IMI-Analyse 2016/28
von: Marius Pletsch | Veröffentlicht am: 9. Juli 2016
Zwischen 64 und 116 Zivilisten sollen laut
eines neuen Berichtes außerhalb von bewaffneten Konflikten durch
US-Drohnen in der Amtszeit von Präsident Barack Obamas bis Ende 2015
getötet worden sein. Zudem wurde ein Dekret erlassen, das die
Transparenz und die Rechenschaftspflicht der USA in ihrem „war on
terror“ erhöhen soll. Zunächst soll sich näher mit den beiden Dokumenten
befasst werden, bevor dann in einem zweiten Schritt mit Blick auf
Medien, Menschenrechtsorganisationen und Wissenschaft eine Einschätzung
zu den Papieren gegeben werden soll, wie glaubhaft die Zahlen sind und
welche Auswirkungen das Dekret auf den Drohnenkrieg haben könnte.
Am ersten Juli 2016 gab es gleich zwei Veröffentlichungen zum umstrittenen US-Drohnenprogramm. Zum einen den Bericht des Direktors für die nationalen Nachrichtendienste (Director of National Intelligence, kurz: DNI) James Clapper, der erstmals die offiziellen Zahlen über Drohnenschläge, sowie Informationen über die Gesamtzahl der getöteten Personen enthält, sich also mit der Vergangenheit des Programms beschäftigt. Und zum anderen wurde eine von Präsident Barack Obama unterzeichnete sogenannte Executive Order, also ein Dekret veröffentlicht, das neue Maßnahmen und Richtlinien enthält. Diese sollen sowohl die Transparenz des Programms sowie die Rechenschaftspflicht und Verantwortung der USA in der Zukunft erhöhen.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung, so kurz vor dem Feiertag des vierten Julis, des Independence Days, wird wohl kaum ein Zufall gewesen sein. Den Titelseiten der Zeitungen wurde zu dieser Zeit wohl kaum allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Andererseits ließe sich argumentieren, dass jene, die sich eingehender mit den Veröffentlichungen beschäftigen wollten, das ganze lange Wochenende zur Verfügung hatten, um einen näheren Blick auf die Zusammenfassung der Vergangenheit und die Beschränkungen der Zukunft zu werfen, sollte es sie denn auch tatsächlich geben.
Blick in die Vergangenheit des Drohnenprogramms
Also beginnen wir mit dem Blick in die Vergangenheit: Die Daten der Zusammenfassung des DNI decken den Zeitraum vom 20. Januar 2009 bis zum 31. Dezember 2015 ab. In dieser Zeit soll es 473 Luftangriffe, meist mit Drohnen gegeben haben. Bodenoperationen sind nicht in die Zahlen eingeflossen, aber einige wenige Angriffe mit Cruise Missiles. Im Bericht werden diese allgemein „Strikes“ genannt, wobei sich die Zahl auf das intendierte Ziel bezieht und nicht auf die Zahl der in den Strikes benutzten Raketen und Bomben, was aber im NATO-Bündnis so auch üblicherweise gehandhabt wird.[1] Die Zahl bezieht sich auf Gebiete außerhalb von bewaffneten Konflikten, also nicht auf Afghanistan, Irak und Syrien. Auf welche Länder sich die Daten beziehen wird in der Zusammenfassung selber nicht explizit erwähnt, aber zumindest vier Länder können wohl zweifelsfrei benannt werden: Pakistan, Jemen, Somalia und Libyen.[2]
In der Zusammenfassung wird eine Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten gemacht. Was der DNI unter Nicht-Kombattanten verstanden haben möchte, wird in dem Bericht wie folgt beschrieben: „Nicht-Kombattanten sind Individuen, welche nicht zum Objekt eines Angriffes unter anwendbarem internationalem Recht werden dürfen. Der Begriff ‚Nicht-Kombattant‘ enthält nicht Individuen, welche Teil einer an bewaffneten Konflikten beteiligten Partei, Individuen, die direkt an Feindseligkeiten teilnehmen oder Individuen, die zu Zielen nach dem nationalen Selbstverteidigungsrecht der USA werden dürfen, sind. Männer, die im militärfähigen Alter sind, könnten Nicht-Kombattanten sein; Es ist nicht der Fall, dass alle Männer im militärfähigem Alter in Nähe zum Ziel zu Kombattanten erklärt werden.