teurer, ihre Bedürfnisse und somit ihr Geldbedarf immer höher. Ein großer Teil war schon gänzlich verarmt und lebte von Fürstendienst in militärischen oder bürgerlichen Ämtern, andere waren in Lehnspflicht bei den Fürsten. Die Entwicklung des Kriegswesens, die steigende Bedeutung der Infanterie, die Ausbildung der Feuerwaffen vernichtete ihre Bedeutung als schwere Kavallerie. Zudem waren ihre Burgen nun leicht einnehmbar. Sie waren in den Städten verschuldet und versuchten, durch Plünderungen der städtischen Ländereien und Beraubung der Kaufleute zu Geld zu kommen.
Die Geistlichkeit fühlte den geschichtlichen Umschwung nicht minder. Durch die Buchdruckerei und die Bedürfnisse des Fernhandels wurde ihnen nicht nur das Monopol des Lesens und Schreibens, sondern auch das der höheren Bildung genommen. Der neuaufkommende Stand der Juristen verdrängte sie aus einflussreichen Ämtern. Das Bürgertum brauchte zur Entwicklung der industriellen Produktion die Wissenschaft, die bisher nur ein Anhängsel der Kirche war und von ihr scharf reglementiert wurde. Die Wissenschaft war in einem ungehörigen Aufschwung und die Forscher überschritten alle Grenzen, die die Kirche ihnen zu setzen versuchte.
In der Geistlichkeit gab es zwei unterschiedliche Schichtungen. Die aristokratische bestand aus Bischöfen, Äbten, Prioren und sonstige Prälaten, die nicht nur als Feudalherren ihre Untergebenen ausbeuteten, sondern durch den Zehnten (Abgaben an die Kirche) extra Einnahmen hatten, die die Einkünfte der weltlichen Fürsten schmälerten. Dabei nahmen die Klöster eine besondere Stellung ein. Sie hatten seit den Kreuzzügen ungeheure Reichtümer angesammelt, immense Landbesitze zusammengerafft, auch in Folge des mittelalterlichen Zinsverbots und beuteten nicht nur ihre einfachen Mönche, sondern auch die auf ihren Ländereien arbeitenden Hörigen und Leibeignen aus. „Die plebejische Fraktion bestand aus den Predigern auf dem Lande und in den Städten. Sie standen außerhalb der feudalen Hierarchie der Kirche und hatte keinen Anteil an ihren Reichtümern.“[9]So wie dem Kaiser die Reichssteuern mussten dem Papst in Rom die Kirchensteuern bezahlt werden. Große Summen wanderten so alljährlich aus Deutschland nach Rom.
In den Städten hatten sich drei unterschiedliche gesellschaftliche Schichten entwickelt. An der Spitze standen die Patrizier. Sie waren die reichsten Familien und saßen im Rat und in allen Ämtern. Dadurch hatten sie Zugriff auf alle Einkünfte der Stadt. Die städtische Opposition gegen die Patrizier teilte sich in zwei Fraktionen. Die bürgerliche umfasste die reicheren und mittleren Bürger sowie einen geringeren Teil des Kleinbürgertums. Sie hatte in allen ordentlichen Gemeindeversammlungen und auf den Zunftversammlungen die Mehrheit. Die plebejische Opposition bestand aus den heruntergekommenen Bürgern und der Masse der städtischen Bewohner, die vom Bürgerrecht ausgeschlossen waren. Das waren die Handwerksgesellen, Taglöhner und die zahlreichen Anfängen des Lumpenproletariats. „Das Lumpenproletariat ist überhaupt eine Erscheinung, die, mehr oder weniger ausgebildet, in fast allen bisherigen Gesellschaftsphasen vorkommt. … Ein Teil … trat in Kriegszeiten in die Armeen, ein anderer bettelte sich durchs Land, der dritte endlich suchte in den Städten durch Taglöhnerarbeit und was sonst gerade nicht zünftig war, seine notdürftige Existenz. Alle drei spielten eine Rolle im Bauernkrieg: der in den Fürstenarmeen, denen die Bauern erlagen, der zweite in den Bauernverschwörungen und Bauernhaufen, wo sein demoralisierender Einfluss jeden Augenblick hervortritt, der dritte in den Kämpfen der städtischen Parteien“.[10]Die Plebejer standen außerhalb der bestehenden Gesellschaft. Sie hatten weder Eigentum noch Privilegien, sie waren besitz- und rechtlos. „Sie waren das lebendige Symptom der Auflösung der feudalen und zunftbürgerlichen Gesellschaft und zugleich der erste Vorläufer der modern-bürgerlichen Gesellschaft.“[11]
Unter all diesen Klassen, außer der letzten, standen die Bauern. Als Leibeigene und Hörige standen sie unter gehörigem Druck. Die meiste Zeit mussten sie für ihre Herren arbeiten. Von dem, was sie daneben für sich und ihre Familien erwirtschafteten, mussten sie noch die Steuern, Zehnten und Zinsen bezahlen, von Abgaben für Heiratsbewilligungen und Sterbegeld ganz zu schweigen. Daneben mussten sie noch vielfältigste Dienste erfüllen und konnten ihre Frauen und Töchter nicht vor der Brutalität der Herren schützen. Dabei konnten sie irgendwelche Rechte nur bei den eigenen Herren einklagen, die sich dann mit willkürlichen und drastischen Strafen rächten.
Es gab also sehr vielschichtige und sehr unterschiedliche Interessen in der damaligen Gesellschaft, die sich aus mehreren sehr unterschiedlichen Gruppierungen gebildet hatte. Eine Schicht alleine konnte sich nicht gegen alle anderen durchsetzen. Die Zersplitterung des Landes tat ihr übriges, sodass auch die Erhebung der untersten Schichtungen kaum zu organisieren war.
