Mexiko: Stimme der Ausgegrenzten
Von Boris Herrmann, Rio de Janeiro
Wahlen in Mexiko, schrieb der Schriftsteller Juan Villoro, liefen sieben Jahrzehnte lang wie ein Pferderennen ab, bei dem immer dasselbe Pferd gewinnt. Von 1929 bis 2000 regierte die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI) ununterbrochen. Als es endlich einmal einen Wechsel gab, siegte das langsamste Pferd, so Villoro. Damit meinte er die Jahre unter den konservativen Präsidenten Vicente Fox und Felipe Calderón, die dem Drogenhandel den Krieg erklärten und das Land in ein Schlachtfeld verwandelten, auf dem mehr als 100 000 Menschen starben. 2012 entschieden sich die Mexikaner wieder für die altbewährte PRI und ihren telegenen Kandidaten Enrique Peña Nieto, die vermeintlich beste unter lauter schlechten Alternativen. Ein Trugschluss. Am Ende der Amtszeit Peña Nietos ist der Staat nur noch bedingt funktionsfähig, die Kartelle regieren große Teile des Landes und mit ihnen Gewalt und Korruption. Die etablierten Parteien haben ihre Glaubwürdigkeit weitgehend verspielt. Für viele Mexikaner ist die Demokratie eher Sehnsucht als Realität.
Trotz allem keimt in diesen Tagen Hoffnung, mitunter ist sogar so etwas wie Euphorie zu spüren, gerade in jenen entlegenen Gegenden, die bislang von den Politikern in Mexiko-Stadt chronisch ignoriert wurden. Bei der Präsidentschaftswahl am 1. Juli 2018 dürfen erstmals auch unabhängige Kandidaten antreten. Nun hat María de Jesús Patricio ihre Kandidatur erklärt, als erste Vertreterin der mexikanischen Indios. Mit diesen Worten: "Sie haben uns viele Steine in den Weg gelegt. Sie glauben, dieses System sei nur für die da oben, nicht für uns Arbeiter und schon gar nicht für die indigenen Gemeinschaften. Aber heute haben wir den ersten Schritt getan."
Rund 60 Prozent der gut 120 Millionen Mexikaner sind sogenannte Mestizen, die sowohl europäische als auch indigene Vorfahren haben. Weitere zehn bis 15 Prozent stammen direkt von der vorkolumbianischen Bevölkerung ab, von den Maya, Nahua, Azteken. Sie leben heute größtenteils marginalisiert am Rande der Gesellschaft, von den mittelalterlichen Auswüchsen des Drogenkrieges sind sie besonders betroffen. In der Hauptstadt hatten sie nie eine Stimme. Das soll sich nun ändern.
Die 53-jährige Patricio vom Volk der Nahua, besser bekannt als Marichuy, betreibt im Bundesstaat Jalisco ein Zentrum für traditionelle Medizin. Außerdem ist sie die Sprecherin des Nationalen Rates der Indigenen, der aus der zapatistischen Befreiungsbewegung der Neunzigerjahre hervorging. Ihre Kandidatur ist ausdrücklich die eines Kollektivs. Sie sei lediglich die Repräsentantin, sagte Marichuy. Das System sieht nun einmal nicht vor, dass ein ganzer Rat in die Präsidialresidenz Los Pinos einzieht.
Natürlich sind die Siegchancen Patricios extrem gering. Zunächst muss sie wie alle anderen unabhängigen Bewerber binnen 120 Tagen 866 000 Unterschriften einsammeln, das entspricht einem Prozent der Wahlberechtigten. Das sollte zu schaffen sein, denn mit ihrer Kampagne gegen das Establishment trifft sie auch als Vertreterin einer Minderheit den Nerv einer Mehrheit. Fraglich ist, ob es ihr eher hilft oder schadet, dass sie auch von der Zapatistischen Befreiungsarmee (EZLN) unterstützt wird, die Mitte der Neunziger die Waffen gegen dieses Establishment erhob und immer noch einige Gemeinden im Bundesstaat Chiapas kontrolliert. Die politischen Ambitionen der EZLN stoßen auf ähnliche Vorbehalte wie die der ehemaligen Farc-Rebellen in Kolumbien. Fest steht, dass schon die Kandidatur Marichuys eine überfällige Debatte angestoßen hat. Darüber, wie in Mexiko mit jenen Volksgruppen umgegangen wird, die es gegründet haben.
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