“[3] Der letzte Teil der Definition ist auch direkt eine Verteidigung gegen den wiederholt geäußerten Vorwurf, der sich aus geleakten Dokumenten, die dem Investigativ-Portal „The Intercept“ zugespielt wurden, den sogenannten „Drone Papers“, ergibt.[4] Dieser Vorwurf wurde nicht nur von der Quelle der Papiere selbst, sondern auch bereits 2012 von der New York Times erhoben. „[Die Methodik] zähle effektiv alle Männer in militärfähigem Alter in einer Zone eines Angriffes als Kombattanten, [so berichteten] mehrere Offizielle der Administration übereinstimmend, solange nicht Informationen explizit posthum die Unschuld beweisen.“[5] Auch der Blog „War is Boring“ hatte in einem anderen Kontext durch eine Freedom of Information (FOI) Anfrage Ungereimtheiten bei der Einteilung von Personen in diese dichotomischen Kategorien bemerkt. Im Irak und in Syrien, bei dem laufenden Kampf gegen Daesh sei die sogenannte Post Strike Analyse spätestens binnen 48 Stunden beendet gewesen und hätte zu fehlerhaften Resultaten geführt. So ergebe sich, dass die Analysen den US-eigenen Ansprüchen kaum gerecht würden.[6]
Die Unterscheidung in Kombattant und Nicht-Kombattant wird von Bratt Max Kaufman von der Bürgerrechtsorganisation „American Civil Liberties Union“ (ACLU) ganz grundsätzlich kritisiert: „In aller Kürze, die Regierung besteht weiterhin – nicht wie jede andere Nation auf der Welt – darauf, dass sie sich auch außerhalb von Kriegsgebieten immer noch im Krieg befindet. Für eine Administration, die mit dem starken Versprechen an die Macht kam, den ‚Globalen Krieg gegen den Terror‘ der Bush Administration abzuwickeln, bleibt dies ein signifikantes Politikversagen und eine Enttäuschung.“[7]
In der Zusammenfassung werden die Zahlen nun wie folgt aufgeschlüsselt: In den 473 Angriffen wurden zwischen 2372 und 2581 Kombattanten getötet. Mindestens 64 aber höchstens 116 Nicht-kombattanten sollen bei den Anti-Terror Maßnahmen getötet worden sein. Dass diese Zahl auf massive Kritik stoßen würde, war auch dem DNI klar. Deshalb nimmt in der Zusammenfassung die Erklärung der erheblichen Diskrepanz zwischen den hier offiziell genannten Zahlen und den gesammelten Daten von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Wissenschaftler_innen anderthalb Seiten ein – von insgesamt zweieinhalb Seiten.
Die Diskrepanz erkläre sich laut DNI aus drei zentralen Punkten:
1) Zunächst wird auf die Beschränktheit des zugänglichen Wissens hingewiesen, die sich aus dem Faktum ergebe, dass US-Personal keinen Zugang zu gewissen Gebieten hätte, in denen sich die Angriffe ereignen würden. Bei den sogenannten Post-Strike-Untersuchungen stünden den handelnden US-Stellen aber Informationen zur Verfügung, auf die Wissenschaftler und NGOs schlicht keinen Zugriff hätten, da sie geheim sind und durch nachrichtendienstliche Tätigkeit erworben worden wären. So könnte es passieren, dass die USA zuverlässige Informationen hätten, dass eine Person Mitglied in einer Terrororganisation sei oder die USA bedrohen würde. Dies sei nicht unbedingt den NGOs zugänglich, diese Person würde dann also fälschlich von den NGOs als Zivilist_in bezeichnet.
2) Die Kombination von verschiedenen Quellen bei der Post-Strike-Analyse sei einzigartig und sei höchstwahrscheinlich für NGOs so nicht verfügbar. Hier werden einige Quellen für die Informationen genannt: Video-Observationen, menschliche Quellen und Informanten, Signal Intelligence (kurz: SIGINT), Daten von Satellitenauswertungen, Hinweise von örtlichen Behörden und die Nutzung von öffentlich zugänglichen Quellen.
3) NGOs könnten bei ihren Berichten über zivile Opfer bewusst von „manchen Akteuren, auch Terrororganisationen“ [8] getäuscht werden.
