Freitag, 15. Juli 2016

Um des Lebens willen…

Unter dem Deckmantel der Wiedervereinigung streckte die Heilige Kuh ihre staatlichen und parteigebundenen Stellvertreter aus, um neue Weideflächen zu besetzen

daemmerzeit

Von Harry Popow

„Über dem Regenbogen.“ Ein zartes Lied. Melodisch. Gedankenreich. Eines, das unter die Haut geht. Frühlingstag. Sonne. Balkon. Das Grün. Die Wärme. Sie – Tränen in den Augen. Bald kommt der ewige Abschied. Er nimmt sie in seine Arme. Sie tanzen im Wohnzimmer. Nach dem Frühstück. Ihr Kopf liegt fest an seiner Schulter. Er streicht ihr leicht mit den Fingern hinter den Ohren. Ganz fest halten sie sich. Das Schöne und Liebe ist bei beiden zu Hause. Seit über einem halben Jahrhundert.
Was gibt es Wichtigeres als das einzigartige Leben? Mit all diesen Hoffnungen und auch Enttäuschungen? Mit all den Mühen und auch dem Spaß? Manchmal ist es zu viel des „Guten“. Gewalt, Korruption, Kriegsgefahr, Trauerspiel in Europa, nicht verfügbare Visionen, Resignation, Zerfallsprozesse, Theater und Filme, die oft genug nur Banales bieten, Talkrunden, die nur Symptome aufzählen. Inhaltsloses als Denkvorgabe. Was Wunder, dann droht Acedia: Gleichgültigkeit. Überdruss. Denkfaulheit. Trägheit des Herzens. Innere Leere. Langeweile. Ignoranz. Trostlosigkeit. Wer dem unterliegt, hat es schwer. Zukunft sieht dann anders aus. Dann droht Einsamkeit. Dann bist du ausgestoßen. Dann spürst du dein Alleinsein doppelt stark, abgehängt worden zu sein. Angewiesen auf Almosen, weil du ein außen vor bist, ein Arbeitsloser?  Und dann heißt es noch, du bist selber Schuld an deinem „Missgeschick“. Und so tappst du ohnmächtig in die Falle der Selbstverschuldung, suchst nach Auswegen in dir selbst, gerätst immer tiefer in die Sackgasse der eigenen Ohnmacht, während sich der Staat aus sozialen Problemen immer mehr heraushält. Begehrst du aber auf, dann ist das dein gutes Rcht. Nur – das juckt niemanden. Dein Zorn verpufft wie der Schrei einer Nachteule.
In den 1960er und 1970er Jahren  hat der „Meisterdenker“ des neoliberalen Projekts, Milton Friedman, in seiner Theorie verkündet, dass der freie Markt für die Freiheit des Einzelnen konstituierend sei, und dass er mit möglichst wenig Staat am besten funktioniere. Er hat allerdings dabei „übersehen“, dass sich die Marktteilnehmer sehr unterschiedlich in den Markt einbringen. Während der genannte Gedanke für die großen Kapitalbesitzer gewiss sehr attraktiv ist, müssen abhängig Beschäftigte und kleine Selbstständige an einem starken Staat, der faire Beschäftigungsverhältnisse und Mindestlöhne garantiert, interessiert sein.  (…) Wenn Solidarität in Europa wieder eine größere Rolle spielen soll, dann müssen sich Bürger und Politiker Europas vom neoliberalen Dogma, das solidarische Politik unterminiert, verabschieden und eine Wirtschaftspolitik verfolgen, die allen Schichten der Bevölkerung gerecht wird. (http://www.nachdenkseiten.de/?p=33352#h06)
Allen gerecht werden? Das ist reine Illusion. Seit wann lässt sich Wirtschaft über die reine Vernunft regulieren? Da hilft nur die zweifelhafte Flucht zu dir selbst. Gehe in dich. Bete gar? Das wird dir in heutigen Zeiten der Übermacht der Profitjäger und Katastrophenmeldungen wärmsten ans Herz gelegt. Das genaue Gegenteil aber tut Not. Dich überwinden. Aufstehen. Aufwachen – wie viele solcher Losungen hörst du.
