IMI-Analyse 2016/029
von: Jürgen Wagner | Veröffentlicht am: 11. Juli 2016
Bereits auf dem NATO-Gipfeltreffen in Wales war im
September 2014 ein umfassendes anti-russisches Rüstungspaket – der
sogenannte „Readiness Action Plan” (RAP) – verabschiedet worden. Das
jüngste Gipfeltreffen in Warschau, das am 8. und 9. Juli 2016 stattfand,
hatte nun, wie zu erwarten war, vor allem den Zweck, eine Art RAP 2.0
auf den Weg zu bringen. Die mit Abstand wichtigste Maßnahme dieser neuen
Aufrüstungsrunde stellt dabei die dauerhafte Stationierung von
NATO-Truppen in den „Frontstaaten“ Osteuropas dar.[1]
Obwohl militär-politisch aktuell die Auseinandersetzung mit Russland
klar im Fokus steht, wird seitens der Allianz allenthalben betont, dies
dürfe nicht bedeuten, andere Regionen und Politikfelder zu
„vernachlässigen“. Das Bündnis verfolge einen „360-Grad-Ansatz“, mit
diesem Spruch wird die aktuelle Politik begrifflich auf den Punkt
gebracht. Dementsprechend hatten es auch andere Passagen der mit 140
Absätzen überaus umfangreichen Gipfelerklärung[2]
in sich – etwa die zu Afghanistan, Syrien und dem Irak. Bemerkenswert
sind auch die Bekenntnisse zur stärkeren NATO-EU-Zusammenarbeit,
insbesondere bei der Flüchtlingsbekämpfung. Mittendrin – oder besser:
ganz vorne – ist bei all dem die Bundesregierung, die ganz
offensichtlich mit ihrem erklärten Anspruch, künftig als militärische
Führungsmacht handeln zu wollen, ernst macht.
Verstärkte Vorwärtspräsenz gegen Russland
Wie sich die Zeiten doch ändern können – hieß es doch in der Abschlusserklärung des NATO-Gipfels von Rom im Jahr 1990 noch: „Die Mitgliedsländer der Nordatlantischen Allianz schlagen den Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes eine gemeinsame Erklärung vor, in der wir feierlich erklären, dass wir nicht länger Feinde sind.“[3] Nicht zuletzt die jahrzehntelange anti-russische Politik der NATO und die russischen Reaktionen darauf haben dafür gesorgt, dass vom damaligen Geist nichts mehr übrig ist. So heißt es heutzutage in der Gipfelerklärung von Warschau: „Russlands aggressive Handlungen, einschließlich provozierender militärischer Aktivitäten an der Peripherie des NATO-Gebietes, und seine zur Schau gestellte Bereitschaft, politische Ziele durch die Drohung und Anwendung von Gewalt zu erreichen, sind die Ursache regionaler Instabilität, fordern die Allianz fundamental heraus, haben die euro-atlantische Sicherheit beschädigt und gefährden unser langfristiges Ziel eines geeinten, freien und friedlichen Europa.“ (Absatz 5)
Im Fortgang der Ukraine-Krise begann die NATO schon im April 2014 mit einer gegen Russland gerichteten Rüstungsoffensive, als die Kampfjets zur Luftüberwachung des Baltikums vervierfacht, die maritime Präsenz im Schwarzen Meer vergrößert und jede Kooperation mit Russland auf Eis gelegt wurden. Von da ab wurde auch die Zahl der Manöver drastisch erhöht – allein 2014 wurden 162 Übungen abgehalten, nach offiziellen Angaben rund doppelt so viele wie ursprünglich geplant.[4] Auf dem NATO-Gipfel in Wales im September 2014 erhielten diese Maßnahmen mit dem „Bereitschafts-Aktionsplan” („Readiness Action Plan“) einen Rahmen und wurden um mehrere wesentliche Aspekte ergänzt. Beschlossen wurde dort u.a. die Aufstellung einer „Ultraschnellen Eingreiftruppe“ („Very High Readiness Joint Task Force“, VJTF), die primär für Einsätze im unmittelbaren Umfeld Russlands gedacht ist. Als Umfang der auch „Speerspitze“ genannten Einheit wird in den Medien meist die Zahl von 5.000 Soldaten angegeben. Ein Blick in den offiziellen Fact Sheet der NATO offenbart allerdings, dass es sich hierbei lediglich um die VJTF-Bodenkomponente handelt, weshalb die Gesamtstärke der Truppe 20.000 Soldaten beträgt. Um die Funktion als „zweite Welle“ nach einem VJTF-Einsatz „besser“ erfüllen zu können, wurde darüber hinaus das Kontingent der „Schnellen Eingreiftruppe“ („NATO Response Force“, NRF) deutlich von 13.000 zunächst auf 30.000 und dann auf 40.000 Soldaten nach oben geschraubt.[5] Um künftig alle Manöver und möglichen Einsätze in Osteuropa leiten zu können, wurde ferner das Multinationale Korps Nord-Ost in Stettin unter polnisch-deutscher Führung massiv ausgebaut. Als „Sprungbretter“ für Einsätze der VJTF wurden außerdem inzwischen insgesamt acht neue NATO-Stützpunkte, sogenannte „NATO Force Integration Units“ (NFIUs), in Osteuropa eingerichtet, die ab September 2015 ihre Arbeit aufnahmen. Sie verfügen über eine verhältnismäßig geringe Besatzung (je 40 Soldaten) und befinden sich in Estland, Lettland, Litauen sowie der Slowakei, Ungarn, Polen, Rumänien und Bulgarien.[6]
Obwohl die NATO also seit 2014 eine zutiefst Besorgnis erregende Aufrüstung ihrer Ostflanke eingeleitet hat, wurden schnell Stimmen laut, die diese Maßnahmen als nicht ausreichend kritisierten – und je näher der Gipfel rückte, desto drängender wurden diese Stimmen. Im März 2016 veröffentlichte etwa der „German Marshall Fund“ (GMF) die Forderungen mehrerer prominenter NATO-Strategen, darunter mit Karl-Heinz Kamp auch der Leiter der „Bundesakademie für Sicherheitspolitik“ (BAKS): „Das Bündnis kann sich nicht allein auf erweiterte Abschreckung und kleine, mobile Einheiten wie die […] VJTF verlassen […]. Die Allianz [muss] zu einer Strategie hin zu einer erhöhten Vorwärtspräsenz übergehen, die als stabilisierende und abschreckende Kraft stationiert ist, bevor ein Konflikt beginnt. […] Solch eine Truppe muss kampfbereit sein […]. Die Größenordnung von einer Brigade in einem der baltischen Staaten und in Polen wäre ein guter Anfang.“[7] Zwei Brigaden, also bis zu 10.000 Soldaten, waren wiederum dem ehemaligen NATO-Generalsekretär Wesley Clark nicht genug, der zusammen mit weiteren hochrangigen NATO-Militärs kurz darauf die Verlegung von drei Brigaden forderte.[8]
Ganz diese Dimension ist es dann doch nicht geworden, dennoch ist es schlimm genug, dass sich die NATO-Verteidigungsminister auf ihrem Treffen im Juni 2016 auf die Verlegung von vier Bataillonen – also 4.000 Soldaten – verständigt hatten, die nun auf dem Gipfeltreffen in Warschau unter der Bezeichnung „Verstärkte Vorwärtspräsenz“ („enhanced forward presence“) endgültig beschlossen wurde. Dabei soll je ein Bataillon in Litauen (unter deutscher Führung), Estland (Großbritannien), Lettland (Kanada) und in Polen (USA) „beheimatet“ sein (Absatz 40). Je nach Definition des Begriffes „substantiell“ handelt es sich hierbei um einen Bruch der NATO-Russland-Grundakte von 1997, in der sich das westliche Militärbündnis dazu verpflichtete, keine „substantiellen Kampftruppen dauerhaft“ in Osteuropa zu stationieren.[9]
Auf nahezu gleichbleibend hohem Niveau soll darüber hinaus auch die Manövertätigkeit bleiben – wie die NATO ankündigte, sind für 2016 insgesamt 240 Übungen geplant.[10] Russland reagierte seinerseits wiederum, indem es im Januar 2016 ankündigte, drei Divisionen (30.000 Soldaten) an seine Westgrenze zu verlegen.[11] Dies alles erhöht die Gefahr „versehentlicher“ Zusammenstöße zwischen Truppen der NATO und Russlands erheblich, wovor unter anderem das „European Leadership Network“ immer wieder eindringlich warnt.[12] Besonders Besorgnis erregend ist in diesem Zusammenhang vor allem auch die offene Diskussion über die Rolle von Atomwaffen in einem möglichen westlich-russischen Konflikt.