Kampf gegen die Katholische Kirche als Feudalmacht
„Das große internationale Zentrum des Feudalsystems aber war die römisch-katholische Kirche. Sie vereinigte das ganze feudalisierte Westeuropa, trotz aller inneren Kriege, zu einem großen politischen Ganzen, das im Gegensatz stand sowohl zu der schismatisch-griechischen wie zur mohammedanischen Welt. … und schließlich war sie der größte aller Feudalherrn, … Ehe der weltliche Feudalismus in jedem Land und im Einzelnen angegriffen werden konnte, musste diese seine zentrale, geheiligte Organisation zerstört werden.“ [12]
Das konnte damals aber nur unter einer neuen religiösen Verkleidung, einer neuen Ideologie geschehen. „Die revolutionäre Opposition gegen die Feudalität geht durch das ganze Mittelalter. Sie tritt auf, je nach den Zeitverhältnissen, als Mystik, als offene Ketzerei, als bewaffneter Aufstand.“[13]
Das war die gesellschaftliche Ausgangssituation, in der nun verschiede Akteure die Bühne betraten, die die Interessen der verschiedenen Schichtungen repräsentierten. Dabei darf nicht vergessen werden, wenn im Folgenden auf einzelne bedeutende Vertreter dieser neuen Ideologie eingegangen wird, dass es eine ökonomische Notwendigkeit war, den gesellschaftlichen Wandel zu vollziehen und dass sich die Verkünder dieser Notwendigkeit auch finden würden. Aber wer diese Verkünder sein würden, ist eine Zufälligkeit der Geschichte. „Hier kommen dann die sogenannten großen Männer zur Behandlung. Dass ein solcher und grade dieser zu dieser bestimmten Zeit in diesem gegebenen Lande aufsteht, ist natürlich reiner Zufall. Aber streichen wir ihn weg, so ist Nachfrage da für Ersatz und dieser Ersatz findet sich, tant bien que mal (recht oder schlecht), aber er findet sich auf die Dauer.“[14]
Die 95 Thesen des Doktor Martin Luther waren Ausdruck von Veränderungen der ökonomischen Verhältnisse in der Gesellschaft, die das Bürgertum zu den Herrschern der Welt machen würde. Ihre Veröffentlichung bedeutete ein Fanal, ein Zeichen den Kampf gegen das „internationale Zentrum des Feudalismus“, die römisch-katholische Kirche aufzunehmen. „Die freie Entwicklung des Bürgertums vertrug sich nicht mehr mit dem Feudalsystem, das Feudalsystem musste fallen.“[15]
Luther trat mit seinen Thesen aus der Masse hervor und katapultierte sich damit an die Spitze einer Bewegung. Er formulierte den Angriff auf das „große internationale Zentrum des Feudalsystems“ und einte damit die gesamte Opposition gegen die römisch-katholische Kirche. Sein Angriff galt dem Verkauf von Ablassbriefen, der zu der Zeit vor allem zur Finanzierung des Baus des Peterdoms zu Rom diente (und der Deckung der Schulden des Fürstenbischofs bei den Fuggern). Die Veröffentlichung der Thesen war noch auf Latein. Doch kursierten schon bald deutsche Übersetzungen auf Flugschriften in den deutschen Städten.
In der folgenden theologischen Auseinandersetzung geriet Luther schnell in Widerspruch zur Kirchenleitung und dem Kaiser als Schirmherr der Kirche. Auf dem Reichstag zu Worms 1521 standen sich der Kaiser und die Fürsten gegenüber. Luther wurde zum Spielball ihrer verschiedenen Interessen. Die Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Fürsten hatten ihm den Auftritt ermöglicht und er berief sich auf die Bibel als alleinige Glaubensautorität. Auf Betreiben des Papstes wurde er in Acht und Bann gebracht, was bedeutete, dass man ihn weder beherbergen noch unterstützen durfte und man ihn fangen und dem Kaiser ausliefern sollte. Seine Schriften sollten verbrannt werden. Um dem zu entgehen, wurde er auf die Wartburg „entführt“, wo er das Neue Testament ins Deutsche übersetzt. Es kam immer wieder zu Unruhen, wenn seine Schriften verbrannt werden sollten.
„Das ganze deutsche Volkgeriet in Bewegung. Auf der einen Seite sahen die Bauern und Plebejer in seinen Aufrufen wider die Pfaffen, in seiner Predigt von der christlichen Freiheit das Signal der Erhebung; auf der anderen schlossen sich die gemäßigten Bürger und ein großer Teil des niederen Adels ihm an.“[16]
Aus Luthers Aufruf gegen die Auswüchse der Kirche und für die „Freiheit des Christenmenschen“ zogen die verschiedenen Schichtungen unterschiedliche Konsequenzen. Ihre Handlungen wurden von ihrer ökonomischen Stellung innerhalb der Gesellschaft bestimmt. Sie bildeten drei Lager, zum einen das katholisch-reaktionäre, zum anderen das bürgerlich-reformierende und zum dritten das revolutionäre.
Die katholische Reaktion war am Erhalt des Status Quo interessiert. Sie bestand aus der Reichsgewalt, also dem Kaiser, den geistlichen Fürstbischöfen und einem Teil der weltlichen Fürsten, hauptsächlich des reichen Adels, der Prälaten und des städtischen Patriziats. Sie wollten ihre Pfründe und Einkünfte behalten.
Unter dem Banner der lutherischen Reform sammelten sich die besitzenden Stände, die Masse des niederen Adels, die Bürgerschaft und selbst ein Teil der Fürsten, die sich durch die Vereinnahmung der geistlichen Besitztümer zu bereichern gedachte. Sie wollten die Macht von Kirche und Papst und des Kaisers brechen. Sie forderten die Unabhängigkeit vom Papst und nationale Eigenständigkeit. Die Einkünfte des Landes sollten ihnen zur Verfügung stehen und nicht nach Rom gehen.
Die Bauern und die Plebejer schlossen sich zur revolutionären Partei zusammen. Sie glaubten, dass die Tage ihrer Unterdrückung nun gezählt waren. Aber ihre Forderungen gingen über das in der damaligen Zeit Mögliche hinaus. Die Forderung nach Gleichheit war utopisch in einer Epoche, in der es um die Ablösung des Feudalismus durch den Kapitalismus, die letzte Klassen- und Ausbeuterherrschaft in der Geschichte der Menschheit ging.