Lektion gelernt? – Welche Konsequenzen in der Executive Order gezogen werden
Kommen wir nun zur zweiten Veröffentlichung, dem Dekret von Präsident Barack Obama, mit dem etwas sperrigen Titel: „Die Politik der Vereinigten Staaten zu Pre- und Post-Strike-Maßnahmen um zivile Opfer in US Operationen, welche den Einsatz von Gewalt beinhalten, zu adressieren“. Zum einen enthält das Papier einige Maßnahmen und Richtlinien, die zivile Opfer verhindern sollen, darunter zwei Aufforderungen, um in die Rüstungs- und Überwachungsindustrie zu investieren: „(ii) Entwicklung, Anschaffung und Einsatz von Spionage-, Überwachungs- und Aufklärungssystemen, die zum Schutz von Zivilisten beitragen, indem Sie eine genauere Wahrnehmung des Kampfgebiets ermöglichen; (iii) Entwicklung, Anschaffung und Einsatz von Waffensystemen und anderen technischen Fähigkeiten, die in verschiedenen operationellen Kontexten eine weitere Unterscheidung bei der Anwendung von Gewalt ermöglichen.“[9]
Desweiteren soll die Verantwortung der US-Regierung für den Tod von Zivilisten anerkannt werden und es sollen Entschuldigungen ebenso angeboten werden, wie Entschädigungszahlungen für Zivilisten, die verwundet oder deren Angehörige bei Einsätzen getötet wurden. Auch soll in Zukunft spätestens am jeweils ersten Mai ein jährlicher Bericht über die Opferzahlen veröffentlicht werden, entweder vom DNI oder von der Behörde, die mit dem Drohnen-Programm vom nächsten Amtsinhaber oder der Amtsinhaberin betraut wird. Bei der Informationsgewinnung und Auswertung sollten auch die Informationen der NGOs berücksichtigt werden, jedoch sollen auch immer wie auch bei der jetzigen Zusammenfassung Gründe für die Diskrepanz zwischen offiziellen Zahlen und solchen der NGOs gegeben werden.[10]
Zumindest mit der Organisation Reprieve lehnte die US-Regierung bislang jede Zusammenarbeit ab, obwohl sie offenbar angeboten wurde. So teilte es zumindest Jennifer Gibson, die für Reprieve arbeitet, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter mit.[11]
Die Bewertung der Veröffentlichungen: Zweifel und mehr Fragen als Antworten
In der Rezeption des DNI-Berichtes überwiegt die Kritik deutlich. Hier nur eine kleine Auswahl an Überschriften: „Wie Obama vom zurückhaltenden Krieger zum Drohnen-Champion wurde“[12], „Warum die Behauptungen des Weißen Hauses zu Drohnen-Opfern zweifelhaft bleiben“[13] (beide Washington Post), „Drohnenschlags-Statistik beantwortet wenige Fragen, und stellt viele“[14] (New York Times), „Glauben sie den offiziellen Zahlen der US Regierung über Zahlen von zivilen Opfern von Drohnen nicht“[15] (Foreign Policy).
Für die erste Veröffentlichung von offiziellen Zahlen gab es zwar einiges Lob von NGOs, jedoch, so machte es Naureen Shah von Amnesty International deutlich, könne dies „nicht das Ende einer öffentlichen Diskussion über US-Drohnenangriffe sein, sondern nur der Anfang.“[16]
Klar ist, dass die nun veröffentlichten Zahlen weit unter jenen liegen, die von anderen Gruppen und Organisationen erhoben und veröffentlicht wurden. So geht das Bureau of Investigative Journalism (TBIJ) im gleichen Zeitraum, den auch der offizielle US-Bericht abdeckt, von 380 bis 801 zivilen Opfern aus.[17] Das Long War Journal geht von 471 Drohnenangriffen aus, jedoch nur in Pakistan und Jemen, dabei seien 207 Zivilsten gestorben.[18] Die Organisation New America kommt auf 506 Drohnenschläge in Pakistan, Jemen und Somalia, wobei insgesamt zwischen 2869 und 4290 Personen dabei ums Leben gekommen sein sollen. Darunter sollen zwischen 162 bis 213 Zivilisten gewesen sein, wobei die Zahl möglicherweise noch höher ist, denn hier wird noch die Kategorie unbekannt geführt, in dieser Kategorie sind zwischen 163 und 254 getötete Personen.[19]
Das zentrale Problem mit den offiziellen Zahlen ist dabei, dass man ohne nähere Informationen erst einmal relativ wenig damit anfangen kann. Jennifer Gibson versucht dies anhand eines Einzelbeispiels zu verdeutlichen: „Das größte Versäumnis dieser Veröffentlichung ist das Fehlen der Namen und Gesichter derjenigen Zivilisten, die getötet wurden. Die heutige Veröffentlichung sagt uns nichts über den 14-Jährigen Faheem Qureshi, der durch den ersten Drohnenangriff von Obama schwer verletzt wurde. Berichte besagen Obama wusste, dass er an jenem Tag Zivilisten tötete. Ist Faheems Familie unter diesen Zahlen?