Atompolitik: Spiel mit dem Feuer
Aufhorchen ließ kürzlich das Buch „2017 War with Russia“ von Richard Shirreff, der zwischen 2011 und 2014 den Posten des stellvertretenden NATO-Oberkommandeurs in Europa innehatte. Er argumentierte im Mai 2016, es sei zwar nicht zwingend, aber „sehr wahrscheinlich“, dass es zu einem Atomkrieg mit Russland kommen werde. Ihm sprang im Vorwort des Buches James Stavridis, von 2009 bis 2013 NATO-Oberkommandierender in Europa, zur Seite: „Unter Präsident Putin hat Russland einen gefährlichen Kurs eingeschlagen. Sollte es ihm erlaubt werden, damit fortzufahren, wird dies zwangsläufig zu einer Kollision mit der NATO führen. Und das wird einen Krieg bedeuten, der schnell auch atomar geführt werden könnte.“[13]
Russland wird vorgeworfen, seine Militärdoktrin derart verändert zu haben, dass der Einsatz taktischer Atomwaffen auf einem begrenzten Gefechtsfeld erwogen werde, um hierdurch die konventionelle Überlegenheit des Westens auszugleichen – ob dies zutrifft, ist allerdings eine andere Frage.[14] Jedenfalls wird aus diesem Grund schon seit einiger Zeit von prominenten Strategen eine Überprüfung der NATO-Nuklearstrategie mit dem Ziel gefordert, die Rolle von Atomwaffen wieder aufzuwerten.[15] So wurde nur wenige Tage vor Beginn des Gipfeltreffens sogar im Hausblatt der Allianz, dem „NATO-Review“, ein Artikel mit dem Titel „Atomare Abschreckung und die Allianz im 21.Jahrhundert“ platziert: „Die Abschreckung ist zurück und die NATO muss eine glaubwürdige Verteidigung und Abschreckung mit Blick auf viele verschiedene Gefahren wiedererlangen […] Zu dieser Debatte gehört eine starke nukleare Komponente.“[16]
Auf den ersten Blick ähneln viele diesbezügliche Passagen der Warschau-Gipfelerklärung trotzdem früheren Abschlussdokumenten. Dennoch gibt es aber einige wichtige Unterschiede: Erstens wurde verbal – im Fachjargon: deklaratorisch – der Ton etwas angezogen: „Jeder Einsatz von Atomwaffen gegen die NATO würde den Charakter eines Konfliktes fundamental verändern. Niemand sollte an der Entschlossenheit der Nato zweifeln, wenn die Sicherheit eines ihrer Mitglieder bedroht sein sollte. Die NATO hat die Kapazitäten und die Entschlossenheit, einem Gegner Kosten zuzufügen, die inakzeptabel wären und die Vorteile, die ein Gegner erhoffen könnte, weit überwiegen.“ (Absatz 54)
Zweitens wird gegenüber früheren Jahren stärker die Rolle der in Europa im Rahmen der Nuklearen Teilhabe stationierten US-Atomwaffen hervorgehoben, die zum Beispiel 2014 nicht einmal erwähnt worden waren: „Die nukleare Abschreckungskomponente der NATO basiert außerdem zum Teil auf den vorwärtsstationierten US-Atomwaffen in Europa und der diesbezüglichen Infrastruktur der Alliierten.“ (Absatz 53) Wurde vor einigen Jahren noch über den Totalabzug der Waffen debattiert, ist nun ein massives Modernisierungsprogramm eingeleitet worden, das die Einsetzbarkeit der in fünf NATO-Ländern diesseits des Atlantiks – u.a. in Deutschland in Büchel – lagernden Waffen erheblich „verbessert“. Unklar ist dagegen, wie mit dem Wunsch einiger osteuropäischer Länder, insbesondere Polens, verfahren wurde, der Nuklearen Teilhabe beizutreten und damit US-Atomwaffen auf ihrem Territorium zu stationieren.
Drittens wurde auf dem Gipfel erklärt, man mache weiter Fortschritte beim Aufbau der NATO-Raketenabwehr. Ein „neuer Meilenstein“ sei erreicht worden, die „Initial Operational Capability“ sei ein „wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer NATO-Raketenabwehr“, heißt es in der Gipfelerklärung (Absatz 57). Zwar wird unmittelbar darauf deutlich betont, das System sei „nicht gegen Russland gerichtet“ (Absatz 59), Moskau sieht darin aber dennoch mit einigem Recht den Versuch, seine Zweitschlagfähigkeit – und damit seine Fähigkeit, einen NATO-Angriff abzuschrecken – auszuhebeln.[17]
Und schließlich betrifft der letzte wichtige Punkt der Abschlusserklärung noch den komplex Abrüstung und Rüstungskontrolle. Schon vor dem Gipfel wurden die Aussichten für weitere nukleare Abrüstungsrunden teils für tot erklärt, wenn u.a. Karl-Heinz Kamp, Chef der „Bundesakademie für Sicherheitspolitik“, schrieb: „Unter den aktuellen konfrontativen Bedingungen ist eine gemeinsame Reduzierung der Atomwaffen in Europe kaum noch vorstellbar. […] Damit ist nukleare Rüstungskontrolle nicht grundsätzlich ausgeschlossen sie bleibt integraler Teil westlicher Sicherheitspolitik. Allerdings ist sie dem Zweck der Sicherheitsvorsorge eindeutig nachgeordnet. Es ist nicht der primäre Daseinszweck einer Nuklearwaffe, abgerüstet zu werden. Zweck einer Kernwaffe – wie auch jeder anderen Waffen – ist es, zur Sicherheit und Verteidigung beizutragen.“[18] Ganz ähnlich heißt es auch in der Warschau-Erklärung (Absatz 65): „Fortschritte bei der Rüstungskontrolle und Abrüstung müssen die vorherrschende internationale Sicherheitsumgebung berücksichtigen. Wir bedauern, dass die Umstände, um Abrüstung zu erreichen, nicht günstig sind.“
Unklar ist, ob sich die Allianz in Warschau wie vielfach gefordert, auf eine grundlegende Überarbeitung ihrer Nuklearstrategie verständigt hat. Als mögliche Elemente einer solchen Überarbeitung werden von Befürwortern u.a. genannt: „Für die kommenden Jahre [sind] kontroverse Diskussionen im Hinblick auf die Ausprägung und Gestaltung des nuklearen NATO-Dispositivs zu erwarten. Dabei wird es um Themen wie die Deklarationspraxis, die Alarmierungszeiten und die Übungspraxis, die Modernisierung und Anpassung existierender Waffensysteme bis hin zu der Frage gehen, ob die Allianz das in der NATO-Russland-Akte gegebene Versprechen aufgeben und Kernwaffen in neuen Mitgliedstaaten stationieren soll.“[19]
Afghanistan: Rückzug vom Rückzug
Ganz im Gegensatz zu vielen früheren Gipfeln spielte der Krieg in Afghanistan in Warschau nur eine Nebenrolle. Dennoch wurden unmittelbar vor und auf dem Gipfel selbst wichtige Weichen für die Fortsetzung des NATO-Krieges gestellt. Bereits kurz vor Gipfelbeginn verkündete Barack Obama, die USA würden ihre Truppenpräsenz in Afghanistan nicht, wie zuletzt angekündigt, auf 5.500 Soldaten reduzieren, sondern sie bei 8.400 belassen.[20]
Damit sendete der US-Präsident ein Signal, das die Verbündeten beim Gipfel in Warschau bereitwillig aufgriffen. Auch die „Resolute Support Mission“ (RSM) der NATO, die eigentlich mit ihren aktuell knapp über 13.000 Soldaten[21] „nur” zur Beratung und Ausbildung in Afghanistan stationiert ist, tatsächlich aber immer robuster vorgeht, wird auf absehbare Zeit nicht abgezogen. Schon zuvor war der ursprünglich verkündete Abzugstermin Ende 2016 um ein Jahr verschoben worden. Auf dem Gipfeltreffen wurde nun eine spezielle Erklärung zu Afghanistan verabschiedet, die es tunlichst vermeidet, überhaupt noch irgendeinen konkreten Abzugstermin zu nennen: „Die NATO und ihre Operationspartner haben sich heute dazu verpflichtet, die Resolute Support Mission durch ein flexibles, lokales Modell über 2016 hinaus aufrecht zu erhalten.“[22]
Ebenfalls verständigt hat man sich darauf, die afghanischen Armee- und Polizeitruppen weiterzufinanzieren. Wie sich allerdings die jährlichen Kosten von ca. 6 Mrd. Dollar, von denen bisher 500 Mio. aus dem afghanischen Haushalt und der Rest von der „internationalen Gemeinschaft“ bezahlt wurden, künftig aufteilen werden, ist nicht näher ausgeführt. Festgehalten wird allerdings, dass der afghanische Anteil sukzessive steigen und das Land im Jahr 2024 die „volle finanzielle Verantwortlichkeit“ übernehmen soll.[23] Wie dies angesichts eines afghanischen Haushaltes von 7,2 Mrd. Dollar (2016/2017) gehen soll, darüber schweigt sich das Dokument allerdings aus.
