Freitag, 15. Juli 2016

Das Massaker von Nochixtlán und die Bildungsreform


Von Luis Hernández Navarro
(Mexiko-Stadt, 5. Juli 2016, La Jornada).- Die indigenen Gemeinden Oaxacas befinden sich in Alarmbereitschaft. Sie durchleben das Massaker vom 19. Juni als ihr eigenes. Sie wissen sich vom Staat angegriffen. Ihre Topiles [von der Gemeinde gewählte Ordnungskräfte] sind auf der Hut. Das Massaker war eine Beleidigung für alle, aber besonders für das Volk der Mixtecos. Weit weg von den großen Städten sind die Triquis, Zapotecos, Mixes, Mazatecos und Chatinos über die Gebirgspfade gelaufen, um ihren Schmerz und ihre Solidarität mit ihren Schwestern und Brüdern aus Nochixtlán auszudrücken. Und um die Forderung nach der Abschaffung der Bildungsreform zu der ihren zu machen. Die kahlen Hügel sind stumme Zeugen ihrer Wut. Es geht nicht darum, gesehen zu werden. Nur sich untereinander zu sehen.
Neue Landkarte des Ungehorsams
Der indigene Protest hat eine neue Landkarte des Ungehorsams gezeichnet. Die Peripherien Oaxacas haben jetzt das Zentrum eingekreist. Am 23. Juni mobilisierten sie von Tamazulapam bis nach Ayutla Mixe, in San Francisco Cajones und von Guelatao bis nach Ixtlán. An anderen Tagen geschah Gleiches in Teojomulco, Juxtlahuaca, Tlaxiaco, Huajapan, Huautla und weiteren Regionen. Im gesamten Bundesstaat Oaxaca halten die Autoritäten von Landkreisen, Gemeinden und Agrarsiedlungen Informationsversammlungen ab. Das Ultimatum des mexikanischen Innenministeriums hat dieses Versammlungsfieber beschleunigt. In einer Vielzahl von Versammlungen wird die Aggression verurteilt und den Lehrer*innen Unterstützung versichert. Es wird beschlossen, die wenigen noch offenen Schulen zu schließen und diejenigen Lehrer*innen zu tadeln, die sich der Bewegung nicht angeschlossen haben. Unterschriften und Stempel unter Versammlungsurkunden bezeugen die Vereinbarungen.
Die vielfältige Unzufriedenheit in der oaxaqueñischen Gesellschaft hat im Lehrer*innenstreik einen gemeinsamen Nenner und einen Kristallisationspunkt gefunden. In Oaxaca brodelt es vor lauter ungelösten Problemen. Und vor lauter Widerstand. Die Regierung des Machtwechsels unter Gouverneur Gabino Cué stellte sich als Fiasko heraus. Die Gemeinden lassen sich von den wie eine Welle anrollenden zerstörerischen Bergbauprojekten und dem Energie-Business, deren Gewinne nicht die ihren sind, nicht kleinkriegen. Die Lebensqualität hat in den vergangenen Jahren einen dramatischen Niedergang erfahren. Schon lange vor den Blockaden waren Geld und Ware knapp. 480 Frauen sind gewaltsam ermordet worden. In drei Jahren starben 4.500 Nierenkranke aufgrund fehlender Dialysegeräte.
Die Gemeinden verteidigen die öffentliche Bildung
Die tiefgehenden Gemeinsamkeiten von Lehrer*innen und Gemeinden messen sich nicht nach den vielfältigen sozialen Organisationen auf dem Territorium Oaxacas. Die Vereinigungen, Blöcke, Koalitionen, Verbände und Gruppierungen sind nicht der Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Lehrer*innen. Sie spielen eine wichtige Rolle beim Aufbau eines Blocks aus Lehrer*innenbewegung und Bevölkerung. Doch die wichtigste Klammer, die diesen Block artikuliert, ist eine andere: die direkte Beziehung der Lehrer*innen mit den Schuleltern und den Gemeindeautoritäten.
