Nur in Syrien und Afghanistan sterben
mehr Reporter als in Mexiko. Wer über organisiertes Verbrechen
berichtet, lebt wie im Krieg. Oder gibt auf.
Von W.D. Vogel
taz v. 7.4.2017
MEXIKO-STADT
taz | 27 Jahre lang berichtete sie über lokale
Ereignisse, kritisierte Politiker und deckte Skandale auf.
Doch seit dem vergangenen Wochenende ist damit Schluss: Am
2. April hat die mexikanische Tageszeitung Norte de
Ciudad Juárez ihr Erscheinen eingestellt.
„Es gibt keine Garantien und
keine Sicherheit für einen kritischen und ausgewogenen
Journalismus“, schrieb der Eigentümer des Blattes Oscar A.
Cantú Murguía auf der Titelseite der letzten Ausgabe. Er sei
nicht bereit, das Leben weiterer Mitarbeiter sowie sein
eigenes zu riskieren, stellte er in dem Abschiedsschreiben
klar.
Zehn Tage vorher ermordeten
Unbekannte die Korrespondentin Miroslava Breach. Die
54-Jährige hatte in dem an die USA grenzenden Bundesstaat
Chihuahua für den Norte de Ciudad Juárez
geschrieben. Zudem war sie für die bundesweit erscheinende
linke Tageszeitung La Jornada tätig.
Ein Mann schoss mindestens
acht Kugeln auf die Journalistin, während sie vor ihrem Haus
auf ihren Sohn wartete. Breach starb auf dem Weg ins
Krankenhaus. „Für deine Geschwätzigkeit“, hieß es auf einem
Stück Karton, das die Täter hinterließen. Gezeichnet: „Der
80“. Unter diesem Namen firmiert der Boss einer lokalen
Bande, die für das mächtige Juárez-Kartell arbeitet.
Breach hatte über die
Machenschaften zwischen Kriminellen, Unternehmen und
Politikern berichtet. Allein im März wurden mit Cecilio
Pineda, dem Leiter der Tageszeitung La voz de la Tierra
Caliente, und Ricardo Monlui vom Portal El
Político zwei weitere Journalisten ermordet. Ein
vierter Pressevertreter kämpft um sein Leben, nachdem er am
29. März angeschossen wurde.
Killer bleiben unbestraft
Amnesty International (AI)
spricht von einer „Jagdsaison“ auf Journalisten. „Das Land
ist zu einer No-go-Zone für alle geworden, die es wagen,
über die zunehmende Macht des organisierten Verbrechens und
deren Verstrickungen mit politischen Funktionsträgern zu
sprechen“, erklärte die für den amerikanischen Kontinent
zuständige AI-Sprecherin Erika Guevara Rosas. Tatsächlich
leben Medienschaffende in Mexiko fast so gefährlich wie in
Kriegsgebieten.
Allein seit 2010 wurden nach
staatlichen Angaben 50 Journalistinnen und Journalisten
ermordet. Nur in Syrien und Afghanistan stürben mehr
Pressevertreter eines gewaltsamen Todes, informiert Reporter
ohne Grenzen. Praktisch kein Täter wird verurteilt, die
Straflosigkeit liegt bei über 99 Prozent.
Deshalb zogen Kollegen
Breachs nach deren Tod vor die Generalstaatsanwaltschaft in
Mexiko-Stadt. „Wir fordern Gerechtigkeit, wenn ein
Journalist angegangen, belästigt oder ermordet wird, weil
damit zugleich das Recht der Gesellschaft auf Information
angegriffen wird“, erklärte der Reporter Arturo Cano.
Auch Cantú Murguía vom Nortekritisiert,
dass die Behörden nichts tun: „Man hat uns alleingelassen.“
Seine Zeitung sei von der Regierung bestraft worden, weil
sie über deren korrupte Strukturen berichtet habe. Murguía
erinnerte an eine Erklärung, die das zweite große Blatt in
der Stadt, der Diario de Juárez, 2010
veröffentlicht hatte. Nachdem zwei ihrer Mitarbeiter
ermordet wurden, bot die Zeitung den Kartellen einen
„Waffenstillstand“ an. Auf der Titelseite stellten die
Redakteure den Kriminellen eine verzweifelte Frage: „Was
erwartet ihr von uns?“
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