In Warschau wurde also mehr oder minder am Rande dafür Sorge getragen, dass die NATO aller Voraussicht nach noch für viele Jahre am Hindukusch präsent und in die dortigen Kämpfe verwickelt sein wird, wie etwa Spiegel Online durchaus kritisch bemerkt: „Fast nebenbei hat die Nato in Warschau ihre größte Militärmission verlängert, von einem Abzug aus Afghanistan ist keine Rede mehr. Die Bundeswehr stellt sich auf einen Einsatz mit offenem Ende ein. […] ‚Das Thema Abzug‘, sagt ein Bundeswehr-General in Warschau, ‚ist erst mal nicht mehr auf der Tagesordnung.‘“[24]
Präsenz an der Südflanke
Während der Diskussionsphase vor dem Gipfel wurde allerorten gefordert, trotz der „Notwendigkeit“, die Konfrontation mit Russland suchen zu müssen, dürften andere Regionen und Politikbereiche, insbesondere die Südflanke, nicht vernachlässigt werden. Wie eingangs erwähnt, wurde dies auf die Formulierung, man verfolge einen „360-Grad-Ansatz“, heruntergebrochen. Dem wurde mit mehreren Entscheidungen auf dem Gipfeltreffen Rechnung getragen: Während Libyen eine NATO-Ausbildungsmission angeboten wurde, sollte dies die diesbezüglich derzeit noch recht skeptische neue Einheitsregierung wünschen (Absatz 93), ist man mit dem Irak schon deutlich weiter. Während bislang irakische Einheiten in Jordanien ausgebildet wurden, äußerte die irakische Regierung schon im Mai 2016 die Bitte, auch im Land selbst eine NATO-Ausbildungsmission zu starten. Dem wurde nun entsprochen, in der NATO-Gipfelerklärung heißt es, man habe sich darauf verständigt, „ein NATO-Training der irakischen Sicherheits- und Militärkräfte im Land durchzuführen.“ (Absatz 95)
Und schließlich wurde noch der Einsatz von Awacs-Flugzeugen gegen den „Islamischen Staat“ beschlossen, an dem sich dann wohl auch deutsche Soldaten beteiligen werden – damit steigt die NATO auch offiziell in die Kriege im Irak und in Syrien ein: „Die Bündnispläne sehen vor, dass die mit moderner Radar- und Kommunikationstechnik ausgestatteten Flugzeuge von der Türkei und der Mittelmeerküste aus den Luftraum über Syrien und dem Irak überwachen. Wenn der Einsatz wie geplant nach dem Sommer beginnt, werden aller Voraussicht nach auch deutsche Soldaten zum Einsatz kommen. Die Bundeswehr stellt nach eigenen Angaben rund ein Drittel der Besatzungsmitglieder für die aus 16 Flugzeugen bestehende Awacs-Flotte der Nato.“[25]
Ebenfalls neu aufstellen will sich die Allianz bei der Flüchtlingsbekämpfung im Mittelmeer – und geht dabei eng koordiniert mit der EU vor.
NATO und EU: Hand in Hand bei der Flüchtlingsbekämpfung
Auf dem Warschau-Gipfel wurde ebenfalls ein Papier zur Intensivierung der NATO-EU-Zusammenarbeit verabschiedet: „Wir sind der Meinung, dass die Zeit gekommen ist, der Strategischen Partnerschaft zwischen NATO und EU neue Impulse und Substanz zu geben.“[26]
In früheren Jahren war das Verhältnis zwischen EU und NATO nicht unproblematisch, da die USA gegenüber EU-Rüstungsanstrengungen sehr skeptisch waren, sollten diese nicht komplett unter dem Dach der NATO – und damit ihrem Einfluss – vonstatten gehen. Inzwischen „ermuntern“ die USA die EU-Verbündeten aber regelrecht, mehr Geld in die Rüstung zu pumpen, selbst wenn dies zu einer eigenständigen – autonomen – Kriegsführungsfähigkeit der EU führen sollte. Auch in der Gipfelerklärung spiegelt sich dies wider: „Die NATO erkennt die Bedeutung einer stärkeren und fähigeren europäischen Verteidigung an, die zu einer stärkeren NATO führen und die Sicherheit aller Verbündeten fördern wird. […] In diesem Zusammenhang begrüßen wir die Stärkung der EU-Verteidigungsfähigkeiten und des Krisenmanagements, die wir über die letzten Jahre beobachten konnten.“ (Absatz 124)
In der NATO-EU-Rahmenerklärung werden zahlreiche Rüstungsbereiche genannt, in denen die Zusammenarbeit künftig intensiviert werden soll. Besonders sticht der Kooperationswille schon jetzt bei der Bereitschaft zur koordinierten Flüchtlingsbekämpfung hervor: „Um die EU-Operation „Sophia“ vor der libyschen Küste unterstützen zu können, wurde der mögliche Aufgabenbereich für den aktuellen Einsatz im Mittelmeer deutlich erweitert. Die Nato-Schiffe sollen künftig auch am Kampf gegen illegale Migration beteiligt werden können. Die Operation im Mittelmeer heißt dann ‚Sea Guardian‘ (Meereswächter). Sie geht aus dem Einsatz ‚Active Endeavour‘ hervor, der nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gestartet worden war. Das Mandat für ‚Active Endeavour‘ erlaubte bislang nur die Überwachung des zivilen Seeverkehrs im Mittelmeer.“[27]
Geldregen
Bereits auf dem Wales-Gipfel im September 2014 verständigten sich die Staats- und Regierungschefs – allerdings nicht rechtlich bindend – darauf, 2% des BIP für Rüstung auszugeben. Während die Mitgliedsländer laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI 2015 905 Mrd. Dollar ausgaben, würde die Einhaltung des 2-Prozent-Ziels eine Erhöhung der Rüstungsausgaben um satte 100 Mrd. Euro erfordern.
Davon ist die Allianz zwar noch ein gutes Stück entfernt, dennoch jubelt sie in ihrer Abschlusserklärung des Warschau-Gipfels, die „Kehrtwende“ bei den Rüstungsausgaben sei geschafft (Absatz 34). Und tatsächlich bestätigen die konkreten Zahlen, dass es aus Sicht der NATO allen Grund zur Freude gibt: „Beim Geld soll in der Nato die Freundschaft nicht aufhören. […] So stiegen die Verteidigungsausgaben, die 2014 noch um real ein Prozent geschrumpft waren, im vergangenen Jahr im Durchschnitt der Nato-Länder um 0,6 Prozent. Für das laufende Jahr wird mit einem weiteren Anstieg um drei Prozent gerechnet. Dies entspreche einer Zunahme um acht Milliarden Dollar, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Immerhin 22 Partnerstaaten, darunter auch Deutschland (derzeit bei 1,19 Prozent des BIP), hätten ihre Ausgaben gesteigert.“[28]
Selbstredend geht das Vielen im Bündnis noch nicht weit genug: „Das reicht aber nicht. Wir haben die Einschnitte gestoppt und bewegen uns jetzt in die richtige Richtung“, sagte Douglas Lute, US-Botschafter bei der NATO. „Aber in den nächsten 8 Jahren werden wir viel Gewicht stemmen müssen. Einige von uns sind von den zwei Prozent nämlich weit entfernt.“[29] Ein Land, das erheblich vom 2%-Ziel entfernt ist, ist Deutschland – allerdings holt es in jüngster Zeit rapide auf, ein Umstand, den Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung zum NATO-Gipfel besonders hervorhob.
