Von Luis Hernández Navarro
(Mexiko-Stadt, 14. März 2017, la jornada-poonal).-
Die neue allgemeine Sintflut droht einen Gutteil der alten
politischen Klasse zu ersäufen. Angesichts dieser Situation haben
sich gewichtige Unternehmer*innen und eine ansehnliche Zahl
traditioneller Politiker*innen entschieden, die Arche Noah der
Morena-Partei von Andrés Manuel López Obrador (AMLO) zu besteigen.
Davon überzeugt, dass es nach dem Schiffbruch der Regierung von
Enrique Peña Nieto keine Zukunft auf dem Boot der PRI mehr gibt,
haben sie sich den Reihen AMLOs angeschlossen. Einige auf leisen
Sohlen, andere mit viel Lärm. Ihr Einfluss lässt sich spüren.
AMLOs illustre Mannschaft
López Obrador war im vierten Monat nacheinander derjenige
potentielle Präsidentschaftskandidat, der die meiste
Aufmerksamkeit in Radio,
Fernsehen und Zeitungen erhielt. Zwar ist der Mann aus dem
Bundesstaat Tabasco zweifellos ein Nachrichtenphänomen. Doch um
die traditionelle Ablehnung der elektronischen Massenmedien
gegenüber dem Kandidaten aufzubrechen, bedarf es hilfreicher
Freund*innen. Einigen, die in AMLO noch vor kurzem die
Inkarnation alles Bösen sahen, erscheint er nun sogar als
schick. […]
In AMLOs Reihen haben sich bedeutende Figuren aus der Umgebung
der Zedillo-Regierung zugesellt. Da ist der Fall von Esteban
Moctezuma, Innen- und Bildungsminister des Ex-Präsidenten und
heute Vorsitzender der Stiftung Azteca des Magnaten Ricardo
Salinas Pliego. In einem Team, das AMLOs „Projekt der Nation
2018-2024“ entwickeln soll, ist Moctezuma ist für den Bereich
Sozialpolitik verantwortlich.
Geleitet wird das Team von dem Unternehmer Alfonso Romo. Der
Millionär aus der Region Monterrey gehört zu den entscheidenden
Förderern, die in der Unternehmerwelt für das Betreten der Arche
Noah werben. Zusammen mit Ernesto Zedillo und Enrique Krauze ist
Romo Beirat des Atlantischen Regierungsinstitutes, einer vom
ehemaligen spanischen Regierungschef José María Aznar geleiteten
konservativen Bildungseinrichtung und alles andere als ein
fortschrittlicher Mensch. Im Oktober 2000 erklärte er, der
chilenische Präsident Salvador Allende müsse „als Mörder“ beurteilt werden.
Obwohl es noch nicht offiziell ist, soll sich auch Santiago
Levy dem Projekt anschließen wollen. Er war vor Jahren dafür
verantwortlich, das Sozialprogramm „Oportunidades“ (Chancen) und
den Plan Puebla-Panama auszuarbeiten.
Öffentlichkeitswirksame Bootsbesteigung
Die Bootsbesteigung des Morena-Schiffes hat ihre speziellen
Momente. Einer davon war am 19. Februar, als AMLO in Tuxtla
Gutiérrez (Bundesstaat Chiapas) das Meeting zur Unterschrift
unter das „Politische Einheitsabkommen für den Wohlstand der
Bevölkerung und die Wiedergeburt Mexikos“ anführte. Unter
Zeltplanen, mit Mützen und Transparenten ausgestattet, nahmen
etwa 20.000 Anhänger*innen teil. Viele von ihnen wurden von
verschiedenen Kandidat*innen für das Gouverneursamt in Chiapas
mobilisiert. Unter sengender Sonne begleiteten 25 ehrenwerte
Bürger*innen den „Peje“ [Spitzname von López Obrador]. Die
Unterschrift unter das Abkommen ist Teil seiner Strategie, die
Beitritte öffentlich zu machen und Muskeln zu zeigen.