“[20] Die Familie des Jungen, der nun juristisch von Reprieve vertreten wird, wurde durch den Drohnenangriff getötet. Scott Shane schreibt für die New York Times: „Ohne, dass [die Zahlen, Anm. d. Aurors] in Jahre oder Staaten herruntergebrochen werden, gar nicht zu reden von einer detaillierten Angriff-zu-Angriff-Aufstellung, sind die neuen Daten der Obama Administration nur schwer zu bewerten. Zum Beispiel, in Übereinstimmung mit mehreren Studien von Human Rights Watch, Jemens Parlament und anderen, hat eine amerikanische Cruise Missile [die auch in die Statistik zählen würde, Anm. d. Autors] in einem Angriff im Jemen am 17. Dezember 2009 41 Zivilisten getötet, darunter 22 Kinder und ein Dutzend Frauen. Mindestens drei weitere Personen wurden später beim Hantieren mit noch nicht explodierter Cluster-Munition getötet, die vom Angriff zurückgeblieben war. Wenn diese 41 in der offiziellen Berechnung auftauchen, was als wahrscheinlich gelten kann, dann wären lediglich 23 Zivilisten seit 2009 in allen anderen Strikes getötet worden, um die untere Grenze der amerikanischen Aufstellung von 64 [Zivilisten, Anm. d. Autors] zu erreichen. Nach nahezu allen unabhängigen Berichten ist diese Zahl unplausibel niedrig.“[21] Auch Micah Zenko weißt in „Foreign Policy“ auf gegebene sowie auf fehlende Informationen hin: „die Obama Administration hat vorsichtig einige zusätzliche Informationen über ‚Strikes` (keine Erwähnung von Drohnen oder unbemannten Fluggeräten) der ‚US-Regierung‘ (keine Unterscheidung zwischen CIA oder militärische Operationen) in ‚Gebieten außerhalb von aktiven Konflikten‘ (womit Jemen, Pakistan und Somalia gemeint sind) herausgegeben.“[22]
Gerade die Frage, ob die Central Intelligence Agency (CIA) oder das Militär die Angriffe ausgeführt hatte, ist durchaus von Interesse. Chris Woods hat für das TBIJ versucht, die hohe Anzahl an Opfern zu ergründen. Als einen zentralen Grund nannte er die Vorgehensweisen der CIA. Diese beinhalten die sogenannten „signature strikes“, was bedeutet, dass man durch Lebens- und Bewegungsmuster zum Ziel werden kann, ohne dass die Identität des Ziels bekannt sein muss. Auch seien bewusst Beerdigungen attackiert worden oder man sei nach der Methode des „double-tappings“ vorgegangen. Das heißt es wurde eine Rakete auf ein Ziel abgefeuert und dann wurde eine zweite Rakete auf jene abgefeuert, die den Verletzten Hilfe leisten wollten. Auch sei die CIA bei der Ausschaltung sogenannter „high-value targets“ also Hochwertzielen, die den oberen Rängen, zum Beispiel von Al-Qaida oder den Taliban angehören, nur wenig erfolgreich gewesen. Bei dem Versuch 41 Hochwertziele auszuschalten, seien 1147 den USA namentlich unbekannte Personen gestorben, so hatte es Reprieve berichtet.[23]
Dazu befragt, warum Präsident Obama sich überhaupt etwas freigiebiger mit Informationen gibt, antwortete Michael Brzoska, der Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg, im Deutschlandfunk wie folgt: „Ich denke, es gibt zwei Gründe. Der eine ist, dass er schon, glaube ich, nicht gerne in die Geschichte eingehen würde als der Drohnenpräsident, wie ihn ja zum Beispiel selbst die damalige Außenministerin Hillary Clinton bezeichnet hat. Und das andere ist: Er will, dass das Drohnenprogramm so weitergeführt wird, wie er es jetzt bestimmt hat, nämlich dass man schon etwas darüber veröffentlicht, dass es nicht völlig im Geheimen bleibt.“[24]
Die Executive Order des Präsidenten soll nun zwar einerseits für etwas mehr Transparenz sorgen. Andererseits handelt es sich dabei aber um einen Schritt, der ohne Probleme vom nächsten Präsidenten oder der nächsten Präsidentin abgeändert oder ganz gestrichen werden könnte. Welchen Zweck das Dekret aber vorallem hat, ist das Programm auf ein solches Fundament zu stellen, dass es die Amtszeit Obamas weit überdauert. Darauf deuten auch die Aussagen eines Regierungsmitarbeiters hin, der der Washington Post sagte, dass das Dekret dafür sorgen solle, dass „die Architektur [des Drohnenprogrammes, Anm. d. Autors] beständig, nachhaltig und weit über die nächsten sieben Monate bestand hat.“[25] Auch solle durch das Dekret ein positives Beispiel für andere Staaten gegeben werden, die auch Drohnen einsetzen, sagte der Beamte.[26] Die Frage, warum sich der oder die Nachfolgerin im Amt diese Regeln auferlegen lassen soll, die für Obama die letzten sieben Jahre seiner Amtszeit schlicht nicht galten und erst recht, was nun das Beispielhafte am amerikanischen Drohnenprogramm für andere Staaten sein soll, wird aber in dem Artikel nicht beantwortet.
