Freitag, 15. Juli 2016

An der russischen Grenze

In Berlin und bei der NATO wird behauptet, mit dem Beschluss halte man die Bestimmungen der NATO-Russland-Grundakte aus dem Jahr 1997 ein, die vorsieht, keine „substanziellen Kampftruppen“ dauerhaft in den neuen NATO-Staaten zu stationieren.

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BERLIN/WARSCHAU

german-foreign-policy.com/ vom 11.07.2016 – Mit erneuten Aufrüstungsbeschlüssen ist am Samstag der NATO-Gipfel in Warschau zu Ende gegangen. Im Mittelpunkt standen dabei Maßnahmen, die das westliche Kriegsbündnis gegen Russland in Stellung bringen sollen. So werden in Polen und den baltischen Staaten vier NATO-“Battle Groups“ in Bataillonsstärke stationiert, von denen eine von Deutschland geführt werden soll. Darüber hinaus unterstützt die NATO die Streitkräfte der Ukraine und verstärkt ihre Präsenz am Schwarzen Meer. Propagandistisch orientiert sich das westliche Kriegsbündnis weiterhin am Kalten Krieg und skizziert vorgebliche Bedrohungsszenarien, die damaligen Modellen nachempfunden sind. So heißt es in Anklang an das „Fulda Gap“ („Lücke von Fulda“), es gebe heute eine „Lücke von Suwałki“ in Nordostpolen und Südlitauen, in der mit einem Vorstoß russischer Truppen aus Belarus nach Kaliningrad zu rechnen sei; die NATO sei dagegen „hilflos“. Statistiken zeigen, dass die „hilflose“ NATO rund dreizehnmal so viel Geld ins Militär investiert wie Russland. Während die EU ihre Zusammenarbeit mit dem westlichen Kriegsbündnis stärkt, spitzen die USA den nächsten Großkonflikt mit der Stationierung eines Raketenabwehrsystems in Asien zu – den drohenden Großkonflikt mit China.
Battle Groups
Ein zentrales Element der auf dem Warschauer NATO-Gipfel beschlossenen Aufrüstung ist die Stationierung westlicher Truppen in unmittelbarer Nähe zur russischen Grenze. Demnach sollen NATO-Kampfeinheiten in Bataillonsstärke („Battle Groups“ [1]) in Estland, Lettland, Litauen und Polen stationiert werden; in Litauen wird die Bundeswehr als „Rahmennation“ die Führung über die dortige Battle Group übernehmen. In Berlin und bei der NATO wird behauptet, mit dem Beschluss halte man die Bestimmungen der NATO-Russland-Grundakte aus dem Jahr 1997 ein, die vorsieht, keine „substanziellen Kampftruppen“ dauerhaft in den neuen NATO-Staaten zu stationieren. Allerdings hat der polnische Verteidigungsminister Witold Waszczykowski während des NATO-Gipfels darauf hingewiesen, dass etwa in Polen tatsächlich eine viel größere Zahl NATO-Militärs präsent sein wird. Waszczykowski erinnerte daran, dass die USA regelmäßig eine Brigade zu Kriegsübungen aus Deutschland nach Polen entsenden wollen. Hinzu kommen das Personal für die NATO-Raketenabwehr und die Kampfunterstützungsbrigade des Multinationalen Korps Nordost, an dem die Bundeswehr führend beteiligt ist. Waszczykowski zufolge werden in Zukunft sogar „mehr als 10.000 Nato-Soldaten“ in Polen stationiert sein.[2]
Erfolgreiche Offensive