Führungsmacht Deutschland
In der letzten Umfrage von ARD-Deutschlandtrend lehnten 67 Prozent der Befragten die nun beschlossene permanente Stationierung von NATO-Truppen in Osteuropa ab.[30] Auch SPD-Spitzenpolitiker wie Frank-Walter Steinmeier oder auch Sigmar Gabriel äußerten sich skeptisch gegenüber dem „Säbelrasseln“ der Allianz in Richtung Russland.[31] Auf die praktische Politik scheint dies jedoch keinerlei Einfluss zu haben.
Liest man sich vielmehr die unmittelbar vor dem NATO-Gipfel abgegebene Regierungserklärung von Kanzlerin Angela Merkel durch, so enthält sie ein flammendes Bekenntnis zur gesamten Bandbreite der NATO-Eskalationspolitik – und dazu, dass Deutschland hier eine führende Rolle spielen soll. Auch den „360-Grad-Ansatz“ macht sich die Kanzlerin zu Eigen: „Im Osten hat Russlands Agieren in der Ukraine-Krise unsere östlichen Alliierten zutiefst verstört. […] Aber auch südlich des Bündnisgebietes müssen wir eine dramatische Verschlechterung der Sicherheitslage feststellen. [Der Readiness Action Plan] wird die Allianz schneller, reaktionsfähiger und einsatzbereiter machen, und zwar für Herausforderungen in jeder Richtung und jeder Art, das heißt in einem sogenannten 360-Grad-Ansatz.“[32]
Schon beim Aufbau der Ultraschnellen Eingreiftruppe übernahm Deutschland nach Eigenangaben eine „führende Rolle“[33] und auch das Multinationale Korps in Stettin wurde unter deutscher Ägide ausgebaut. Aus Merkels Regierungserklärung geht zudem hervor, dass sich Deutschland auch an den in Warschau auf den Weg gebrachten neuen Missionen beteiligen möchte. Vor allem aber wird es mit 500 Soldaten die Führung des Bataillons in Litauen übernehmen und sich damit buchstäblich an vorderster Front an den anti-russischen Rüstungsmaßnahmen beteiligen.[34]
Angesichts der deutschen Rolle beim NATO-Gipfel und darüber hinaus können sich Militaristen wie Johannes Leithäuser in der FAZ vor Begeisterung leider kaum mehr halten: „Deutschland präsentiert sich auf dem Nato-Gipfel in Warschau mit neuem Selbstverständnis. Vergessen sind Jahrzehnte der politischen und militärischen Zurückhaltung. Jetzt geht es Berlin um die aktive Mitgestaltung der globalen Ordnung. […] Die neuen Bedrohungen durch die russische Aggressionspolitik im Osten und durch den islamistischen Terror im Süden des Nato-Bündnisgebietes haben die Bundesregierung veranlasst, die Kultur politischer und militärischer Zurückhaltung aufzugeben, die über Jahrzehnte ein eingeübtes Verhaltensgebot der deutschen politischen Führung war.“[35]
Anmerkungen
[1] So werden zumindest Polen und die Balten hier genannt: Wolfgang Richter: Rückversicherung und Stabilität, SWP-Aktuell, 41/Juli 2016.
[2] Warsaw Summit Communiqué, Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Warsaw 8-9 July 2016, Press Release (2016) 100. Wird im Text nachfolgend aus der Abschlusserklärung zitiert folgen die entsprechenden Stellen in Klammern.
[3] London Declaration On A Transformed North Atlantic Alliance, London 5-6 July 1990.
[4] Proben für den Krieg, Süddeutsche Zeitung, 12.08.2015.
[5] NATO’s Readiness Action Plan, Nato Fact Sheet, July 2016.
[6] Nathalie Schüler: Aufrüstung der NATO-Ostflanke. Die Umstrukturierung der NATO-Politik, Ukraine-Konflikt und Russland-Krise, in: DFG-VK/IMI (Hg.): Die 360° NATO: Mobilmachung an allen Fronten, Tübingen, Juni 2016, s. 27-33. Hinzu kommen noch die US-Maßnahmen der im Juni 2014 verkündeten „European Reassurance Initiative“ (ERI), deren Mittel in Obamas Budgetantrag für das Jahr 2017 mit 3,4 Mrd. Dollar gegenüber den Vorjahren massiv aufgestockt werden sollen (2015: 985 Mio. Dollar; 2016: 789 Mio. Dollar): „Die für die ERI bereitgestellten Mittel haben es den USA erlaubt, eine kontinuierliche Präsenz von Einheiten auf Rotationsbasis vor allem in Polen und den baltischen Staaten aufrechtzuerhalten und die Zahl der bilateralen Übungen zu erhöhen. […] Teil der ERI war schließlich auch die Erkundung von Möglichkeiten der Vorausstationierung von Material. Insofern kam es nicht überraschend, dass US-Verteidigungsminister Ashton Carter während seiner Europareise im Juni 2015 die Stationierung von rund 250 gepanzerten Fahrzeugen in Zentral- und Osteuropa ankündigte. Zum ersten Mal werden Teile dieser Ausrüstung in Kompanie- und Bataillonsgröße auf den Territorien der «neuen» NATO-Mitgliedstaaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und Bulgarien stationiert sein, andere Elemente auch in Deutschland. Im Frühjahr 2016 verkündeten die USA im Rahmen ihrer Budgetplanungen noch weitergehende Schritte. So soll zusätzlich zu dem beschriebenen Material nun zum ersten Mal seit Jahren wieder die Ausrüstung für eine vollausgestattete Panzerbrigade in Europa stationiert werden – wohlgemerkt für einen integralen Großverband, nicht lediglich für das mengenmäßige Äquivalent einer solchen Einheit.“ Matthias Bieri u.a.: Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 – 2016, CSS-Studie, Juni 2015, S. 14.
[7] NATO in a World of Disorder: Making the Alliance Ready for Warsaw: Making the Alliance Ready for Warsaw, Advisory Panel on the NATO Summit 2016, German Marshall Fund, März 2016, S. 10.
[8] Clark, Wesley u.a.: Closing NATO’s Baltic Gap, ICDS-Report, Mai 2016, S. 7.
[9] „Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation“, NATO 27. Mai 1997.
[10] Exercises in 2016, Nato Fact Sheet, July 2016.
[11] Die „Lücke von Suwalki“ ist die Achillesferse der Nato, Die Welt, 09.07.2016.
[12] Russia: West Dangerous Brinkmanship Continues, European Leadership Network, März 2015.
[13] West and Russia on course for war, says ex-Nato deputy commander, The Guardian, 18.05.2016.
[14] Siehe zur Diskussion Wagner, Jürgen: Atomare Muskelspiele, in: DFG-VK/IMI 2016, S. 64-70.
[15] NATO in a World of Disorder: Making the Alliance Ready for Warsaw: Making the Alliance Ready for Warsaw, Advisory Panel on the NATO Summit 2016, German Marshall Fund, März 2016, S. 6.
[16] Camille Grand: Nuclear deterrence and the Alliance in the 21st century, NATO Review, 04.07.2016.
[17] Wagner 2016.
[18] Kamp, Karl-Heinz: Das atomare Element im Russland Ukraine-Konflikt, BAKS-Arbeitspapier Nr. 3/2015.
[19] Bieri u.a. 2016, S. 18.
[20] 8.400 US-Soldaten bleiben am Hindukusch, Zeit Online, 07.07.2016.
[21] Resolute Support Mission (RSM): Key Facts and Figures, Nato Fact Sheet, July 2016.
[22] Warsaw Summit Declaration on Afghanistan. Issued by the Heads of State and Government of Afghanistan and Allies and their Resolute Support Operational Partners, Press Release (2016) 121.
[23] Ebd.
[24] Nato in Afghanistan: Endlos-Mission am Hindukusch, Spiegel Online, 09.07.2016.
[25] Awacs-Einsatz im Kampf gegen IS-Miliz beschlossen, n24, 09.07.2016.
[26] Joint declaration by the President of the European Council, the President of the European Commission, and the Secretary General of the North Atlantic Treaty Organization, Press Release (2016) 119.
[27] Nato-Gipfel beschließt Awacs-Einsatz im Kampf gegen IS, DPA, 09.07.2016.
[28] Trendwende bei Nato-Ausgaben, FAZ, 09.07.2016.
[29] Der ewige Streit um das Geld, Tagesschau Online, 09.07.2016.
[30] Mehrheit gegen NATO-Truppen in Osteuropa, Neue Deutschland, 08.07.2016.
[31] Nato-Politik spaltet Koalition und SPD, Wirtschaftswoche, 09.07.2016.
[32] Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel, Berlin, 07. Juli 2016.
