Sonntag, 14. Mai 2017

System der Einschüchterung


Der dritte Jahrestag des Massakers in Odessa: Neonazipropagandisten geduldet, Trauernde abgeführt. Und die Justiz versagt

Von Wladimir Sergijenko
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Empörung und Wut über den Mord an etwa 50 Menschen: Kundgebung nach dem Feuer im Gewerkschaftshaus von Odessa (5. Mai 2014)
Brot und Spiele
Der jüngste mit Einreiseverbot in die Ukraine belegte Ausländer ist der US-Schauspieler Steven Seagal. Wie der britische Guardian am 6. Mai meldete, habe Kiew ihn als Gefahr für die nationale Sicherheit eingestuft. Der Schauspieler darf fünf Jahre nicht mehr in das Land einreisen. Die »nationale Sicherheit« der Ukraine werde dadurch bedroht, dass Seagal wiederholt die Politik Russlands verteidigt hatte und im November 2016 die russische Staatsbürgerschaft erhielt (überdies aus den Händen von Präsident Wladimir Putin).
Wie die russische Sängerin Julia Samoilowa war der Actionstar im Sommer 2014 auf der Krim aufgetreten. Samoilowa war deshalb von der Ukraine vom Eurovision Song Contest (ESC) in dieser Woche ausgeschlossen worden. Russische Journalisten, die aus Kiew über den ESC berichten wollten, bekamen ein Einreiseverbot.
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Ich bin Mitte vierzig und habe schon vieles gesehen und gehört, aber das raubte mir dann doch die Stimme. Ich konnte nicht mehr übersetzen. Eine Zeugin berichtete, dass Menschen aus dem brennenden Haus sprangen und mit gebrochenen Gliedern weiterkrochen, um sich in Sicherheit zu bringen, doch der rechte Mob trat auch auf die Wehrlosen ein und ließ die Knüppel kreisen. Das war nackte Barbarei. Einer, der auf der Feuerleiter vor den Flammen flüchtete, wurde mit Steinen und Baseballschlägern zurückgetrieben. Polizisten, die Sicherheitskorridore eingerichtet hatten, warfen schützend ihre Jacken über Gerettete, damit diese auf dem Weg zum Krankenwagen nicht attackiert wurden. Am Ende jenes 2. Mai 2014 wussten alle in Odessa, dass hier etwas geschehen war, was dem Selbstbild von der weltoffenen und toleranten Hafenstadt, in der Menschen aus mehr als 100 Nationen leben, Hohn spricht. Die Offiziellen machten sich ans Vertuschen.In Kiew hatte es zwei Monate zuvor einen Machtwechsel gegeben, nach der offiziellen Lesart Resultat der monatelangen Proteste auf dem Maidan. Allerdings waren im Schoße dieses Widerstandes gegen die Janukowitsch-Regierung der »Rechte Sektor« und andere aggressive nationalistische und faschistische Organisationen entstanden, die ihr eigenes Süppchen kochten. Immer unter der Losung »Pro Maidan«. Die Ukraine versank noch tiefer in Chaos und Korruption. Dagegen formierte sich allerorten Widerstand, auch in Odessa. »Wir wollen hier keinen Maidan«, sagten viele Leute, »wir wollen Ruhe und Ordnung in der Stadt«, und ihre Haltung bekam das Etikett »Anti-Maidan« verpasst. Und natürlich »prorussisch«, weil sie opponierten. Wer nicht kritiklos Kiew folgte (und folgt), gilt als Moskaus fünfte Kolonne. Dabei haben die meisten Menschen, wie ich in unzähligen Gesprächen vor Ort erfuhr, mit Putin und Russland wenig am Hut. Sie interessieren sich für Odessa, für Recht und Gesetz.
Die Auseinandersetzungen hatten auf der Uliza Grezka begonnen. »Tschernomorez Odessa« spielte gegen »Metalist Charkiw«, das nahmen »Fußballfans« zum Anlass, einen Marsch »für die Einheit der Ukraine« zu organisieren. Mehr als tausend Hooligans, Nationalisten und andere Sturmtruppen – diesen Begriff hörte ich wiederholt in Odessa, und das klang immer wie SS und SA –, zogen, ausgerüstet mit Schilden, Helmen, Knüppeln und Schusswaffen, durch die Stadt, in der sie nicht lebten. Sie waren mit Bahn und Bussen nach Odessa gekommen. Die Polizei hätte sie aufhalten können – wenn sie denn präsent gewesen wäre. Die hatte man jedoch zum Schutz des Polizeipräsidiums zusammengezogen. In der Griechischen Straße stellten sich etwa zweihundert mutige Menschen dem rechten Mob in den Weg. Es kam zu einer blutigen Straßenschlacht, die Unterlegenen flüchteten ins Gewerkschaftshaus, das dann von den »Pro-Maidan-Kräften« angesteckt wurde. Bis dahin hatte die Polizei nicht eingegriffen, sie ließ alles laufen.
jW-Probeabo
Bis heute ist nicht geklärt, wer wofür die Verantwortung trug, und obwohl es sehr viele Bilder und Videoaufnahmen gibt, mit deren Hilfe die Täter identifiziert werden können, hat man sie nicht gefasst. Selbst der Mann, der den Molotowcocktail ins Gewerkschaftshaus warf und es in Brand setzte, ist bekannt. Und unverändert auf freiem Fuß.
In Odessa sprach ich mit Zeugen, Menschenrechtlern und Rechtsanwälten. Ich spürte sowohl Angst wie auch Entschlossenheit, Gerechtigkeit nicht nur einzufordern, sondern auch zu erlangen. Auf beiden Seiten – sowohl im Lager des »Anti-Maidan« wie des »Pro-Maidan« – räumt man realistisch inzwischen ein, damals Fehler gemacht zu haben. Doch erkennbar ist auch die allgegenwärtige Furcht, Opfer eines sich entwickelnden Polizeistaates zu werden, in welchem demokratische Freiheiten eingeschränkt oder eben nur einer Seite zugestanden werden. Die Mechanismen der Einschüchterung funktionieren. Ich erlebte am 2. Mai 2017 einen Vertreter des modernisierten Faschismus, der – mit Berufung auf seine bürgerlichen Rechte – unbehindert von der Polizei auf dem Kulikow-Platz Neonazipropaganda machen durfte, während gleichzeitig Frauen abgeführt wurden, die schwarze Ballons in den Himmel steigen lassen wollten. Das sei politische Propaganda, hieß es, und diese am Ort der Trauer unzulässig.
Und die Justiz? Ihre Mühlen mahlen nicht nur langsam, sondern mitunter gar nicht. Beweismittel verschwinden, Zeugen sind nicht auffindbar, Verfahren werden verzögert, Unschuldige sitzen in U-Haft. Das hat Methode. Denn solange die nationalen Rechtsmittel nicht ausgeschöpft sind, kann auch der Europäische Gerichtshof nicht eingeschaltet werden.

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