Sonntag, 14. Mai 2017

Soziale Mogelpackung


Seit Jahresbeginn gilt in Polen ein höherer Mindestlohn. Aber die Unternehmen wissen ihn zu umgehen

Von Reinhard Lauterbach
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Hoffentlich Mindestlohn: Fensterputzer an einem Hotel in Warschau
Die polnische Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (Prawo i Sprawiedliwosc, PiS) war richtig stolz: Zum Jahresanfang 2017 hat sie den Mindestlohn von 1.850 auf 2.000 Zloty (etwa 470 Euro) angehoben und den Mindeststundensatz für Werkverträge auf 13 Zloty (rund drei Euro). Hungerlöhne seien »unwürdig«, erklärte Sozialministerin Elzbieta Rafalska damals. Durch die Medien gingen Beispiele von Wachleuten, die monatlich bis zu 500 Stunden gearbeitet hätten – knapp 17 Stunden pro Tag bei einer Siebentagewoche. Der neue Mindeststundensatz habe dem einen oder anderen erlaubt, jetzt nur noch 300 Stunden zu arbeiten – immer noch fast das Doppelte der 170 Stunden eines Normalarbeitsverhältnisses.
Traditionelle Niedriglohnsektoren sind auch in Polen das Wach- und das Gebäudereinigungsgewerbe. Jahrelang waren hier Stundensätze von teilweise unter einem Euro üblich. Negatives Musterbeispiel war die Stadtverwaltung des schlesischen Opole. Sie engagierte für die Bewachung eines Kulturzentrums eine Firma, die ihren Beschäftigten – darunter Obdachlose – umgerechnet 30 Cent pro Stunde zahlte. Als eine Zeitung darüber berichtete, drohte der Bürgermeister der Redaktion mit einem Prozess wegen »Verunglimpfung des Ansehens der Stadt«.
Die Unternehmen, die diese Hungerlöhne zahlen, begründen dies in der Regel damit, dass ihre Auftraggeber nicht mehr böten. Nicht zuletzt öffentliche. Das Straßenbauamt in Lodz bot in seiner Ausschreibung einen Stundensatz von 7,34 Zloty – für die Bewachungsfirma, beim Beschäftigten kommt etwa die Hälfte dieser Sätze an –, bei verschiedenen Hochschulen und Museen waren es um die neun Zloty. Alle begründeten dies mit dem Zwang zum sparsamen Umgang mit Steuergeld. Viele private Auftraggeber haben offenbar aufgrund der Erhöhung auf eine Bewachung verzichtet und statt dessen Kameras installiert. »Für zehn Zloty hätten sie gern jemanden, der an der Pforte sitzt, für 15 Zloty greifen sie zur Technik«, klagte ein Bewachungsunternehmer gegenüber der Zeitung Gazeta Wyborcza. Im übrigen blühen die Umgehungsstrategien gegenüber Beschäftigten, die den Mindestlohn für sich einfordern.
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Nach Angaben der für das Dienstleistungsgewerbe zuständigen Abteilung der Gewerkschaft »Solidarnosc« haben sich vier solche Strategien herausgebildet: erstens das Argument »nicht jetzt«, wobei die Erhöhung für später versprochen wird. Zweitens werden die Verträge von einer Abrechnung auf Stundenbasis auf Provisionsmodelle umgestellt. So würden jetzt zum Beispiel Kellnerinnen in Restaurants als »Handelsvertreterinnen« beschäftigt und bekämen 0,01 Prozent des Umsatzes an den Tischen, die sie bedienen – am Monatsende hat eine solche Bedienung im teuren Warschau umgerechnet 45 Cent pro Stunde verdient. Reinigungsfirmen gingen demnach drittens dazu über, die verwendeten Gerätschaften wie Besen und Putzeimer an ihre Beschäftigten zu vermieten und die Putzmittel zu verkaufen, um die tatsächlich auszuzahlenden Löhne zu vermindern. Das Wachgewerbe hingegen führe neue Konventionalstrafen ein. Was früher auch so durchging wie ein nach einer Zwölfstundenschicht verknittertes Hemd, eine schiefsitzende Krawatte oder das Versäumnis, eine Kappe mit dem Firmenlogo zu tragen, werde jetzt durch Vertragsanhänge zum Anlass für Vertragsstrafen, durch die der reale Stundenlohn von nominell 13 sehr schnell wieder auf die vorher üblichen sieben Zloty abgesenkt werde. Den Vogel schoss ein Gastwirt aus Wroclaw ab, über den die Presse berichtete: Er behält neuerdings von den Trinkgeldern, die die Kellner traditionell in einen gemeinsamen Topf warfen und untereinander gleichmäßig aufteilten – und aus denen sie fast die Hälfte ihres realen Einkommens bezogen –, 20 Prozent als »Provision« ein. Argument: Er biete ihnen ja schließlich die Gelegenheit, diese Trinkgelder zu verdienen. Der Mann ist offenbar kein Einzelfall. Ein Kellner, der aufgrund dieser Praxis den Job wechselte, traf an seinem nächsten Arbeitsplatz dieselben Zustände an.
Theoretisch ist das alles illegal, und ein Beschäftigter, der den Mindestlohn nicht erhält, kann die staatliche Arbeitsinspektion einschalten. Spätestens dann sollte er sich natürlich einen anderen Job suchen. Die Inspektion prüft und verhängt gegebenenfalls ein Bußgeld. Dass dessen Höhe – anfangend mit 1.000 Zloty (240 Euro) – einen Unternehmer nicht abschreckt, ist das eine. Das andere ist, dass die Regierung gerade das Personal dieser Arbeitsinspektion reduziert hat. So genau will die PiS offenbar gar nicht wissen, ob ihr Mindestlohn eingehalten wird. Das heißt: Er ist eine populistische Mogelpackung.

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