[33] Dossier: VJTF – Speerspitze der NATO, bmvg.de, 18.02.2016.
[34] Auf einen – zumindest für die deutsche Rüstungsindustrie – angenehmen Nebeneffekt macht die Bundeswehr aufmerksam: „Der künftigen Kooperation bei Übungen im Rahmen der Enhanced Forward Presence kommen dabei auch die engen rüstungspolitischen Beziehungen zu Gute. So macht die litauische Beschaffung der Panzerhaubitze 2000 und des GTK Boxer die gemeinsame Ausbildung und Übung mit diesen Waffensystemen möglich.“ Wie die NATO in Osteuropa Flagge zeigt, bundeswehr.de, 08.07.2016.
[35] Vom verlässlichen Partner zum Impulsgeber, FAZ, 08.07.2016.
Verstärkte Vorwärtspräsenz gegen Russland
Wie sich die Zeiten doch ändern können – hieß es doch in der Abschlusserklärung des NATO-Gipfels von Rom im Jahr 1990 noch: „Die Mitgliedsländer der Nordatlantischen Allianz schlagen den Mitgliedsstaaten des Warschauer Paktes eine gemeinsame Erklärung vor, in der wir feierlich erklären, dass wir nicht länger Feinde sind.“[3] Nicht zuletzt die jahrzehntelange anti-russische Politik der NATO und die russischen Reaktionen darauf haben dafür gesorgt, dass vom damaligen Geist nichts mehr übrig ist. So heißt es heutzutage in der Gipfelerklärung von Warschau: „Russlands aggressive Handlungen, einschließlich provozierender militärischer Aktivitäten an der Peripherie des NATO-Gebietes, und seine zur Schau gestellte Bereitschaft, politische Ziele durch die Drohung und Anwendung von Gewalt zu erreichen, sind die Ursache regionaler Instabilität, fordern die Allianz fundamental heraus, haben die euro-atlantische Sicherheit beschädigt und gefährden unser langfristiges Ziel eines geeinten, freien und friedlichen Europa.“ (Absatz 5)
Im Fortgang der Ukraine-Krise begann die NATO schon im April 2014 mit einer gegen Russland gerichteten Rüstungsoffensive, als die Kampfjets zur Luftüberwachung des Baltikums vervierfacht, die maritime Präsenz im Schwarzen Meer vergrößert und jede Kooperation mit Russland auf Eis gelegt wurden. Von da ab wurde auch die Zahl der Manöver drastisch erhöht – allein 2014 wurden 162 Übungen abgehalten, nach offiziellen Angaben rund doppelt so viele wie ursprünglich geplant.[4] Auf dem NATO-Gipfel in Wales im September 2014 erhielten diese Maßnahmen mit dem „Bereitschafts-Aktionsplan” („Readiness Action Plan“) einen Rahmen und wurden um mehrere wesentliche Aspekte ergänzt. Beschlossen wurde dort u.a. die Aufstellung einer „Ultraschnellen Eingreiftruppe“ („Very High Readiness Joint Task Force“, VJTF), die primär für Einsätze im unmittelbaren Umfeld Russlands gedacht ist. Als Umfang der auch „Speerspitze“ genannten Einheit wird in den Medien meist die Zahl von 5.000 Soldaten angegeben. Ein Blick in den offiziellen Fact Sheet der NATO offenbart allerdings, dass es sich hierbei lediglich um die VJTF-Bodenkomponente handelt, weshalb die Gesamtstärke der Truppe 20.000 Soldaten beträgt. Um die Funktion als „zweite Welle“ nach einem VJTF-Einsatz „besser“ erfüllen zu können, wurde darüber hinaus das Kontingent der „Schnellen Eingreiftruppe“ („NATO Response Force“, NRF) deutlich von 13.000 zunächst auf 30.000 und dann auf 40.000 Soldaten nach oben geschraubt.[5] Um künftig alle Manöver und möglichen Einsätze in Osteuropa leiten zu können, wurde ferner das Multinationale Korps Nord-Ost in Stettin unter polnisch-deutscher Führung massiv ausgebaut. Als „Sprungbretter“ für Einsätze der VJTF wurden außerdem inzwischen insgesamt acht neue NATO-Stützpunkte, sogenannte „NATO Force Integration Units“ (NFIUs), in Osteuropa eingerichtet, die ab September 2015 ihre Arbeit aufnahmen. Sie verfügen über eine verhältnismäßig geringe Besatzung (je 40 Soldaten) und befinden sich in Estland, Lettland, Litauen sowie der Slowakei, Ungarn, Polen, Rumänien und Bulgarien.[6]
Obwohl die NATO also seit 2014 eine zutiefst Besorgnis erregende Aufrüstung ihrer Ostflanke eingeleitet hat, wurden schnell Stimmen laut, die diese Maßnahmen als nicht ausreichend kritisierten – und je näher der Gipfel rückte, desto drängender wurden diese Stimmen. Im März 2016 veröffentlichte etwa der „German Marshall Fund“ (GMF) die Forderungen mehrerer prominenter NATO-Strategen, darunter mit Karl-Heinz Kamp auch der Leiter der „Bundesakademie für Sicherheitspolitik“ (BAKS): „Das Bündnis kann sich nicht allein auf erweiterte Abschreckung und kleine, mobile Einheiten wie die […] VJTF verlassen […]. Die Allianz [muss] zu einer Strategie hin zu einer erhöhten Vorwärtspräsenz übergehen, die als stabilisierende und abschreckende Kraft stationiert ist, bevor ein Konflikt beginnt. […] Solch eine Truppe muss kampfbereit sein […]. Die Größenordnung von einer Brigade in einem der baltischen Staaten und in Polen wäre ein guter Anfang.“[7] Zwei Brigaden, also bis zu 10.000 Soldaten, waren wiederum dem ehemaligen NATO-Generalsekretär Wesley Clark nicht genug, der zusammen mit weiteren hochrangigen NATO-Militärs kurz darauf die Verlegung von drei Brigaden forderte.[8]
Ganz diese Dimension ist es dann doch nicht geworden, dennoch ist es schlimm genug, dass sich die NATO-Verteidigungsminister auf ihrem Treffen im Juni 2016 auf die Verlegung von vier Bataillonen – also 4.000 Soldaten – verständigt hatten, die nun auf dem Gipfeltreffen in Warschau unter der Bezeichnung „Verstärkte Vorwärtspräsenz“ („enhanced forward presence“) endgültig beschlossen wurde. Dabei soll je ein Bataillon in Litauen (unter deutscher Führung), Estland (Großbritannien), Lettland (Kanada) und in Polen (USA) „beheimatet“ sein (Absatz 40). Je nach Definition des Begriffes „substantiell“ handelt es sich hierbei um einen Bruch der NATO-Russland-Grundakte von 1997, in der sich das westliche Militärbündnis dazu verpflichtete, keine „substantiellen Kampftruppen dauerhaft“ in Osteuropa zu stationieren.[9]
Auf nahezu gleichbleibend hohem Niveau soll darüber hinaus auch die Manövertätigkeit bleiben – wie die NATO ankündigte, sind für 2016 insgesamt 240 Übungen geplant.[10] Russland reagierte seinerseits wiederum, indem es im Januar 2016 ankündigte, drei Divisionen (30.000 Soldaten) an seine Westgrenze zu verlegen.[11] Dies alles erhöht die Gefahr „versehentlicher“ Zusammenstöße zwischen Truppen der NATO und Russlands erheblich, wovor unter anderem das „European Leadership Network“ immer wieder eindringlich warnt.[12] Besonders Besorgnis erregend ist in diesem Zusammenhang vor allem auch die offene Diskussion über die Rolle von Atomwaffen in einem möglichen westlich-russischen Konflikt.