Eine Oppositionsgruppe zur katholischen Kirche war die Reichsritterschaft. Sie kämpfte bis zu ihrer endgültigen Niederlage 1522 gegen ihren gesellschaftlichen Untergang auch unter dem Banner der Reformation. Die politischen Forderungen wurden besonders energisch unter der Führung von Franz von Sickingen vertreten. Theoretischer Repräsentant dieser Bestrebungen war Ulrich von Hutten. Zusammengefasst forderte er im Namen des Adels eine Reichsreform, die sämtliche Fürsten beseitigen sollte, die Säkularisierung sämtlicher geistlicher Fürstentümer und Güter, um die Herrschaft der Adelsdemokratie mit monarchischer Spitze herzustellen. „Durch die Herstellung der Herrschaft des Adels, der vorzugsweis militärischen Klasse, durch die Entfernung der Fürsten, der Träger der Zersplitterung, durch die Vernichtung der Macht der Pfaffen und durch die Losreißung Deutschlands von der geistlichen Herrschaft Roms glaubten Hutten und Sickingen das Reich wieder einig, frei und mächtig zu machen.“[17]Ihre Forderungen einer reinen Adelsdemokratie waren insgesamt rückwärtsgewandt und für die Zeit unmöglich, die gesellschaftliche Stufe befand sich bereits auf der Stufe der ausgebildeten Feudalhierarchie. Auch konnten sie keine Bündnispartner oder Bundesgenossen finden. Die Städte hatten genügend Erfahrungen in der Vergangenheit, ihnen nicht zu trauen. Sie hatten sich den Raubrittern mit der Zeit zu erwehren gewusst und würden sich ihnen nicht mehr unterordnen. Für die Bauern waren die Adeligen gerade der Feind, der sie drangsalierte und aussog. Die einflussreichen Theoretiker der Reformation hielten es entweder mit den Städten, den Fürsten oder mit den Bauern. Und die Beseitigung der Leibeigenschaft und Hörigkeit und aller Adelsprivilegien war wiederum für sie keine Option, um die Bauern zu gewinnen. Der Adel stand schließlich im Kampf 1522 den Fürsten allein gegenüber. Damit war ihr Untergang besiegelt. „Von jetzt an tritt der Adel nur noch im Dienst und unter der Leitung der Fürsten auf. Der Bauernkrieg, der gleich darauf ausbrach, zwang ihn noch mehr, sich direkt oder indirekt unter den Schutz der Fürsten zu stellen und bewies zur gleichen Zeit, dass der deutsche Adel es vorzog, lieber unter fürstlicher Oberhoheit die Bauern fernerhin zu exploitieren (auszubeuten) als die Fürsten und Pfaffen durch ein offenes Bündnis mit den emanzipierten Bauern zu stürzen.“[18]
Die Städte waren damals die Zentren des Fortschritts und auch Gegner der katholischen Feudalmacht. Die bedeutendere Städte hatten sich durch den Fernhandel in Metropolen verwandelt. Sie waren reich und hatten vielfältige Kontakte nach Italien und kamen so mit dem Humanismus und der Renaissancebewegung zusammen. Die Gesellschaft war im Umbruch. Daraus resultierten bedeutende Leistungen in der Kunst und Wissenschaft. Kolumbus entdeckte Amerika, es war allgemein bekannt, dass die Erde rund war und Kopernikus saß an seinem Teleskop, entdeckend, dass die Erde um sich selbst dreht und um die Sonne. In der Kunst waren nicht mehr nur biblische Szenen denkbar, Albrecht Dürer malte sich frontal zum Betrachter, der Mensch als Mittelpunkt des Interesses. Auch in der Literatur gab es einen ungeheuren Aufschwung, der sich im 16. Jahrhundert weiter fortsetzte. Die Gelehrten der damaligen Zeit waren Universalgelehrte, stellvertretend sei Leonardo da Vinci genannt. Sie waren noch nicht von der Teilung der Arbeit betroffen. „Die Erde wurde eigentlich jetzt erst entdeckt und der Grund gelegt zum späteren Welthandel und zum Übergang des Handwerks in die Manufaktur, die wieder den Ausgangspunkt bildete für die moderne große Industrie.“[19]
Deshalb fiel die neue Ideologie besonders bei den Bürgern der Städte auf fruchtbaren Boden.
Einen besonderen Stellenwert hatte für die Verbreitung der Reformation der Buchdruck. Die Druckereien waren eine der ersten Massenproduktionen. Sie konnten in kürzester Zeit eine ungeheure Zahl an Flugschriften produzieren, wenn sie genügend Abnehmer fanden. Die Buchdrucker suchten in jener Zeit verzweifelt nach profitablen Absatzmärkten. Also suchten sie nach Themen, für deren Drucke sich genügend Leute interessierten, um sie auch zu kaufen und fanden durch die theologischen Auseinandersetzungen reißenden Absatz ihrer Produkte. Die Thesen des Professors aus Wittenberg interessierten wirklich viele. Also stürzten sich die Drucker auf jede Äußerung und verbreiteten sie dadurch weiter. So war Luther einer der auflagenstärksten Schreiber seiner Zeit.
Bald erkannten auch seine Gegner die Macht der neuen Medien und bedienten sich ihrer genauso. Die Auseinandersetzungen erreichten auch die Drucker selber, wenn sie die falschen Texte druckten, wurden sie der Zensur unterworfen oder sogar mit Berufsverbot belegt und aus der Stadt gejagt. Drucker waren meist fortschrittliche Menschen, die die neue Ideologie offen unterstützten.
Lesen und schreiben konnte damals nur eine Minderheit, aber in den Städten drehte sich gerade das Verhältnis. Und auf vielen Flugschriften waren auch Bilder, die den Inhalt verdeutlichen sollten. So konnten sich auch des Lesens Unkundige informieren.
Verschieden Forderungen Luthers entsprachen den Bedürfnissen der Bürger als neue Träger des Fortschritts.