Was noch anzumerken ist: Es gibt nur zwei zivile Opfer, die auch von der US-Seite als solche namentlich genannt wurden. Die englischsprachige pakistanische Zeitung „Dawn“ schreibt zu den beiden Namen im Lichte der neusten Veröffentlichungen folgendes: „Der Mangel an Details, wie Namen, nähere Umstände usw. werfen ein Licht auf ein tiefer greifendes – vielleicht das grundlegende – Problem, das der Entmenschlichung des ‚Feindes‘. Dies wurde stark verdeutlicht nach einem Drohnenangriff an der pakistanisch-afghanischen Grenze im Januar 2015 indem versehentlich Dr. Warren Weinstein, ein amerikanischer Staatsbürger [und der italienischen Staatsbürger Giovanni Lo Porto, Anm. d. Autors] getötet wurde, der von Militanten seit 2011 als Geisel festgehalten wurde. Obamas Ausdruck von ‘profundem Bedauern’ war das erste Mal, dass ein ziviles Opfer in einem Drohnenangriff eine solche Antwort der USA entlockte. Die Ironie war unmissverständlich.”[27]
Viele Fragen offen – Auswirkungen ungewiss
Neben den ganzen ungeklärten Fragen bleibt die US-Regierung der Öffentlichkeit eine gemachte Zusage schuldig. Die Presidential Policy Guidance, kurz PPG, des Präsidenten, auch Playbook genannt, bleibt weiterhin geheim. Die Zusage wurde im Verlauf eines Prozesses um eine FOI Anfrage der ACLU gemacht. Ein Fact Sheet zu dem Dokument wurde zwar schon 2013 veröffentlicht, jedoch ließ es wenige Schlüsse auf die rechtlichen Grundlagen und Prozesse des Drohnenprogramms zu, die in diesem Dokument niedergeschrieben sind.[28] Laut diesem Fact Sheet habe Obama höhere Standards eingeführt, so dürfe jetzt nur noch jemand zum Ziel werden, wenn mit „near certainty“ also nahezu mit Sicherheit gesagt werden könne, die verdächtigte Person sei auch Terrorist_in und/oder würde eine Gefahr für die USA darstellen. Es müsse sichergestellt werden, dass mit nahezu mit Sicherheit keine Unbeteiligten in der Nähe wären. Auch fand im zeitlichem Zusammenhang mit dem Erlass der PPG ein merklicher Wechsel statt. Die Central Intelligence Agency (CIA) führte weniger Drohnenschläge aus und es wurden langsam aber stetig mehr Angriffe durch das Militär durchgeführt. Das Drohnenprogramm wurde aber noch nicht vollständig vom Militär übernommen. Doch der Wechsel heißt nicht automatisch mehr Öffentlichkeit und Transparenz. Denn das Kommando, unter dem die Angriffe meist durchgeführt werden, ist das Joint Special Operations Command (JSOC), das direkt dem Weißen Haus unterstellt ist und bis vor wenigen Jahren der Öffentlichkeit komplett unbekannt war.[29] Auch bedeuten die PPG und die jetzige Executive Order keine Abkehr von den umstrittenen „signature strikes“.[30]
Falls die Executive Order bestehen bleibt und die jährliche Veröffentlichungspraxis umgesetzt wird, dauert es trotzdem noch mindestens zwei Jahre, bis eine Vergleichbarkeit der Daten untereinander möglich wird. Denn Aussagekraft besitzen die jetzigen Daten letztlich keine. Auch können die jetzigen Veröffentlichungen nicht als ausreichend gelten, um Obamas Ziel von mehr Transparenz im US-Drohnenkrieg herzustellen. Sie können nur ein erster Schritt sein, von dem zu hoffen ist, dass er sieben Jahre nach der massiven Ausweitung von Drohneneinsätzen im „Krieg gegen den Terror“ durch Obama, nicht zu spät gegangen wurde, um auch einen nachhaltigen Effekt zu haben.