Atompolitik: Spiel mit dem Feuer
Aufhorchen ließ kürzlich das Buch „2017 War with Russia“ von Richard Shirreff, der zwischen 2011 und 2014 den Posten des stellvertretenden NATO-Oberkommandeurs in Europa innehatte. Er argumentierte im Mai 2016, es sei zwar nicht zwingend, aber „sehr wahrscheinlich“, dass es zu einem Atomkrieg mit Russland kommen werde. Ihm sprang im Vorwort des Buches James Stavridis, von 2009 bis 2013 NATO-Oberkommandierender in Europa, zur Seite: „Unter Präsident Putin hat Russland einen gefährlichen Kurs eingeschlagen. Sollte es ihm erlaubt werden, damit fortzufahren, wird dies zwangsläufig zu einer Kollision mit der NATO führen. Und das wird einen Krieg bedeuten, der schnell auch atomar geführt werden könnte.“[13]
Russland wird vorgeworfen, seine Militärdoktrin derart verändert zu haben, dass der Einsatz taktischer Atomwaffen auf einem begrenzten Gefechtsfeld erwogen werde, um hierdurch die konventionelle Überlegenheit des Westens auszugleichen – ob dies zutrifft, ist allerdings eine andere Frage.[14] Jedenfalls wird aus diesem Grund schon seit einiger Zeit von prominenten Strategen eine Überprüfung der NATO-Nuklearstrategie mit dem Ziel gefordert, die Rolle von Atomwaffen wieder aufzuwerten.[15] So wurde nur wenige Tage vor Beginn des Gipfeltreffens sogar im Hausblatt der Allianz, dem „NATO-Review“, ein Artikel mit dem Titel „Atomare Abschreckung und die Allianz im 21.Jahrhundert“ platziert: „Die Abschreckung ist zurück und die NATO muss eine glaubwürdige Verteidigung und Abschreckung mit Blick auf viele verschiedene Gefahren wiedererlangen […] Zu dieser Debatte gehört eine starke nukleare Komponente.“[16]
Auf den ersten Blick ähneln viele diesbezügliche Passagen der Warschau-Gipfelerklärung trotzdem früheren Abschlussdokumenten. Dennoch gibt es aber einige wichtige Unterschiede: Erstens wurde verbal – im Fachjargon: deklaratorisch – der Ton etwas angezogen: „Jeder Einsatz von Atomwaffen gegen die NATO würde den Charakter eines Konfliktes fundamental verändern. Niemand sollte an der Entschlossenheit der Nato zweifeln, wenn die Sicherheit eines ihrer Mitglieder bedroht sein sollte. Die NATO hat die Kapazitäten und die Entschlossenheit, einem Gegner Kosten zuzufügen, die inakzeptabel wären und die Vorteile, die ein Gegner erhoffen könnte, weit überwiegen.“ (Absatz 54)
Zweitens wird gegenüber früheren Jahren stärker die Rolle der in Europa im Rahmen der Nuklearen Teilhabe stationierten US-Atomwaffen hervorgehoben, die zum Beispiel 2014 nicht einmal erwähnt worden waren: „Die nukleare Abschreckungskomponente der NATO basiert außerdem zum Teil auf den vorwärtsstationierten US-Atomwaffen in Europa und der diesbezüglichen Infrastruktur der Alliierten.“ (Absatz 53) Wurde vor einigen Jahren noch über den Totalabzug der Waffen debattiert, ist nun ein massives Modernisierungsprogramm eingeleitet worden, das die Einsetzbarkeit der in fünf NATO-Ländern diesseits des Atlantiks – u.a. in Deutschland in Büchel – lagernden Waffen erheblich „verbessert“. Unklar ist dagegen, wie mit dem Wunsch einiger osteuropäischer Länder, insbesondere Polens, verfahren wurde, der Nuklearen Teilhabe beizutreten und damit US-Atomwaffen auf ihrem Territorium zu stationieren.
Drittens wurde auf dem Gipfel erklärt, man mache weiter Fortschritte beim Aufbau der NATO-Raketenabwehr. Ein „neuer Meilenstein“ sei erreicht worden, die „Initial Operational Capability“ sei ein „wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer NATO-Raketenabwehr“, heißt es in der Gipfelerklärung (Absatz 57). Zwar wird unmittelbar darauf deutlich betont, das System sei „nicht gegen Russland gerichtet“ (Absatz 59), Moskau sieht darin aber dennoch mit einigem Recht den Versuch, seine Zweitschlagfähigkeit – und damit seine Fähigkeit, einen NATO-Angriff abzuschrecken – auszuhebeln.[17]
Und schließlich betrifft der letzte wichtige Punkt der Abschlusserklärung noch den komplex Abrüstung und Rüstungskontrolle. Schon vor dem Gipfel wurden die Aussichten für weitere nukleare Abrüstungsrunden teils für tot erklärt, wenn u.a. Karl-Heinz Kamp, Chef der „Bundesakademie für Sicherheitspolitik“, schrieb: „Unter den aktuellen konfrontativen Bedingungen ist eine gemeinsame Reduzierung der Atomwaffen in Europe kaum noch vorstellbar. […] Damit ist nukleare Rüstungskontrolle nicht grundsätzlich ausgeschlossen sie bleibt integraler Teil westlicher Sicherheitspolitik. Allerdings ist sie dem Zweck der Sicherheitsvorsorge eindeutig nachgeordnet. Es ist nicht der primäre Daseinszweck einer Nuklearwaffe, abgerüstet zu werden. Zweck einer Kernwaffe – wie auch jeder anderen Waffen – ist es, zur Sicherheit und Verteidigung beizutragen.“[18] Ganz ähnlich heißt es auch in der Warschau-Erklärung (Absatz 65): „Fortschritte bei der Rüstungskontrolle und Abrüstung müssen die vorherrschende internationale Sicherheitsumgebung berücksichtigen. Wir bedauern, dass die Umstände, um Abrüstung zu erreichen, nicht günstig sind.“
Unklar ist, ob sich die Allianz in Warschau wie vielfach gefordert, auf eine grundlegende Überarbeitung ihrer Nuklearstrategie verständigt hat. Als mögliche Elemente einer solchen Überarbeitung werden von Befürwortern u.a. genannt: „Für die kommenden Jahre [sind] kontroverse Diskussionen im Hinblick auf die Ausprägung und Gestaltung des nuklearen NATO-Dispositivs zu erwarten. Dabei wird es um Themen wie die Deklarationspraxis, die Alarmierungszeiten und die Übungspraxis, die Modernisierung und Anpassung existierender Waffensysteme bis hin zu der Frage gehen, ob die Allianz das in der NATO-Russland-Akte gegebene Versprechen aufgeben und Kernwaffen in neuen Mitgliedstaaten stationieren soll.“[19]
Afghanistan: Rückzug vom Rückzug
Ganz im Gegensatz zu vielen früheren Gipfeln spielte der Krieg in Afghanistan in Warschau nur eine Nebenrolle. Dennoch wurden unmittelbar vor und auf dem Gipfel selbst wichtige Weichen für die Fortsetzung des NATO-Krieges gestellt. Bereits kurz vor Gipfelbeginn verkündete Barack Obama, die USA würden ihre Truppenpräsenz in Afghanistan nicht, wie zuletzt angekündigt, auf 5.500 Soldaten reduzieren, sondern sie bei 8.400 belassen.[20]
Damit sendete der US-Präsident ein Signal, das die Verbündeten beim Gipfel in Warschau bereitwillig aufgriffen. Auch die „Resolute Support Mission“ (RSM) der NATO, die eigentlich mit ihren aktuell knapp über 13.000 Soldaten[21] „nur” zur Beratung und Ausbildung in Afghanistan stationiert ist, tatsächlich aber immer robuster vorgeht, wird auf absehbare Zeit nicht abgezogen. Schon zuvor war der ursprünglich verkündete Abzugstermin Ende 2016 um ein Jahr verschoben worden. Auf dem Gipfeltreffen wurde nun eine spezielle Erklärung zu Afghanistan verabschiedet, die es tunlichst vermeidet, überhaupt noch irgendeinen konkreten Abzugstermin zu nennen: „Die NATO und ihre Operationspartner haben sich heute dazu verpflichtet, die Resolute Support Mission durch ein flexibles, lokales Modell über 2016 hinaus aufrecht zu erhalten.“[22]
Ebenfalls verständigt hat man sich darauf, die afghanischen Armee- und Polizeitruppen weiterzufinanzieren. Wie sich allerdings die jährlichen Kosten von ca. 6 Mrd. Dollar, von denen bisher 500 Mio. aus dem afghanischen Haushalt und der Rest von der „internationalen Gemeinschaft“ bezahlt wurden, künftig aufteilen werden, ist nicht näher ausgeführt. Festgehalten wird allerdings, dass der afghanische Anteil sukzessive steigen und das Land im Jahr 2024 die „volle finanzielle Verantwortlichkeit“ übernehmen soll.[23] Wie dies angesichts eines afghanischen Haushaltes von 7,2 Mrd. Dollar (2016/2017) gehen soll, darüber schweigt sich das Dokument allerdings aus.