Luther forderte Bildung auch für das gemeine Volk. Jeder sollte die Bibel lesen können. Das erforderte auf der einen Seite die Übersetzung ins Deutsche. Diese Leistung Luthers ist unbestritten, die dazu eine einheitliche Schriftsprache schuf. Auf der anderen Seite sollten überall allgemeine Schulen eingerichtet werden, in denen alle Kinder, also auch die Mädchen unterrichtet werden. Die Überwindung des Analphabetentums war ein Erfordernis für die weitere bürgerliche Entwicklung. Die Bürger sollten durch Sparsamkeit ihren Besitz zusammenhalten, was wichtig war für die Bildung von Kapital. Auch seine Forderung eines Zinsverbots war dem allgemein verbreiteten Missmut bei Adel und Handwerkern gegen die Ausplünderungspraktiken des Handelskapitals geschuldet. Er nennt dabei ausdrücklich die Fugger (die ja auch direkt vom Ablasshandel profitierten), die viel Geld in Wahlen von Fürsten steckten und deren Kriege finanzierten und sich über das Zinsverbot der Kirche schon hinweggesetzt hatten. Marx schreibt im Kapital Band III zum Zins im Mittelalter, „…in jenen Zeiten reguliert die Rate des Zinses die Rate des Profits. Wenn der Geldverleiher dem Kaufmann eine hohe Zinsrate aufbürdete, musste der Kaufmann eine höhere Profitrate auf seine Waren schlagen. Daher wurde eine große Summe Geldes aus den Taschen der Käufer genommen, um sie in die Taschen der Geldverleiher zu bringen.“[20] So ächzten die Bürger in den Städten unter den Forderungen ihrer reicheren Konkurrenten, auch wenn das Zinsverbot der Entwicklung des Kapitalismus entgegenstand.
Da durch gute Werke nun nicht mehr die Gnade Gottes erkauft werden konnte, wurde auch das bestehende Almosensystem in Frage gestellt. Die Forderung, jeder sollte arbeiten und sein Brot selbst verdienen, war verbunden mit dem Verbot von Bettelei.
Die Plebejer in den Städten sahen auf der einen Seite, dass die Herrschaft in Frage gestellt wurde, sie sich von Zunft- und anderen Zwängen befreien könnten. Aber auf der anderen Seite wurde ihre elendige Existenzgrundlage noch weiter verschlechtert, da ihre „Daseinsberechtigung“ als Objekt mildtätiger Gaben diskreditiert wurde. Meist bestand ihr Kampf noch daraus, sich möglichst gewinnbringend an den Meistbietenden zu verdingen, um die Stimmung in der Stadt zu dessen Gunsten zu beeinflussen.
Sie fanden in Thomas Müntzer, Pfarrer in Allstedt, anfänglich ein Anhänger Luthers, ihren Agjtator und Führer, der einen Zusammenschluss mit den Bauern und Bergmannsknappen predigte. Müntzers Partei war die Vertreterin desjenigen Teils der Plebejer, die besitz- und rechtslos als Keim einer aufkommenden Arbeiterklasse ihre Zukunft nicht in der bürgerlichen Gesellschaft sahen, sondern ihre Phantasie schon auf eine kommunistische Gesellschaft richten konnten. Aber ihre Vorstellungen von der Auflösung der feudalen und zunftbürgerlichen Gesellschaft gingen über die ökonomischen Möglichkeiten der damaligen Zeit weit hinaus.
Die wahren Träger des Klassenkampfs von unten waren damals die Bauern. Sie hatten nichts mehr zu verlieren. Ihre überkommenen Rechte an gemeinschaftlich bewirtschafteten Land, freie Jagd etc. hatten sie verloren. Sie wurden von allen anderen Ständen ausgebeutet. Die Kirche, die Fürsten, die Adeligen, die Städte, alle saugten sie aus und raubte ihnen die Existenzgrundlage.
Als sie hörten, dass die römische Kirche ihr Recht zur Unterdrückung verloren hätte, da war die Folgerung, dass auch die Herren damit ihr Recht zur Herrschaft verloren hätten, nicht weit. Ein Großteil der Bauern kämpfte um die Wiederherstellung der alten Rechte und ihre Freiheit. Weitergehende Forderungen nach Abschaffung aller alten Ordnung vertraten nur wenige. Aber sowohl das eine, weil zu spät gekommen, wie das andere, weil noch viel zu früh, waren zum Scheitern verurteilt.
Wie oben schon gesagt war Luther durch seinen Thesenanschlag mit einem Schlag zum Einiger der gesamten Opposition gegen die römische Kirche geworden. Doch diese Einigung konnte nicht von langer Dauer sein. Die Interessen waren zu verschieden. Zum einen ging es darum, die Früchte der Reformation zu sichern und friedlich weiter zu entwickeln und nicht zwischen den Kräften der Restauration, des Wiedererstarkens der katholischen Kirche und der Revolution der Bauern und unterdrückten Plebejern zerrieben zu werden. Die Bürger bekämpften den Aufstand der Bauern erbittert. Sie schlossen ein Bündnis mit den Fürsten und verrieten die Bauern. Luther unterlegte den Kampf gegen diese mit Zitaten aus der Bibel, die das Recht der weltlichen Macht zur Herrschaft belegen sollten. „Man soll sie zerschmeißen, würgen und stechen, heimlich und öffentlich, wer da kann, wie man einen tollen Hund totschlagen muss… Darum, liebe Herren, loset hie, rettet da, steche, schlage, würge sie, wer da kann, bleibst du darüber tot, wohl dir, seligeren Tod kannst du nimmermehr überkommen“[21]Damit verriet er nicht nur die Bauern, sondern auch die bürgerliche Bewegung. „Die lutherische Reformation brachte es allerdings zu einer neuen Religion – und zwar zu einer solchen, wie die absolute Monarchie sie gerade brauchte. Kaum hatten die nordostdeutschen Bauern das Luthertum angenommen, wo wurden sie auch von freien Männern zu Leibeigenen degradiert.“[22]
Zum anderen wollten die Bauern ihre Interessen durchsetzen. In Süddeutschland kam es immer wieder zu lokalen Bauernerhebungen gegen weitere Erhöhungen der Abgaben und Erweiterungen der Dienste. 1525 schließlich kam es zum „Großen Bauernkrieg“, eine gleichzeitige Erhebung mehrerer Haufen beginnend in Süddeutschland, Franken und Thüringen gegen den Verrat des „Schwäbischen Bundes“ von Adeligen und Städten an den Bauern, der sich weiter ausbreitete.[23]
Dort hatten bereits in der Vergangenheit Ketzer und Mystiker gewirkt, die mit Thomas Müntzer in Verbindung standen. Er und sein Bund von Bauern und Bergknappen aus der Umgebung Allstedts bereiteten einen bewaffneten Aufstand vor, der verraten wurde. Er floh aus Allstedt, wanderte durch Süddeutschland und konnte dort seine Lehre unter den aufständisch gesinnten Bauern weiter verbreiten. Trotzdem blieb seine Partei eine kleine Minderheit in den Bauernhaufen des großen Bauernkrieges.