Anmerkungen
[1] Zur Methodik der Zählung von Strikes: Chris Cole (Drone Wars UK, 16.11.2015): New figures on UK drone use in Iraq and Syria.
[2] Karen DeYoung / Greg Miller (Washington Post, 1.7.2016): White House releases its count of civilian deaths in counterterrorism operations under Obama.
[3] DNI (1.7.2016): Summary of Information Regarding U.S. Counterterrorism Strikes Outside Areas of Active Hostilities [Übersetzt durch Autor].
[4] Ryan Devereaux (The Intercept, 15.10.2016): Manhunting in the Hindukush.
[5] Jo Becker / Scott Shane (New York Times, 29.5.2012): Secret ‘Kill List’ Proves a Test of Obama’s Principles and Will [Übersetzt durch Autor].
[6] Joseph Trevithick (War is Boring, 2.7.2016): The White House Doesn’t Know How Many People It Has Killed in Targeted Strikes.
[7] Brett Max Kaufman (ACLU, 1.7.2016): President Obama’s New, Long-Promised Drone ‚Transparency‘ Is Not Nearly Enough [Übersetzt durch Autor].
[8] DNI (1.7.2016): Summary of Information Regarding U.S. Counterterrorism Strikes Outside Areas of Active Hostilities.
[9] White House (1.7.2016): Executive Order — United States Policy on Pre- and Post-Strike Measures to Address Civilian Casualties in U.S. Operations Involving the Use of Force [Übersetzt durch Autor].
[10] White House (1.7.2016): Executive Order — United States Policy on Pre- and Post-Strike Measures to Address Civilian Casualties in U.S. Operations Involving the Use of Force [Übersetzt durch Autor].
[11] Jennifer Gibson (Twitter, 1.7.2016).
[12] Greg Jaffe (Washington Post, 1.7.2016): How Obama went from reluctant warrior to drone champion.
[13] Greg Miller (Washington Post, 1.7.21016): Why the White House claims on drone casualties remain in doubt.
[14] Scott Shane (New York Times, 3.7.2016): Drone Strike Statistics Answer Few Questions, and Raise Many.
[15] Micah Zenko (Foreign Policy, 5.7.2016): Do Not Believe the U.S. Government’s Official Numbers on Drone Strike Civilian Casualties.
[16] Nancy A. Youssef / Shane Harris (The Daily Beast, 1.7.2016): Did Obama Just Lowball The Drone War Death Toll? [Übersetzt durch Autor].
[17] Jack Serle (The Bureau of Investigative Journalism, 1.7.2016): Obama drone casualty numbers a fraction of those recorded by the Bureau.
[18] Bill Roggio (Long War Journal, 1.7.2016): US government releases data on ‘counterterrorism strikes outside areas of active hostilities’.
[19] New America (Zahlen aus eigener Berechnung aus Daten von Pakistan, Jemen, Somalia im fraglichen Zeitraum zwischen 20.1.2009 bis 31.12.2015).
[20] Jennifer Gibson (Reprieve, 1.7.2016): Drone death figures show the U.S. „simply doesn’t know who it has killed“ [Übersetzt durch Autor].
[21] Scott Shane (New York Times, 3.7.2016): Drone Strike Statistics Answer Few Questions, and Raise Many [Übersetzt durch Autor].
[22] Micah Zenko (Foreign Policy, 5.7.2016): Do Not Believe the U.S. Government’s Official Numbers on Drone Strike Civilian Casualties [Übersetzt durch Autor].
[23] Chris Woods (The Bureau of Investigative Journalism, 1.7.2016): Official estimates show civilians more likely to be killed by CIA drones than by US Air Force actions. The reality is likely far worse.
[24] Michael Brzoska im Gespäch mit Tobias Armbrüster (Deutschlandfunk, 4.7.2016): „Ich denke, dass die Anzahl der Opfer größer ist“.
[25] Karen DeYoung / Greg Miller (Washington Post, 1.7.2016): White House releases its count of civilian deaths in counterterrorism operations under Obama [Übersetzt durch Autor].
[26] Ebd.
[27] Editorial (Dawn, 4.7.2016): Death by drone [Übersetzt durch Autor].