Und doch: Abschied von acedia? Das klingt nach dem Roman „Abschied vom Frieden“. Die Profiteure machen lassen? Sich feige abducken? Drei-Affen-Zeremonie? Das Gegenteil von acedia: Sich rühren, zornigen Widerstand leisten, etwas tun. Frieden schaffen ohne Waffen. Im Bündnis mit anderen. Nicht vereinzelt. So wird ein Schuh draus.
Das Dilemma steckt tief, sehr tief. Neuerdings nämlich geht die Sonne im Westen auf. Neuerdings! Morgenröte aus Richtung Abendland? Gegen alle Naturgesetze? Wer denkt sich so etwas aus? Hirnis? Denkt doch endlich mal nach: Wenn das den Profit der größten Heiligen Kühe steigern würde – sie würden die Sonne tatsächlich ab sofort am westlichen Horizont aufgehen lassen. Und die Abendsonne ginge im Osten unter. Wie alles, was Osten ist auch unterzugehen hat. Dafür zahle es sich gehörig aus, allein der Tourismus würde profitieren. Aber das Geht nicht. Naturgesetze kann man nicht überlisten. Aber in der nur marktorientierten Gesellschaft geht das? Und wie das geht! Man braucht nur artig manipulieren, den Leuten glauben machen, alles hänge nur vom Wollen der Menschen ab – und zunehmend wieder vom Willen Gottes. So schafft sich die Heilige Kuh eine auf dem Kopf stehende Welt, ihren Freiraum für das Durchpeitschen ihres gewinnbringenden Futters, für jeglichen Widersinn, für jede Lüge und jeden Krieg.
Unter dem Deckmantel der Wiedervereinigung streckte die Heilige Kuh ihre staatlichen und parteigebundenen Stellvertreter aus, um neue Weideflächen zu besetzen. Und da viele jubelten, nahm sie den einstigen gemeinschaftlichen Besitzern Grund und Boden weg und verhieß angesichts der nunmehr im Westen aufgehenden Sonne „Blühende Landschaften“. Ihren Siegeszug bemäntelte sie mit den großen Worten „Freiheit und Demokratie“. Im Namen dieser seit der Französischen Revolution aufgekommenen Losung kam man nach der Konterrevolution auf die glorreiche Idee, von nun an allen und jedem zu gestatten, seine Innereien vor dem Volk auszuschütten, so dass man glauben sollte, die persönliche Freiheit sei das A und O jeglichen Wohlbefindens, darin stecke der Sinn menschlichen Daseins. Im Namen von Freiheit und Demokratie werden sämtliche Demos gegen Machtwillkür gestattet, um im nächsten Moment unter der gleichen Losung der Verteidigung des Abendlandes  die Teilnehmer von TIPP-Demos – so in Berlin mit 250.000 und in Hannover mit 90.000 – zu diffamieren und gar in die rechte Ecke zu stellen.
Man ist sich bei der Zurückdrängung der Ideologie der Veränderbarkeit der Welt  nicht zu schade, selbst vergessene, weil bedeutungslose, Philosophen aus der Erde zu kratzen. So Hans Blumenberg (1920 – 1996). .Theoretische Neugierde hielt er für philosophischer als Interesse an der Verbesserung der Welt. Den Glauben an die Veränderbarkeit des Menschen betrachtete Blumenberg als haltlose Illusion.   Er ließe „sich in der Epoche der Ideologien keiner der gängigen Philosophieströmungen des 20. Jahrhunderts zuordnen.“ Der Rekurs auf Vernunft, Wahrheit oder Begründung habe sich nach seiner Auslegung in unserem Zeitalter als unwirksam erwiesen: Zuviel sei geschehen, als dass man es in einer metaphernlosen Sprache ausdrücken könnte. Mit seiner niemals vollständig ausgearbeiteten Metaphorologie habe er ein Deutungsangebot vorgelegt, das heute wieder an Aktualität gewinne…
(siehe)
Aktualität in welchem Interesse? Hiermit sei also die Unhaltbarkeit von gesetzmäßigen Zusammenhängen wie die des Menschen in der Gesellschaft und im Produktionsprozess in Abhängigkeit von der Natur nachgewiesen. Wissenschaft ade! Der Neoliberalismus – aus dem Boden gestampft, um die Herrschaft des großen Kapitals zu sichern – sei auch hiermit am Siegeszug.