Darum warnten die mehr als 40 Bürgermeister und Agrarautoritäten der Mixteca-Region am 2. Juli in einer feierlicher Zeremonie: „Dies ist keine Lehrer*innenbewegung mehr, sondern eine Volksbewegung“. So wie im Bundesstaat Chiapas ist es die gemeindebasierte und volksnahe Strömung, die immer öfter die Lehrer*innen mitreißt. Nicht umsonst unterschrieben diese Autoritäten die Forderung nach Absetzung des Bildungsministers Aurelio Nuño auf einem Papier, auf dem eine linke, den Bleistift haltende, Hand abgebildet ist und das die Aufschrift „Für die Verteidigung der Bildung“ trägt.
Ja, diese Gemeinden verteidigen die öffentliche Bildung. Die Forderung ist nicht von den Lehrer*innen aufoktroyiert. Das ist vielleicht von einem „intelligenten“ Hauptstadt-Büro aus schwer zu verstehen, aber der Bildungssektor ist eine der wenigen sozialen Aufstiegsmöglichkeiten, die verbleiben. Die Gemeinden sehen diese durch eine Bildungsreform bedroht, die ihre Lehrer*innen verfolgt und bestraft. Die Gemeinden schätzen ihre Lehrer*innen, wenn sie in ihrer Sprache zu ihnen sprechen, ihren Kindern beibringen, die Nationalfahne zu ehren, ihnen bei der Formulierung lästiger Anträge helfen, die Basketball-Ligen organisieren und in den Kindern den Gedanken an eine bessere Zukunft für die, die sich weiterbilden, säen. Sie schätzen ihre Lehrer*innen, wenn diese sich an den Festen der Bevölkerung beteiligen.
Einigkeit bei Forderung nach Abschaffung der Bildungsreform
Nicht die gesamte Lehrer*innenbewegung im Land handelt in der Art und Weise, wie das in Oaxaca, Chiapas, Guerrero oder Michoacán geschieht. In anderen Bundesstaaten sind die Aktionen anders. Doch alle sind darin einig, die Abschaffung der Bildungsreform zu fordern. Die konsolidiertesten Gruppen lehnen den substantiellen Teil der Reform ab: die bestrafende Evaluierung, mit „Konsequenzen“, wie es die Unternehmer*innen gerne sagen.
Dieser Reformteil beendet die Beschäftigungssicherheit, macht die Arbeit der Lehrer*innen prekär und stellt ihren Beruf infrage. Andere wenden sich gegen Sonderaspekte der Reform, die nicht ihren Kern ausmachen, aber Auswirkungen für sie haben: das Ende der Lehrer*innenlaufbahn, das Todesurteil für die Landuniversitäten für Lehrer*innen, oder die Aufhebung von Mitbestimmungsmechanismen (Schulbehörde und Gewerkschaft) bei der Anweisung von Schulwechseln.
Die neue Norm hat das Programm der Lehrer*innenlaufbahn begraben. Dieses war 20 Jahre lang das wichtigste Beförderungsinstrument für Grundschullehrer*innen. Es ermöglichte ihnen ein Einkommen weit über dem Grundlohn. Damit ist Schluss. Mit der neuen Gesetzgebung wird das für das Programm zur Verfügung stehende Geld vollständig vom Grundlohn der Lehrer*innen abgekoppelt. Sehr wahrscheinlich sind Auswirkungen auf Rente, Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Schlimmer noch: Im Fall der Lehrer*innen im Bundesstaat Nuevo León wurde die jüngste Gehaltserhöhung von 3,5 Prozent nur auf den Tabellenlohn angewandt.
Auch gut evaluierte Lehrer*innen sind gegen die Reform
Ironischerweise ist die Unzufriedenheit über die Bildungsreform bis zu den Lehrer*innen vorgedrungen, die sich evaluieren ließen und gute Ergebnisse erzielten. Ihnen wurde die Vergabe zusätzlicher Stunden, auf die sie aufgrund der Evaluierung ein Anrecht hatten, nur unter der Bedingung in Aussicht gestellt, ihre vorherigen Arbeitsverträge und gewonnenen Rechte aufzukündigen.
Aber über die reine Verteidigung ihrer Arbeitsinteressen hinaus mobilisieren sich die mexikanischen Lehrer*innen auch, um gegen das Massaker von Nochixtlán zu protestieren. Für sie ist die Aggression der Polizei gegen den Ort in Oaxaca heute das Symbol einer Reform, die koste es was es wolle durchgesetzt werden soll. Sie haben beschlossen, dass dies nicht der Fall sein wird.

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