Den Anfang hatte bereits am 29. Januar die Stadt Morelia
(Bundesstaat Michoacán) gemacht. Dort schaffte er es, 30.000
Bürger*innen zusammenzubringen. Zu einem guten Teil handelte es
sich um PRD-Mitglieder, darunter 23 Bürgermeister*innen, 62
Gemeinderät*innen, acht Stadtkämmerer und 35 lokale
PRD-Führer*innen. Im Bundesstaat Tabasco erreichte er den
Beitritt von Unternehmer*innen und von mindestens zwei Dutzend
Führungsfiguren anderer Parteien: Aus der PRD, aus der PRI,
Bundesabgeordnete und ehemalige Gouverneurskandidaten wie
Tabascos früherer Innenminister Raúl Ojeda Zubieta, die
ehemalige Bürgermeisterkandidatin der Grünen Partei Mexikos,
Rosalinda López Hernández und des früheren Ministers für
Öffentliche Sicherheit, Audomaro Martínez.
„Das Problem ist oben, bei der Mafia“
Im Bicentenario-Park von Tuxtla Gutiérrez unterstützten ihn
Persönlichkeiten wie Rómulo Farrera, der wichtigste Unternehmer
in Chiapas, […] der dort als unabhängiger Kandidat für das
Gouverneursamt antreten möchte. Zu ihm gesellten sich Rutilio
Escandón, Vorsitzender des Obersten Gerichtshofes dieses
Bundesstaates und Rafael Castillejos, Präsident des
chiapanekischen Industriellenclubs. Außerdem der jüngst aus der
PRD ausgetretene Senator Zoé Robledo, jüngst aus der PRD
ausgetreten. Und das PRI-Mitglied Plácido Morales, ehemaliger
Haftinsasse und dem Ex-Gouverneur Pablo Salazar nahestehend.
Die Presse hob die Unterstützung der Veranstaltung durch
Fernando Coello Pedrero, Großvater des aktuellen Gouverneurs
Manuel Velasco Coello hervor. Das Treffen fand unter
Pfeifkonzerten gegen die Aspiranten auf Gouverneursposten statt.
Morena-Präsident Óscar Gurría Penagos kritisierte diejenigen,
„die Chiapas in Armut haben versinken lassen“ und „nun Morena
angehören wollen“. Er warnte: „Eine Sache ist, Kräfte zu
bündeln, eine andere, immer dieselbe Masche zu fahren“.
Daraufhin pfiffen ihn die Anhänger*innen von Rutilio Escandón
aus und schrien „halt den Mund“, während sie AMLO-Fähnchen
schwenkten.
López Obrador musste einschreiten, um die Gemüter zu kühlen.
„Über einige Differenzen hinaus“, mahnte er an, „dürfen wir uns
nicht unten streiten, denn das Problem ist oben, bei der Mafia“.
Er fügte hinzu: „Mit Ämtern ist nichts gewonnen“. Um sie zu
erreichen, genüge es, „halbwegs intelligent und speichelleckend
zu sein“. Am Ende sprach er keinem Kandidaten seine
Unterstützung oder Segnung aus. Trotzdem machten viele, vor
allem junge Morena-Aktivist*innen in den sozialen Netzwerken
ihrem Unmut über die neuen Teilhaber*innen des Projektes Luft.
Sie identifizieren diese mit der „Machtmafia“, gegen die sie
kämpfen.
Verwässerung des politischen Projekts
Die Muskeln, die AMLO mit der Mobilisierung in Tuxtla Gutiérrez
zeigte, sind ein Indikator für eine bemerkenswerte Stärke, aber
ebenfalls für die Verwässerung eines Projektes. Morena hat sich
den Einsatz gegen die Korruption und die Ungleichheit als
wichtigste Elemente auf die Kampffahnen geschrieben. Viele von
denen, die heute die Arche Noah betreten, um die Sintflut zu
überleben, können kaum Integrität und ihre Verpflichtung
gegenüber sozialer Gerechtigkeit als Visitenkarte vorweisen. Man
kann einwerfen, um sich bei den Wahlen unsterblich zu machen,
ist es notwendig, alle möglichen Kräfte zu vereinen. Aber wie in
Goethes Faust bleibt die Frage, zu welchem Preis.
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