Setzen wir dem den folgenden Satz der Publizistin Daniela Dahn entgegen: „1989 brachte das vermeintliche Ende der Geschichte nur das Ende des systemkritischen Denkens. Unter dem fabelhaften Label „Freiheit und Demokratie“ wurde der fragwürdige Status quo den Hinzugekommenen als das non plus ultra menschlicher Zivilisation untergejubelt.“ (…) „Die bessere Zukunft wurde zumindest für die wirtschaftlichen oder politischen Verlierer zurückgedrängt in eine restaurative Gegenwart. Die systemkritische Debatte hat zwanzig Jahre verloren (…)“ (Daniela Dahn in ihrem Buch „Wir sind der Staat“, Seiten 123/110)
Unterstreichen möchte der Autor auch die Feststellung der zwei Zeitzeugen Armeegeneral a.D. Heinz Keßler und Generaloberst a.D. Fritz Streletz in ihrem Buch „Ohne die Mauer hätte es Krieg gegeben“ auf Seite 169: Mit 1989 sei „zugleich der Versuch einer antikapitalistischen Alternative in Deutschland aus der Welt, die DDR war Geschichte. Aber mit ihr keineswegs die Vorstellung von einer anderen als der kapitalistischen Welt. Denn mit diesem Staat DDR ist ja nicht die Idee untergegangen, sondern ein bestimmtes Modell, dass den dauerhaften Angriffen des Imperialismus erlag.“ Sofern sich die deutsche Arbeiterklasse ihrer Erfahrungen bewusst wird und sich diese nicht ausreden lässt, habe sie jedoch noch eine Perspektive.
Man betrachte dieses Buch „DÄMMERZEIT“ als eine Fortsetzung von „WETTERLEUCHTEN“, das im gleichen Verlag epubli erschienen war. Wohl wissend, dass es seine Leser kaum finden wird, zu große Macht haben Bestseller, die nicht am Schlaf dieser Welt rühren. Das Buch hatte jene Wirkung, die gemeiniglich gute Bücher haben: Es machte die Einfältigen einfältiger, die Klugen klüger, und die übrigen Tausende unberührt und unverändert. Es beruhigt, wenn man Kurt Tucholsky (1890 – 1935, Freitod) liest: „Satire hat eine Grenze nach oben: Buddha entzieht sich ihr. Satire hat auch eine Grenze nach unten. In Deutschland etwa die herrschenden faschistischen Mächte. Es lohnt nicht – so tief kann man nicht schießen.
Worum geht es? Interessanterweise veröffentlichte die „linkeZeitung“ am 16.042016 unter der Überschrift „Der Dritte Weltkrieg hat begonnen. Wacht endlich auf!“ folgenden Text, hier im Ausschnitt: „(…) In der vorherigen Generation entstand eine postmoderne Strömung, die jetzt als “Identitätsstiftung” bezeichnet wird; sie hindert liberal gesinnte intelligente Menschen daran, die Entwicklungen und Personen zu hinterfragen, die sie unterstützenswert finden. Deshalb erhielten und erhalten Bauernfänger wie Obama und Frau Clinton oder angeblich progressive Bewegungen wie Syriza in Griechenland so viel Zulauf, obwohl sie die Leute betrügen und eine menschenfeindliche Politik betreiben. Die Beschränkung auf die eigene Person und der Rückzug ins Privatleben haben viel zu lange den Zeitgeist in privilegierten westlichen Gesellschaften geprägt und die großen kollektiven Bewegungen gegen Krieg, soziale Ungerechtigkeit, Ungleichheit, Rassismus und Sexismus eingeschläfert. Dieser Schlaf scheint jetzt zu Ende zu gehen. Die Jungend wird langsam wieder wach. Jeremy Corbyn, der neue Chef der Labour Party in Großbritannien, wird von Tausenden junger Menschen unterstützt – auch Senator Bernie Sanders in den USA. (Die neuen Hoffnungsträger werden aber vermutlich auch nichts ändern.) (…)“