Die Bauern formulierten ihre Forderungen in den berühmten „12 Artikeln“ (siehe Kasten). Diese wurden von ihren Gegnern postwendend abgelehnt. Sie machten den Versuch, in Verhandlungen untereinander eine für ganz Deutschland gültige Regelung zu finden. Es stellte sich aber heraus, „wie kein einzelner Stand, auch der der Bauern nicht, weit genug entwickelt war, um von seinem Standpunkt aus die gesamten deutschen Zustände neu zu gestalten. Es zeigte sich sogleich, dass man zu diesem Zweck den Adel und ganz besonders die Bürgerschaft gewinnen musste. Wendel Hipler bekam hiermit die Leitung der Verhandlungen in seine Hände … Gerade wie Münzer, als Repräsentant der ganz außer dem bisherigen offiziellen Gesellschaftsverband stehenden Klasse, der Anfänge des Proletariats, zur Vorahnung des Kommunismus getrieben wurde, geradeso kam Wendel Hipler, der Repräsentant sozusagen des Durchschnitts aller progressiven Elemente der Nation, bei der Vorahnung der modernen bürgerlichen Gesellschaft an. … sobald die Forderungen der Bauern zu einer „Reichsreform“ zusammengefasst wurden, mussten sie sich nicht den momentanen Forderungen, aber den definitiven Interessen der Bürger unterordnen.“[24]
Müntzer kehrte im März 1525 nach Thüringen zurück und wurde in Mühlhausen sehnlichst erwartet. Dort wurde der alte patrizische Rat gestürzt und unter der Mitarbeit Müntzers ein neuer Rat gewählt. Das Dilemma in Mühlhausen war, dass zwar die Masse der Kleinbürger gewonnen war, aber die Zeit war noch nicht reif für die Herrschaft der Besitzlosen – das Proletariat war in den allerersten Anfängen seiner Entwicklung. Was er tun konnte, war nicht das, was er tun sollte. „Er ist mit einem Wort gezwungen, nicht seine Partei, seine Klasse, sondern die Klasse zu vertreten, für deren Herrschaft die Bewegung gerade reif ist. Er muss im Interesse der Bewegung selbst die Interessen jener fremden Klasse durchführen und seine eigne Klasse mit Phrasen und Versprechungen, mit der Beteuerung abfertigen, dass die Interessen jener fremden Klasse ihre eignen Interessen sind.“[25]So waren ihre Forderungen, die Gemeinschaft aller Güter, die gleiche Verpflichtung aller zur Arbeit und die Abschaffung aller Obrigkeit nicht zu verwirklichen. Außer allgemeine Wahlen zum Rat unter Kontrolle der Plebejer und einer improvisierten Versorgung der Armen durch Naturalien war nichts von seinem verkündeten Programm geblieben.
Letztendlich standen die Bauern in isolierten Haufen allein den Fürstenheeren gegenüber. Weder die Ritterschaft noch die Städte stellten sich auf ihre Seite. Dazu schlecht ausgebildet und schlecht bewaffnet gingen sie im Kampf des Bauernkriegs 1525 einer Niederlage entgegen.
Zusammenfassung
Der „Sündenfall“ des deutschen Bürgertums liegt im 16. Jahrhundert beim Verrat an der demokratischen Revolution und die daraus folgende Niederlage der Bauern im deutschen Bauernkrieg. Dem Bürger hatte seine Feigheit nichts gebracht. Der Kampf um die bürgerliche, demokratische Nation, der so verheißungsvoll mitten in einem Europa des Feudalismus begann, rückte für Deutschland in nicht mehr greifbare Ferne. Durch diese ungünstige Ausgangssituation war die Position des aufstrebenden deutschen Bürgertums geschwächt und die Grundlage für seine sprichwörtliche Feigheit gelegt.
Die Gewinner waren die weltlichen Fürsten. Im zersplitterten Deutschland behinderten sie den freien Aufstieg der Bourgeoisie. Während in England und Frankreich das Emporkommen des Handels und der Industrie die Verkettung der Interessen über das ganze Land und damit die politische Zentralisation zur Folge hatte, brachte Deutschland es nur zur Gruppierung der Interessen nach Provinzen, um bloß lokale Zentren und damit zur politischen Zersplitterung. Ein Jahrhundert später ruinierte der dreißigjährige Krieg das Land vollends undhatte zur Folge, dass Deutschland für 200 Jahre aus der Reihe der politisch tätigen Nationen Europas gestrichen wurde. Der Stillstand der bürgerlichen Entwicklung sowohl politisch wie auch ökonomisch begründete seine spätere Rolle als zu spät und zu kurz gekommene Kapitalistenklasse, die sich durch eine besondere Aggressivität auszeichnet.
Was also gibt es zu feiern, 500 Jahre nach dem Beginn der Reformation in Deutschland?