In Warschau wurde also mehr oder minder am Rande dafür Sorge getragen, dass die NATO aller Voraussicht nach noch für viele Jahre am Hindukusch präsent und in die dortigen Kämpfe verwickelt sein wird, wie etwa Spiegel Online durchaus kritisch bemerkt: „Fast nebenbei hat die Nato in Warschau ihre größte Militärmission verlängert, von einem Abzug aus Afghanistan ist keine Rede mehr. Die Bundeswehr stellt sich auf einen Einsatz mit offenem Ende ein. […] ‚Das Thema Abzug‘, sagt ein Bundeswehr-General in Warschau, ‚ist erst mal nicht mehr auf der Tagesordnung.‘“[24]
Präsenz an der Südflanke
Während der Diskussionsphase vor dem Gipfel wurde allerorten gefordert, trotz der „Notwendigkeit“, die Konfrontation mit Russland suchen zu müssen, dürften andere Regionen und Politikbereiche, insbesondere die Südflanke, nicht vernachlässigt werden. Wie eingangs erwähnt, wurde dies auf die Formulierung, man verfolge einen „360-Grad-Ansatz“, heruntergebrochen. Dem wurde mit mehreren Entscheidungen auf dem Gipfeltreffen Rechnung getragen: Während Libyen eine NATO-Ausbildungsmission angeboten wurde, sollte dies die diesbezüglich derzeit noch recht skeptische neue Einheitsregierung wünschen (Absatz 93), ist man mit dem Irak schon deutlich weiter. Während bislang irakische Einheiten in Jordanien ausgebildet wurden, äußerte die irakische Regierung schon im Mai 2016 die Bitte, auch im Land selbst eine NATO-Ausbildungsmission zu starten. Dem wurde nun entsprochen, in der NATO-Gipfelerklärung heißt es, man habe sich darauf verständigt, „ein NATO-Training der irakischen Sicherheits- und Militärkräfte im Land durchzuführen.“ (Absatz 95)
Und schließlich wurde noch der Einsatz von Awacs-Flugzeugen gegen den „Islamischen Staat“ beschlossen, an dem sich dann wohl auch deutsche Soldaten beteiligen werden – damit steigt die NATO auch offiziell in die Kriege im Irak und in Syrien ein: „Die Bündnispläne sehen vor, dass die mit moderner Radar- und Kommunikationstechnik ausgestatteten Flugzeuge von der Türkei und der Mittelmeerküste aus den Luftraum über Syrien und dem Irak überwachen. Wenn der Einsatz wie geplant nach dem Sommer beginnt, werden aller Voraussicht nach auch deutsche Soldaten zum Einsatz kommen. Die Bundeswehr stellt nach eigenen Angaben rund ein Drittel der Besatzungsmitglieder für die aus 16 Flugzeugen bestehende Awacs-Flotte der Nato.“[25]
Ebenfalls neu aufstellen will sich die Allianz bei der Flüchtlingsbekämpfung im Mittelmeer – und geht dabei eng koordiniert mit der EU vor.
NATO und EU: Hand in Hand bei der Flüchtlingsbekämpfung
Auf dem Warschau-Gipfel wurde ebenfalls ein Papier zur Intensivierung der NATO-EU-Zusammenarbeit verabschiedet: „Wir sind der Meinung, dass die Zeit gekommen ist, der Strategischen Partnerschaft zwischen NATO und EU neue Impulse und Substanz zu geben.“[26]
In früheren Jahren war das Verhältnis zwischen EU und NATO nicht unproblematisch, da die USA gegenüber EU-Rüstungsanstrengungen sehr skeptisch waren, sollten diese nicht komplett unter dem Dach der NATO – und damit ihrem Einfluss – vonstatten gehen. Inzwischen „ermuntern“ die USA die EU-Verbündeten aber regelrecht, mehr Geld in die Rüstung zu pumpen, selbst wenn dies zu einer eigenständigen – autonomen – Kriegsführungsfähigkeit der EU führen sollte. Auch in der Gipfelerklärung spiegelt sich dies wider: „Die NATO erkennt die Bedeutung einer stärkeren und fähigeren europäischen Verteidigung an, die zu einer stärkeren NATO führen und die Sicherheit aller Verbündeten fördern wird. […] In diesem Zusammenhang begrüßen wir die Stärkung der EU-Verteidigungsfähigkeiten und des Krisenmanagements, die wir über die letzten Jahre beobachten konnten.“ (Absatz 124)
In der NATO-EU-Rahmenerklärung werden zahlreiche Rüstungsbereiche genannt, in denen die Zusammenarbeit künftig intensiviert werden soll. Besonders sticht der Kooperationswille schon jetzt bei der Bereitschaft zur koordinierten Flüchtlingsbekämpfung hervor: „Um die EU-Operation „Sophia“ vor der libyschen Küste unterstützen zu können, wurde der mögliche Aufgabenbereich für den aktuellen Einsatz im Mittelmeer deutlich erweitert. Die Nato-Schiffe sollen künftig auch am Kampf gegen illegale Migration beteiligt werden können. Die Operation im Mittelmeer heißt dann ‚Sea Guardian‘ (Meereswächter). Sie geht aus dem Einsatz ‚Active Endeavour‘ hervor, der nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 gestartet worden war. Das Mandat für ‚Active Endeavour‘ erlaubte bislang nur die Überwachung des zivilen Seeverkehrs im Mittelmeer.“[27]
Geldregen
Bereits auf dem Wales-Gipfel im September 2014 verständigten sich die Staats- und Regierungschefs – allerdings nicht rechtlich bindend – darauf, 2% des BIP für Rüstung auszugeben. Während die Mitgliedsländer laut dem Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI 2015 905 Mrd. Dollar ausgaben, würde die Einhaltung des 2-Prozent-Ziels eine Erhöhung der Rüstungsausgaben um satte 100 Mrd. Euro erfordern.
Davon ist die Allianz zwar noch ein gutes Stück entfernt, dennoch jubelt sie in ihrer Abschlusserklärung des Warschau-Gipfels, die „Kehrtwende“ bei den Rüstungsausgaben sei geschafft (Absatz 34). Und tatsächlich bestätigen die konkreten Zahlen, dass es aus Sicht der NATO allen Grund zur Freude gibt: „Beim Geld soll in der Nato die Freundschaft nicht aufhören. […] So stiegen die Verteidigungsausgaben, die 2014 noch um real ein Prozent geschrumpft waren, im vergangenen Jahr im Durchschnitt der Nato-Länder um 0,6 Prozent. Für das laufende Jahr wird mit einem weiteren Anstieg um drei Prozent gerechnet. Dies entspreche einer Zunahme um acht Milliarden Dollar, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Immerhin 22 Partnerstaaten, darunter auch Deutschland (derzeit bei 1,19 Prozent des BIP), hätten ihre Ausgaben gesteigert.“[28]
Selbstredend geht das Vielen im Bündnis noch nicht weit genug: „Das reicht aber nicht. Wir haben die Einschnitte gestoppt und bewegen uns jetzt in die richtige Richtung“, sagte Douglas Lute, US-Botschafter bei der NATO. „Aber in den nächsten 8 Jahren werden wir viel Gewicht stemmen müssen. Einige von uns sind von den zwei Prozent nämlich weit entfernt.“[29] Ein Land, das erheblich vom 2%-Ziel entfernt ist, ist Deutschland – allerdings holt es in jüngster Zeit rapide auf, ein Umstand, den Kanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung zum NATO-Gipfel besonders hervorhob.
Führungsmacht Deutschland
In der letzten Umfrage von ARD-Deutschlandtrend lehnten 67 Prozent der Befragten die nun beschlossene permanente Stationierung von NATO-Truppen in Osteuropa ab.[30] Auch SPD-Spitzenpolitiker wie Frank-Walter Steinmeier oder auch Sigmar Gabriel äußerten sich skeptisch gegenüber dem „Säbelrasseln“ der Allianz in Richtung Russland.[31] Auf die praktische Politik scheint dies jedoch keinerlei Einfluss zu haben.