Ein zentnerschwerer Stein fällt dem Autor von den Schultern, als er sich als Blogger im Internet bestätigt fühlt. Nicht allein durch Dankesworte von Autoren und Zustimmung von Usern, sondern aus einem ganz plausiblen ökonomisch unabhängigem Grund. So schrieb Mirna Funk  folgende Zeilen: „Es gibt überhaupt keine Unterschiede mehr. Ich muss sogar sagen, dass ich die besten, klügsten, durchdachtesten und reflektiertesten Rezensionen auf Blogs gelesen habe. Das liegt natürlich daran, dass ein Blogger mehr Zeit hat, ein Buch auch wirklich durchzuarbeiten. Journalisten nehmen vielleicht Rezensionsaufträge an, weil sie dafür bezahlt werden, oder sie bieten es einer Zeitung an, weil sie wissen, dass sie den Text verkaufen können.“
 (entommen: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=2190  1)
Wieder im Zusammenhang denken lernen – das scheint das Gebot der Stunde in unserem so verrückten Zeitalter. So konnte ich in den „Nachdenkseiten“ folgende Klarsicht finden: „Die schleichende Revolution – Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört. Der Neoliberalismus bestimmt spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges alle Gesellschaften der westlichen Welt. Aber was ist Neoliberalismus? Die amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown glaubt, dass Neoliberalismus mehr ist als eine Wirtschaftspolitik, eine Ideologie oder eine Neuordnung des Verhältnisses von Staat und Wirtschaft. Vielmehr handelt es sich ihrer Ansicht nach um eine Neuordnung des gesamten Denkens, die alle Bereiche des Lebens sowie den Menschen selbst einem ökonomischen Bild entsprechend verändert – mit fatalen Folgen für die Demokratie. Alle Sphären der Existenz werden im Neoliberalismus wirtschaftlichen Gesichtspunkten unterworfen und diesen entsprechend vermessen: die Politik, das Recht, die Kultur, die Bildung, die Familie, die Geschlechterrollen. Das alte europäische Ideal des homo politicus, der sich für das Gemeinwesen engagiert, wird ersetzt durch das des homo oeconomicus, der sich als Humankapital verstehen und seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern soll. Damit wird das Volk als Zusammenschluss der Bürger und Grundlage der Demokratie abgeschafft und in der Konsequenz diese selbst. Trotz aller Wirtschafts- und Finanzkrisen setzt sich diese schleichende neoliberale Aushöhlung unserer Gesellschaften scheinbar unaufhaltsam fort (…)“.
Rette sich wer kann in diesem System? Das werden wohl nur wenige verstehen oder gar wahrnehmen. Obwohl – dazu gibt es zahlreiche Abhandlungen. Der Rezensent – und nicht nur er – kann ein Lied davon singen. Aber wer liest solch schwere Literatur, zumal sie oft genug systemkritisch daherkommt. Der Autor ist überfragt, darauf auch nur annähernd eingehen zu können. Der Leser, so er interessiert genug ist, wird also mit ihm in Äußerungen von Autoren, Publizisten, Politikern und Usern blättern, um sich diesem oft totgeschwiegenen Thema zu nähern. Mögen die Gedankensplitter, dieser bunte Kessel an streitbaren Texten, zu weiterem Nachdenken anregen, zur mentalen Flucht aus mitunter vorgegebener geistiger Enge, verbunden mit Fragen nach dem eigenen Tun.
Textauszug aus:
Harry Popow: “DÄMMERZEIT.  EIN KESSEL  STREITLUST”, epubli-Verlag. Taschenbuch, Format DIN A5, 204 Seiten, ISBN: 978-3-7375-3822-0, Preis: 11,99 Euro, zu bestellen:
http://www.epubli.de/shop/buch/D%C3%84MMERZEIT-Harry-Popow-9783737538220/52205 
Telefon: 030/ 617 890 200

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