Dass die katholische Kirche als Feudalmacht gestürzt wurde und den größten Teil ihrer Güter verlor? Leider wurde die weltliche Feudalmacht nicht gestürzt, sie eignete sich die kirchlichen Güter an. Die Leibeigenschaft bestand bis ins 19. Jahrhundert hinein fort. Bis 1945/46 beherrschte adeliger Großgrundbesitz insbesondere die ostelbischen Gebiete, durch die die Bauern in Abhängigkeit gehalten wurden. Erst durch die von den Alliierten (Sowjetunion, USA, Großbritannien, Frankreich) verordnete Bodenreform („Junkerland in Bauernhand“) wurde in der sowjetisch besetzten Zone die bürgerliche Revolution nachgeholt.
Dass mit Luthers Bibelübersetzung die Grundlage für eine einheitliche hochdeutsche Sprache geschaffen wurde? Das war ja wirklich eine große Leistung, die den Bauern zur Verständigung in ihrem gemeinsamen Kampf diente, uns zurzeit aber kaum. Vielmehr herrscht die von der BILD-Zeitung geprägte verstümmelte kindisch-aggressive Sprache, die im Rahmen der „Leitkultur“ regierungsoffizielle Satzungetüme hervorbringt wie „Wir sind nicht Burka“.
Dass mit der Reformation erste Ansätze für eine bürgerliche Demokratie geschaffen wurden? Aber die wurden ja gleich wieder zerschmettert durch die mörderische Vernichtung der aufständischen Bauern, durch die freiwillige Unterordnung der Bürger unter die Fürsten. Dieser Verrat wurde sogar noch wiederholt, 1848, als die deutsche Bourgeoisie eine zweite Chance bekam, sich endgültig vom Mittelalter zu emanzipieren. Aber es kam auch hier anders: „Und zwar erschrak die deutsche Bourgeoisie damals nicht so sehr vor dem deutschen wie vor dem französischen Proletariat. Die Pariser Junischlacht 1848 zeigte ihr, was sie zu erwarten habe; das deutsche Proletariat war gerade erregt genug, um ihr zu beweisen, dass auch hier die Saat für dieselbe Ernte schon im Boden stecke; und von dem Tage an war der politischen Aktion der Bourgeoisie die Spitze abgebrochen. Sie suchte Bundesgenossen, sie verhandelte sich an sie um jeden Preis … Diese Bundesgenossen sind sämtlich reaktionärer Natur. Da ist das Königtum mit seiner Armee und seiner Bürokratie, da ist der große Feudaladel, da sind die kleinen Krautjunker, da sind selbst die Pfaffen. Mit allen diesen hat die Bourgeoisie paktiert und vereinbart, nur um ihre liebe Haut zu wahren, bis ihr endlich nichts mehr zu schachern blieb. Und je mehr das Proletariat sich entwickelte, je mehr es anfing, sich als Klasse zu fühlen, als Klasse zu handeln, desto schwachmütiger wurden die Bourgeois.“[26] So verriet die deutsche Bourgeoisie auch diese Revolution. Sie mordete die Pariser Kommune, zettelte zwei Weltkriege an, ersetzte die bürgerliche Demokratie durch den Faschismus und greift heute täglich und stündlich bürgerliches Recht, bürgerliche Demokratie an.
Kurz gesagt: Es gibt nichts zu feiern. Es gibt einen freien Tag zu genießen und der erschlagenen Bauern und Thomas Müntzers zu gedenken, deren Vermächtnis erst heute, unter den Klassenverhältnissen des Kapitalismus, erfüllbar ist: den Kampf um eine Welt ohne Ausbeutung und Unterdrückung zu führen.
H. Renrew
Luther
Martin Luther wurde 1483 in Eisleben geboren. Er wurde zur Schule geschickt und konnte anschließend die Universität besuchen. 1505 trat er ins Kloster der Augustiner-Eremiten ein und wurde Priester. Ab1508 studierte er Theologie in Wittenberg. Nach seinem Abschluss reiste er im Auftrag seines Ordens nach Rom. Dort hatte er tiefen Einblick in den Sittenverfall der Curie. Ab 1512 übernahm er den Lehrstuhl in Wittenberg und Führungsaufgaben seines Ordens. Bis 1517 formulierte er sein neues Verständnis der Theologie aus und veröffentlichte seine Überzeugungen vor allem über das seiner Meinung nach falsche Bußverständnis, das durch den Erwerb von Ablassbriefen zum Ausdruck kam und über die ‚Freiheit eines Christenmenschen‘. Er vertrat zusammengefasst die Ansicht, dass nur der Glaube des Einzelnen zur Gnade vor Gott führen könne. Kein Werk, kein Handeln würden die Menschen von der Sünde befreien können, nur der Glaube an Gott könnte sie erlösen. Konsequent weitergedacht bedeutete das, dass der Einzelne nur Gott verantwortlich war und keinem Anderem. Und das wiederum bedeutete, dass auch die Kirche und ihre Priester ihre exklusive Stellung verloren, denn sie konnte nun nichts mehr für den Einzelnen tun. Im Gegenteil, sie standen geradezu der Gnade im Weg und mussten somit beseitigt werden. Der Papst wurde zum Antichristen deklariert. „So wie wir Diebe mit Schwert, Mörder mit Strang, Ketzer mit Feuer strafen, warum greifen wir nicht vielmehr an diese schädlichen Lehrer des Verderbens, als Päpste, Kardinäle, Bischöfe und das Geschwärm der römischen Sodoma, mit allerlei Waffen und waschen unsere Hände in ihrem Blut!“[27] 1518 wurde er in Rom der Ketzerei angeklagt. 1521 wurde er exkommuniziert und auf dem Reichstag zu Worms angeklagt und für vogelfrei erklärt. Trotzdem lehnte er die Einladung von Hutten ab, sich der Adelsverschwörung gegen Pfaffen und Fürsten anzuschließen. Kurfürst Friedrich „der Weise“ ließ ihn heimlich auf die Wartburg bringen. Er nutzte die Zeit dort, das Neue Testament ins Deutsche zu übersetzen. 1522 konnte er nach Wittenberg zurückkehren. Dort setzte er sich für eine gemäßigte Reformation der Kirche durch die Hand der Fürsten ein im Gegensatz zu seinen ehemaligen Mitstreitern Müntzer und Karlstadt. Als die Bauern sich erhoben, forderte er die Unterordnung unter alle weltliche Obrigkeit. Er lehnte die Befreiung der Bauern ab und rief offen zum Mord an den Aufständischen. Damit verzichtete er auf jegliche gesellschaftliche Veränderungen. 1525 heiratete er eine entflohene Nonne, die geschäftstüchtig genug war, um für sein Einkommen und Wohlleben zu sorgen. In der Folgezeit veröffentlichte er zahllose Schriften und Pamphlete – darunter auch seine berüchtigten antijüdischen Schriften –, lehrte an der Universität und ließ sich weiterhin für fürstliche Intrigen einspannen. Er starb am 18. Februar 1546 in Eisleben.