[28] Marius Pletsch (IMI-Aktuell 2016/175, 21.3.2016): US-Drohnenkrieg: Hauch von Transparenz? Hier ist der Link zum Fact Sheet.
[29] Greg Miller (Washington Post, 16.6.2016): Why CIA drone strikes have plummeted.
[30] Karen DeYoung / Greg Miller (Washington Post, 1.7.2016): White House releases its count of civilian deaths in counterterrorism operations under Obama.
Am ersten Juli 2016 gab es gleich zwei Veröffentlichungen zum umstrittenen US-Drohnenprogramm. Zum einen den Bericht des Direktors für die nationalen Nachrichtendienste (Director of National Intelligence, kurz: DNI) James Clapper, der erstmals die offiziellen Zahlen über Drohnenschläge, sowie Informationen über die Gesamtzahl der getöteten Personen enthält, sich also mit der Vergangenheit des Programms beschäftigt. Und zum anderen wurde eine von Präsident Barack Obama unterzeichnete sogenannte Executive Order, also ein Dekret veröffentlicht, das neue Maßnahmen und Richtlinien enthält. Diese sollen sowohl die Transparenz des Programms sowie die Rechenschaftspflicht und Verantwortung der USA in der Zukunft erhöhen.
Der Zeitpunkt der Veröffentlichung, so kurz vor dem Feiertag des vierten Julis, des Independence Days, wird wohl kaum ein Zufall gewesen sein. Den Titelseiten der Zeitungen wurde zu dieser Zeit wohl kaum allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt. Andererseits ließe sich argumentieren, dass jene, die sich eingehender mit den Veröffentlichungen beschäftigen wollten, das ganze lange Wochenende zur Verfügung hatten, um einen näheren Blick auf die Zusammenfassung der Vergangenheit und die Beschränkungen der Zukunft zu werfen, sollte es sie denn auch tatsächlich geben.
Blick in die Vergangenheit des Drohnenprogramms
Also beginnen wir mit dem Blick in die Vergangenheit: Die Daten der Zusammenfassung des DNI decken den Zeitraum vom 20. Januar 2009 bis zum 31. Dezember 2015 ab. In dieser Zeit soll es 473 Luftangriffe, meist mit Drohnen gegeben haben. Bodenoperationen sind nicht in die Zahlen eingeflossen, aber einige wenige Angriffe mit Cruise Missiles. Im Bericht werden diese allgemein „Strikes“ genannt, wobei sich die Zahl auf das intendierte Ziel bezieht und nicht auf die Zahl der in den Strikes benutzten Raketen und Bomben, was aber im NATO-Bündnis so auch üblicherweise gehandhabt wird.[1] Die Zahl bezieht sich auf Gebiete außerhalb von bewaffneten Konflikten, also nicht auf Afghanistan, Irak und Syrien. Auf welche Länder sich die Daten beziehen wird in der Zusammenfassung selber nicht explizit erwähnt, aber zumindest vier Länder können wohl zweifelsfrei benannt werden: Pakistan, Jemen, Somalia und Libyen.[2]
In der Zusammenfassung wird eine Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten gemacht. Was der DNI unter Nicht-Kombattanten verstanden haben möchte, wird in dem Bericht wie folgt beschrieben: „Nicht-Kombattanten sind Individuen, welche nicht zum Objekt eines Angriffes unter anwendbarem internationalem Recht werden dürfen. Der Begriff ‚Nicht-Kombattant‘ enthält nicht Individuen, welche Teil einer an bewaffneten Konflikten beteiligten Partei, Individuen, die direkt an Feindseligkeiten teilnehmen oder Individuen, die zu Zielen nach dem nationalen Selbstverteidigungsrecht der USA werden dürfen, sind. Männer, die im militärfähigen Alter sind, könnten Nicht-Kombattanten sein; Es ist nicht der Fall, dass alle Männer im militärfähigem Alter in Nähe zum Ziel zu Kombattanten erklärt werden.“[3] Der letzte Teil der Definition ist auch direkt eine Verteidigung gegen den wiederholt geäußerten Vorwurf, der sich aus geleakten Dokumenten, die dem Investigativ-Portal „The Intercept“ zugespielt wurden, den sogenannten „Drone Papers“, ergibt.[4] Dieser Vorwurf wurde nicht nur von der Quelle der Papiere selbst, sondern auch bereits 2012 von der New York Times erhoben. „[Die Methodik] zähle effektiv alle Männer in militärfähigem Alter in einer Zone eines Angriffes als Kombattanten, [so berichteten] mehrere Offizielle der Administration übereinstimmend, solange nicht Informationen explizit posthum die Unschuld beweisen.