Zusätzlich hat die NATO auf ihrem Warschauer Gipfel weitere Maßnahmen beschlossen, die – trotz teils anderslautender Bekundungen – klar gegen Russland gerichtet sind. So hat das Bündnis sein neues Raketenabwehrsystem für partiell einsatzfähig erklärt und in aller Form das Kommando darüber von den Vereinigten Staaten übernommen. In Betrieb sind bislang eine Radaranlage in der Türkei sowie vor allem eine Raketenabschussstation in Rumänien; auch können vier in Spanien stationierte Kriegsschiffe für das Raketenabwehrsystem genutzt werden. Die Kommandozentrale ist im deutschen Ramstein untergebracht. Darüber hinaus wird die NATO weiterhin die Ukraine bei der Modernisierung ihrer Streitkräfte unterstützen und die Anpassung des ukrainischen Militärs an die NATO-Standards vorantreiben; beides richtet sich ebenfalls unmittelbar gegen Russland. Ausdrückliche Wertschätzung äußert das westliche Kriegsbündnis bezüglich der „signifikanten Beiträge“ der Ukraine zu NATO-Operationen „und zur NATO Response Force“.[3] Schließlich strebt die NATO auch am Schwarzen Meer eine „verstärkte Präsenz“ in der Luft und zur See an; begleitend wird Rumänien eine jederzeit einsetzbare „multinationale Brigade“ aufstellen, an der sich Bulgarien beteiligen soll. Um Russland von Gegenmaßnahmen gegen die NATO-Aggression abzuhalten, hat die NATO für Mittwoch einen NATO-Russland-Rat angekündigt. Gelingt es, Moskau zum Stillhalten zu bewegen, dann hat das Bündnis seine Aufrüstungsoffensive zum Erfolg geführt, ohne selbst einen Nachteil zu erleiden.[4]
Die „Lücke von Suwałki“
Führende deutsche Medien begleiten die NATO-Aufrüstung mit Propagandaelementen, die direkt dem Instrumentarium des Kalten Kriegs entnommen sind. So ist mittlerweile von einer „Lücke von Suwałki“ die Rede, einem Gebiet in Nordostpolens und Südlitauen, in der man angeblich einen russischen Angriff zu erwarten habe. Der Ausdruck „Lücke von Suwałki“ ist dem „Fulda Gap“ („Lücke von Fulda“) aus dem Kalten Krieg nachempfunden, das bis 1989 als angebliches Einfallstor realsozialistischer Truppen galt. Die NATO lässt verbreiten, man diskutiere über „die Gefahr eines von Russland ausgelösten konventionellen Regionalkriegs“, der in einem Vorstoß russischer Einheiten aus Belarus durch die „Lücke von Suwałki“ nach Kaliningrad bestehe; er könne „das Baltikum vom Rest der Nato abtrennen und in das Moskauer Satellitensystem zurückführen“. Die NATO müsse dabei „hilflos zuschauen“, da sie „in der Region keine starken Kräfte“ besitze, wird behauptet; auch sei „das Baltikum nach einer [russischen, d. Red.] Eroberung kaum zurückzugewinnen“.[5]
Die hilflose NATO
Die Absurdität der Behauptung, die NATO sei „hilflos“, entlarven grafische Aufstellungen in deutschen Medien, die – ebenfalls nach dem Vorbild entsprechender Abbildungen in der Zeit des Kalten Kriegs – Rüstungsausgaben und Waffenbestände der NATO und Russlands einander gegenüberstellen. Demnach hat die „hilflose“ NATO im Jahr 2015 rund 861 Milliarden US-Dollar für ihre Hochrüstung ausgegeben – ungefähr das Dreizehnfache des russischen Rüstungsetats (66 Milliarden US-Dollar). Dabei geben die NATO-Staaten außer den USA (440 US-Dollar pro Einwohner) und Russland (470 US-Dollar pro Einwohner) ungefähr gleich hohe Summen pro Kopf der Bevölkerung für ihre Streitkräfte aus, während die Vereinigten Staaten 1.870 US-Dollar pro Kopf der Bevölkerung ins Militär investieren. 800.000 russischen Soldaten stehen 3,41 Millionen NATO-Militärs gegenüber, 750 russischen Jagd- und 1.400 russischen Erdkampfflugzeugen 4.000 Jagd- und 4.600 Erdkampfflugzeuge der NATO. Im Kriegsfalle müsste ein russischer Flugzeugträger es mit 27 NATO-Flugzeugträgern aufnehmen, 100 russische Fregatten, Zerstörer oder Korvetten bekämen es mit 260 entsprechenden NATO-Kriegsschiffen zu tun, 60 russische U-Boote stünden 154 NATO-U-Booten gegenüber. Lediglich bei Mehrfach-Raketenwerfern und bei Selbstfahrlafetten wäre Russland gegenüber dem westlichen Kriegsbündnis leicht im Vorteil. Die militärische Bedeutung dieses Geräts für moderne Kriege kann als nachrangig gelten.[6]