Zwingli und Calvin
„In der Schweiz bildete sich unter der Führung von Zwingli ein radikal-bürgerliches Lager heraus, das von den besitzenden Kreisen von Zürich und Bern bestimmt wird, humanistische Bestrebungen mit den Forderungen des bürgerlich-gemäßigten Lagers verschmilzt, sich aber mit seiner republikanischen Haltung und in seinem Willen zur Umgestaltung des gesamten öffentlichen Lebens grundsätzlich vom lutherischen Lager unterscheidet, in dem die Fürsten bestimmend sind.“[28]
Nicht vergessen soll an dieser Stelle Johann Calvin sein. Ein Schüler Luther und Zwinglis, dessen Lehre Ehrlichkeit, Fleiß, Sparsamkeit, Disziplin und vor allem Verzicht auf Vergnügungen und Luxus predigte. Dabei war die Frage, ob Gottes Gnade erreicht werden konnte, durch den wirtschaftlichen Erfolg im Berufsleben zu erkennen. Im Gegensatz zu Müntzer sahen die Calvinisten die Armen als die Gottlosen an. Besondere Verbreitung fanden sie in der Schweiz, Flandern und Schottland und lieferten „das Kostüm der Interessen des damaligen Bürgertums zum zweiten Akt der bürgerlichen Revolution, der in England vor sich ging.“[29] Danach „war das Christentum unfähig geworden, irgendeiner progressiven Klasse als ideologische Verkleidung ihrer Strebungen zu dienen; es wurde mehr und mehr Alleinbesitz der herrschenden Klassen und diese wenden es an als bloßes Regierungsmittel, womit die unteren Klassen in Schranken gehalten werden… wobei es keinen Unterschied macht, ob die Herren an ihre respektiven Religionen selbst glauben oder auch nicht.“[30]
Müntzer
Thomas Müntzer wurde um 1489 in Stolberg geboren. Er immatrikulierte sich 1512 an der Universität Frankfurt a.d. Oder, studierte vermutlich auch in Halle a.d. Saale. Fest steht, dass er sich zwischen 1517 und 1519 immer wieder in Wittenberg aufhielt und ein Anhänger Luthers war. 1520 hielt er sich in Zwickau auf und hatte Kontakt zu den dort wirkenden Mystikern. 1521 musste er die Stadt wieder verlassen und ging nach Prag, wo Reste der hussitischen Bewegung noch zu finden waren. 1523 wurde er Prediger in Allstedt in Thüringen. Er heiratete eine entflohene Nonne. Er begann, die Liturgie in Deutsch statt in Latein abzuhalten und predigte für eine gewaltsame Beseitigung des Papstes und gegen die sozialen Missstände und gegen die Unterdrückung der Bauern. Thomas Müntzer wetterte so wie anfangs Luther gegen die katholische Kirche und setzte nun dessen Agitation fort und rief die sächsischen Fürsten und das Volk auf zum bewaffneten Kampf gegen die römischen Pfaffen. Dabei ging er noch viel weiter als Luther. Auch die Bibel wäre ein von Menschen gemachtes Buch und müsste auch noch fortgeschrieben werden. Das verheißene Reich Gottes sollte auf Erden aktiv erkämpft werden und alles Gottlose vernichtet. Und nur wer „das Kreuz auf sich nimmt“, „das Leid durchlebt“, durch „seelische und materielle Not reif wird, die Vernunft Gottes zu erfahren“ kann im Himmel auf Erden leben. Und das traf nur auf die Armen zu. Die Reichen waren die Gottlosen, die es zu vernichten galt. Er gründete einen Bund, der das „Reich Gottes“ für die ganze Christenheit erkämpfen sollte. In dem es keine Standesunterschiede, kein Privateigentum und keine den Gesellschaftsmitgliedern gegenüber fremde Staatsgewalt geben sollte. Und wer sich ihm nicht anschließen wollte, sollte vernichtet werden. 1524 musste er nach Mühlhausen fliehen. In den folgenden Monaten durchstreifte er Franken, Schwaben, Elsaß, Schwarzwald und die Schweiz. Überall hielt er seine Predigten, sammelte Gleichgesinnte und hielt Kontakt zu den aufständischen Bauern. Als der Aufstand nah war, kehrte er nach Thüringen zurück, um dort die Bauern selbst zu führen. Nach der Niederlage in der Schlacht bei Frankenhausen wurde er gefangen genommen und am 27. Mai 1525 enthauptet und gepfählt.
Flugschrift der zwölf Artikel von 1525[31]
1. Jede Gemeinde soll das Recht haben, ihren Pfarrer zu wählen und ihn zu entsetzen (abzusetzen), wenn er sich ungebührlich verhält. Der Pfarrer soll das Evangelium lauter und klar ohne allen menschlichen Zusatz predigen, da in der Schrift steht, dass wir allein durch den wahren Glauben zu Gott kommen können.
2. Von dem großen Zehnten sollen die Pfarrer besoldet werden. Ein etwaiger Überschuss soll für die Dorfarmut und die Entrichtung der Kriegssteuer verwandt werden. Der kleine Zehnt soll abgetan (aufgegeben) werden, da er von Menschen erdichtet ist, denn Gott der Herr hat das Vieh dem Menschen frei erschaffen.