Liest man sich vielmehr die unmittelbar vor dem NATO-Gipfel abgegebene Regierungserklärung von Kanzlerin Angela Merkel durch, so enthält sie ein flammendes Bekenntnis zur gesamten Bandbreite der NATO-Eskalationspolitik – und dazu, dass Deutschland hier eine führende Rolle spielen soll. Auch den „360-Grad-Ansatz“ macht sich die Kanzlerin zu Eigen: „Im Osten hat Russlands Agieren in der Ukraine-Krise unsere östlichen Alliierten zutiefst verstört. […] Aber auch südlich des Bündnisgebietes müssen wir eine dramatische Verschlechterung der Sicherheitslage feststellen. [Der Readiness Action Plan] wird die Allianz schneller, reaktionsfähiger und einsatzbereiter machen, und zwar für Herausforderungen in jeder Richtung und jeder Art, das heißt in einem sogenannten 360-Grad-Ansatz.“[32]
Schon beim Aufbau der Ultraschnellen Eingreiftruppe übernahm Deutschland nach Eigenangaben eine „führende Rolle“[33] und auch das Multinationale Korps in Stettin wurde unter deutscher Ägide ausgebaut. Aus Merkels Regierungserklärung geht zudem hervor, dass sich Deutschland auch an den in Warschau auf den Weg gebrachten neuen Missionen beteiligen möchte. Vor allem aber wird es mit 500 Soldaten die Führung des Bataillons in Litauen übernehmen und sich damit buchstäblich an vorderster Front an den anti-russischen Rüstungsmaßnahmen beteiligen.[34]
Angesichts der deutschen Rolle beim NATO-Gipfel und darüber hinaus können sich Militaristen wie Johannes Leithäuser in der FAZ vor Begeisterung leider kaum mehr halten: „Deutschland präsentiert sich auf dem Nato-Gipfel in Warschau mit neuem Selbstverständnis. Vergessen sind Jahrzehnte der politischen und militärischen Zurückhaltung. Jetzt geht es Berlin um die aktive Mitgestaltung der globalen Ordnung. […] Die neuen Bedrohungen durch die russische Aggressionspolitik im Osten und durch den islamistischen Terror im Süden des Nato-Bündnisgebietes haben die Bundesregierung veranlasst, die Kultur politischer und militärischer Zurückhaltung aufzugeben, die über Jahrzehnte ein eingeübtes Verhaltensgebot der deutschen politischen Führung war.“[35]
Anmerkungen
[1] So werden zumindest Polen und die Balten hier genannt: Wolfgang Richter: Rückversicherung und Stabilität, SWP-Aktuell, 41/Juli 2016.
[2] Warsaw Summit Communiqué, Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in Warsaw 8-9 July 2016, Press Release (2016) 100. Wird im Text nachfolgend aus der Abschlusserklärung zitiert folgen die entsprechenden Stellen in Klammern.
[3] London Declaration On A Transformed North Atlantic Alliance, London 5-6 July 1990.
[4] Proben für den Krieg, Süddeutsche Zeitung, 12.08.2015.
[5] NATO’s Readiness Action Plan, Nato Fact Sheet, July 2016.
[6] Nathalie Schüler: Aufrüstung der NATO-Ostflanke. Die Umstrukturierung der NATO-Politik, Ukraine-Konflikt und Russland-Krise, in: DFG-VK/IMI (Hg.): Die 360° NATO: Mobilmachung an allen Fronten, Tübingen, Juni 2016, s. 27-33. Hinzu kommen noch die US-Maßnahmen der im Juni 2014 verkündeten „European Reassurance Initiative“ (ERI), deren Mittel in Obamas Budgetantrag für das Jahr 2017 mit 3,4 Mrd. Dollar gegenüber den Vorjahren massiv aufgestockt werden sollen (2015: 985 Mio. Dollar; 2016: 789 Mio. Dollar): „Die für die ERI bereitgestellten Mittel haben es den USA erlaubt, eine kontinuierliche Präsenz von Einheiten auf Rotationsbasis vor allem in Polen und den baltischen Staaten aufrechtzuerhalten und die Zahl der bilateralen Übungen zu erhöhen. […] Teil der ERI war schließlich auch die Erkundung von Möglichkeiten der Vorausstationierung von Material. Insofern kam es nicht überraschend, dass US-Verteidigungsminister Ashton Carter während seiner Europareise im Juni 2015 die Stationierung von rund 250 gepanzerten Fahrzeugen in Zentral- und Osteuropa ankündigte. Zum ersten Mal werden Teile dieser Ausrüstung in Kompanie- und Bataillonsgröße auf den Territorien der «neuen» NATO-Mitgliedstaaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Rumänien und Bulgarien stationiert sein, andere Elemente auch in Deutschland. Im Frühjahr 2016 verkündeten die USA im Rahmen ihrer Budgetplanungen noch weitergehende Schritte. So soll zusätzlich zu dem beschriebenen Material nun zum ersten Mal seit Jahren wieder die Ausrüstung für eine vollausgestattete Panzerbrigade in Europa stationiert werden – wohlgemerkt für einen integralen Großverband, nicht lediglich für das mengenmäßige Äquivalent einer solchen Einheit.“ Matthias Bieri u.a.: Die NATO und Russland: Verteidigungsplanung 2014 – 2016, CSS-Studie, Juni 2015, S. 14.
[7] NATO in a World of Disorder: Making the Alliance Ready for Warsaw: Making the Alliance Ready for Warsaw, Advisory Panel on the NATO Summit 2016, German Marshall Fund, März 2016, S. 10.
[8] Clark, Wesley u.a.: Closing NATO’s Baltic Gap, ICDS-Report, Mai 2016, S. 7.
[9] „Grundakte über Gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit zwischen der Nordatlantikvertrags-Organisation und der Russischen Föderation“, NATO 27. Mai 1997.
[10] Exercises in 2016, Nato Fact Sheet, July 2016.
[11] Die „Lücke von Suwalki“ ist die Achillesferse der Nato, Die Welt, 09.07.2016.
[12] Russia: West Dangerous Brinkmanship Continues, European Leadership Network, März 2015.
[13] West and Russia on course for war, says ex-Nato deputy commander, The Guardian, 18.05.2016.
[14] Siehe zur Diskussion Wagner, Jürgen: Atomare Muskelspiele, in: DFG-VK/IMI 2016, S. 64-70.
[15] NATO in a World of Disorder: Making the Alliance Ready for Warsaw: Making the Alliance Ready for Warsaw, Advisory Panel on the NATO Summit 2016, German Marshall Fund, März 2016, S. 6.
[16] Camille Grand: Nuclear deterrence and the Alliance in the 21st century, NATO Review, 04.07.2016.
[17] Wagner 2016.
[18] Kamp, Karl-Heinz: Das atomare Element im Russland Ukraine-Konflikt, BAKS-Arbeitspapier Nr. 3/2015.
[19] Bieri u.a. 2016, S. 18.
[20] 8.400 US-Soldaten bleiben am Hindukusch, Zeit Online, 07.07.2016.
[21] Resolute Support Mission (RSM): Key Facts and Figures, Nato Fact Sheet, July 2016.
[22] Warsaw Summit Declaration on Afghanistan. Issued by the Heads of State and Government of Afghanistan and Allies and their Resolute Support Operational Partners, Press Release (2016) 121.
[23] Ebd.
[24] Nato in Afghanistan: Endlos-Mission am Hindukusch, Spiegel Online, 09.07.2016.
[25] Awacs-Einsatz im Kampf gegen IS-Miliz beschlossen, n24, 09.07.2016.
[26] Joint declaration by the President of the European Council, the President of the European Commission, and the Secretary General of the North Atlantic Treaty Organization, Press Release (2016) 119.
[27] Nato-Gipfel beschließt Awacs-Einsatz im Kampf gegen IS, DPA, 09.07.2016.
[28] Trendwende bei Nato-Ausgaben, FAZ, 09.07.2016.
[29] Der ewige Streit um das Geld, Tagesschau Online, 09.07.2016.
[30] Mehrheit gegen NATO-Truppen in Osteuropa, Neue Deutschland, 08.07.2016.
[31] Nato-Politik spaltet Koalition und SPD, Wirtschaftswoche, 09.07.2016.
[32] Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel, Berlin, 07. Juli 2016.
[33] Dossier: VJTF – Speerspitze der NATO, bmvg.de, 18.02.2016.
[34] Auf einen – zumindest für die deutsche Rüstungsindustrie – angenehmen Nebeneffekt macht die Bundeswehr aufmerksam: „Der künftigen Kooperation bei Übungen im Rahmen der Enhanced Forward Presence kommen dabei auch die engen rüstungspolitischen Beziehungen zu Gute. So macht die litauische Beschaffung der Panzerhaubitze 2000 und des GTK Boxer die gemeinsame Ausbildung und Übung mit diesen Waffensystemen möglich.“ Wie die NATO in Osteuropa Flagge zeigt, bundeswehr.de, 08.07.2016.
[35] Vom verlässlichen Partner zum Impulsgeber, FAZ, 08.07.2016.
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