Deutschlands globale Rolle
Nicht zuletzt ist auf dem Warschauer Gipfel beschlossen worden, dass die EU in Zukunft enger mit der NATO zusammenarbeiten wird. Dies soll vor allem in Bereichen der Fall sein, in denen die EU entweder den Vereinigten Staaten in besonderem Maß unterlegen ist oder in denen sie Unterstützung wünscht. Ersteres trifft etwa auf den Cyberkrieg und auf geheimdienstliche Tätigkeiten zu, bei denen die Kooperation ausgebaut werden soll. Letzteres gilt für die EU-Migrationsabwehr, zu der das westliche Kriegsbündnis beitragen wird. Auch heißt es, die EU-Rüstungsindustrie solle weiter gestärkt werden und möglicherweise auf neue Aufträge aus den Vereinigten Staaten hoffen können. Der Ausbau der Kooperation erfolgt, nachdem der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier angekündigt hat, Deutschland sei ein „zentraler Spieler“ der Weltpolitik geworden und habe eine „globale Rolle“ inne, während die USA „gestrauchelt“ seien und „die Illusion einer unipolaren Welt“ verblasse.[7] Steinmeier fordert zudem gemeinsam mit seinem französischen Amtskollegen Jean-Marc Ayrault eine exzessive Aufrüstung der EU, die es möglich machen soll, den europäischen Staatenbund zu einem „unabhängigen“ und „globalen“ Akteur zu entwickeln – „unabhängig“ auch von den USA.[8]
Der nächste Großkonflikt
Während die EU ihre Kooperation mit der NATO intensiviert, spitzen die Vereinigten Staaten den nächsten Großkonflikt zu. Wie Ende vergangener Woche bekannt wurde, wird Washington in Südkorea das Raketenabwehrsystem Thaad installieren.[9] Vorgeblich richtet es sich nur gegen nordkoreanische Raketen. Tatsächlich erlaubt die hochentwickelte Radartechnologie es den USA, von südkoreanischem Territorium aus weit nach China hinein zu spionieren. Zudem schwächt das Raketenabwehrsystem chinesische Gegenschlagfähigkeiten und damit die chinesische Abwehr. Damit spitzt Washington den Großkonflikt mit China, der ohnehin längst schärfer wird [10], ein weiteres Stück zu.
[1] Wie die NATO in Osteuropa Flagge zeigt. www.bundeswehr.de 08.07.2016.
[2] Johannes Leithäuser, Michael Stabenow: Gegen den Warschauer Takt. Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.07.2016.
[3] Joint statement of the NATO-Ukraine Commission at the level of Heads of State and Government. 9 July 2016, Warsaw, Poland.
[4] S. dazu Abschreckung und Dialog.
[5] Konrad Schuller: Die Lücke von Suwalki. Frankfurter Allgemeine Zeitung 08.07.2016.
[6] 28 Nato-Staaten im Vergleich mit Russland. Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.07.2016.
[7] S. dazu Auf Weltmachtniveau.
[8] S. dazu Die Europäische Kriegsunion.
[9] Proteste Russlands und Chinas gegen Raketenschild. Frankfurter Allgemeine Zeitung 09.07.2016.
[10] S. dazu Ostasiens Mittelmeer (I) und Ostasiens Mittelmeer (II).

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