3. Ist der Brauch bisher gewesen, dass man uns für Eigenleute (Leibeigene) gehalten hat, welches zu Erbarmen ist, angesehen dass uns Christus alle mit seinen kostbarlichen Blutvergießen erlöst und erkauft hat, den Hirten gleich wie den Höchsten, keinen ausgenommen. Darum erfindet sich mit der Schrift, dass wir frei sind und sein wollen.
4. Ist es unbrüderlich und dem Wort Gottes nicht gemäß, dass der arme Mann nicht Gewalt hat, Wildbret, Geflügel und Fische zu fangen. Denn als Gott der Herr den Menschen erschuf, hat er ihm Gewalt über alle Tiere, den Vogel in der Luft und den Fisch im Wasser gegeben.
5. Haben sich die Herrschaften die Hölzer (Wälder) alleine angeeignet. Wenn der arme Mann etwas bedarf, muss er es um das doppelte Geld kaufen. Es sollen daher alle Hölzer, die nicht erkauft sind (gemeint sind ehemalige Gemeindewälder, die sich viele Herrscher angeeignet hatten), der Gemeinde wieder heimfallen (zurückgegeben werden), damit jeder seinen Bedarf an Bau- und Brennholz daraus decken kann.
6. Soll man der Dienste (Frondienste) wegen, welche von Tag zu Tag gemehrt werden und täglich zunehmen, ein ziemliches Einsehen haben (sie ziemlich reduzieren), wie unsere Eltern gedient haben, allein nach Laut des Wortes Gottes.
7. Soll die Herrschaft den Bauern die Dienste nicht über das bei der Verleihung festgesetzte Maß hinaus erhöhen. (Eine Anhebung der Fron ohne Vereinbarung war durchaus üblich.)
8. Können viele Güter die Pachtabgabe nicht ertragen. Ehrbare Leute sollen diese Güter besichtigen und die Gült nach Billigkeit neu festsetzen, damit der Bauer seine Arbeit nicht umsonst tue, denn ein jeglicher Tagwerker ist seines Lohnes würdig.
9. Werden der große Frevel (Gerichtsbußen) wegen stets neue Satzungen gemacht. Man straft nicht nach Gestalt der Sache, sondern nach Belieben (Erhöhungen von Strafen und Willkür bei der Verurteilung waren üblich). Ist unsere Meinung, uns bei alter geschriebener Strafe zu strafen, darnach die Sache gehandelt ist, und nicht nach Gunst.
10. Haben etliche sich Wiesen und Äcker, die einer Gemeinde zugehören (Gemeindeland, das ursprünglich allen Mitgliedern zur Verfügung stand), angeeignet. Die wollen wir wieder zu unseren gemeinen Händen nehmen.
11. Soll der Todfall (eine Art Erbschaftssteuer) ganz und gar abgetan werden, und nimmermehr sollen Witwen und Waisen also schändlich wider Gott und Ehre beraubt werden.
12. Ist unser Beschluss und endliche Meinung, wenn einer oder mehr der hier gestellten Artikel dem Worte Gottes nicht gemäß wären …, von denen wollen wir abstehen, wenn man es uns auf Grund der Schrift erklärt. Wenn man uns schon etliche Artikel jetzt zuließe und es befände sich hernach, dass sie Unrecht wären, so sollen sie von Stund an tot und ab sein. Desgleichen wollen wir uns aber auch vorbehalten haben, wenn man in der Schrift noch mehr Artikel fände, die wider Gott und eine Beschwernis des Nächsten wären.
Luther und der Antisemitismus
Luther gab dem deutschen Bürgertum eine Wegzehrung mit, von der sie sich bis heute nährt: den Judenhass. Als die katholische Kirche bereits ihres Einflusses beraubt war, hatte sie auch nicht mehr das Hauptinteresse am Judenhass. Es war das deutsche Bürgertum, das vor den Fürsten gekuscht hatte, sich selbst damit der Möglichkeiten seiner Entwicklung beraubt hatte. Nun musste es „den Juden“, den unliebsamen Konkurrenten bekämpfen, der sich aufgrund der besonderen Stellung, in die er seit den Kreuzzügen hineingezwungen worden war (im Gegensatz zu den Christen durften die Juden Zins nehmen, aber keinen Boden besitzen), eben auch besser als das junge Bürgertum mit den bürgerlichen Geschäften unter widrigen mittelalterlichen Verhältnissen auskannte. Luther lieferte die Anleitungen zur Judenverfolgung, die Jahrhunderte später von den Hitlerfaschisten wörtlich aufgegriffen wurde. Er forderte dazu auf, die Synagogen anzuzünden und die Häuser der Juden zu plündern. Kurz vor seinem Tod predigte er, dass alle Juden aus Deutschland vertrieben werden müssten. Es gab im fünfzehnten Jahrhundert in den Vorläuferkämpfen zum deutschen Bauernkrieg durchaus auch Judenhass unter den unwissenden Bauern, soweit sie bei Juden verschuldet waren. Im großen Bauernkrieg selber propagierte Thomas Müntzer die Gleichheit aller Menschen. Er predigte die Perspektive einer Gesellschaft ohne Klassenunterschiede und Privateigentum – er war ein sehr früher und leider zu früher Kommunist – und gab mit diesen Lehren den aufständischen Bauern (wahrscheinlich sogar eher unbewusst) eine Perspektive zur Überwindung auch des bäuerlichen Judenhasses. Der Judenhass Luthers war ganz anderer Natur. Er entsprang nicht der Unwissenheit und nicht der unmittelbaren Not, da Luther früher die Juden sogar als Verbündete gesehen hatte. Es war der Judenhass des feigen deutschen Bürgertums, es war der Judenhass im Interesse solcher wie des Augsburger Handelshauses Fugger, das sich nicht nur über das kirchliche Zinsverbot hinweggesetzt, sondern auch die blutige Niederschlagung des deutschen Bauernkrieges finanziert hatte, es war Hass nicht aus Not sondern aus niederträchtiger Berechnung.[32]
https://kaz-online.de/artikel/revolution-und-verrat
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