“[5] Auch der Blog „War is Boring“ hatte in einem anderen Kontext durch eine Freedom of Information (FOI) Anfrage Ungereimtheiten bei der Einteilung von Personen in diese dichotomischen Kategorien bemerkt. Im Irak und in Syrien, bei dem laufenden Kampf gegen Daesh sei die sogenannte Post Strike Analyse spätestens binnen 48 Stunden beendet gewesen und hätte zu fehlerhaften Resultaten geführt. So ergebe sich, dass die Analysen den US-eigenen Ansprüchen kaum gerecht würden.[6]
Die Unterscheidung in Kombattant und Nicht-Kombattant wird von Bratt Max Kaufman von der Bürgerrechtsorganisation „American Civil Liberties Union“ (ACLU) ganz grundsätzlich kritisiert: „In aller Kürze, die Regierung besteht weiterhin – nicht wie jede andere Nation auf der Welt – darauf, dass sie sich auch außerhalb von Kriegsgebieten immer noch im Krieg befindet. Für eine Administration, die mit dem starken Versprechen an die Macht kam, den ‚Globalen Krieg gegen den Terror‘ der Bush Administration abzuwickeln, bleibt dies ein signifikantes Politikversagen und eine Enttäuschung.“[7]
In der Zusammenfassung werden die Zahlen nun wie folgt aufgeschlüsselt: In den 473 Angriffen wurden zwischen 2372 und 2581 Kombattanten getötet. Mindestens 64 aber höchstens 116 Nicht-kombattanten sollen bei den Anti-Terror Maßnahmen getötet worden sein. Dass diese Zahl auf massive Kritik stoßen würde, war auch dem DNI klar. Deshalb nimmt in der Zusammenfassung die Erklärung der erheblichen Diskrepanz zwischen den hier offiziell genannten Zahlen und den gesammelten Daten von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und Wissenschaftler_innen anderthalb Seiten ein – von insgesamt zweieinhalb Seiten.
Die Diskrepanz erkläre sich laut DNI aus drei zentralen Punkten:
1) Zunächst wird auf die Beschränktheit des zugänglichen Wissens hingewiesen, die sich aus dem Faktum ergebe, dass US-Personal keinen Zugang zu gewissen Gebieten hätte, in denen sich die Angriffe ereignen würden. Bei den sogenannten Post-Strike-Untersuchungen stünden den handelnden US-Stellen aber Informationen zur Verfügung, auf die Wissenschaftler und NGOs schlicht keinen Zugriff hätten, da sie geheim sind und durch nachrichtendienstliche Tätigkeit erworben worden wären. So könnte es passieren, dass die USA zuverlässige Informationen hätten, dass eine Person Mitglied in einer Terrororganisation sei oder die USA bedrohen würde. Dies sei nicht unbedingt den NGOs zugänglich, diese Person würde dann also fälschlich von den NGOs als Zivilist_in bezeichnet.
2) Die Kombination von verschiedenen Quellen bei der Post-Strike-Analyse sei einzigartig und sei höchstwahrscheinlich für NGOs so nicht verfügbar. Hier werden einige Quellen für die Informationen genannt: Video-Observationen, menschliche Quellen und Informanten, Signal Intelligence (kurz: SIGINT), Daten von Satellitenauswertungen, Hinweise von örtlichen Behörden und die Nutzung von öffentlich zugänglichen Quellen.
3) NGOs könnten bei ihren Berichten über zivile Opfer bewusst von „manchen Akteuren, auch Terrororganisationen“ [8] getäuscht werden.
Lektion gelernt? – Welche Konsequenzen in der Executive Order gezogen werden
Kommen wir nun zur zweiten Veröffentlichung, dem Dekret von Präsident Barack Obama, mit dem etwas sperrigen Titel: „Die Politik der Vereinigten Staaten zu Pre- und Post-Strike-Maßnahmen um zivile Opfer in US Operationen, welche den Einsatz von Gewalt beinhalten, zu adressieren“. Zum einen enthält das Papier einige Maßnahmen und Richtlinien, die zivile Opfer verhindern sollen, darunter zwei Aufforderungen, um in die Rüstungs- und Überwachungsindustrie zu investieren: „(ii) Entwicklung, Anschaffung und Einsatz von Spionage-, Überwachungs- und Aufklärungssystemen, die zum Schutz von Zivilisten beitragen, indem Sie eine genauere Wahrnehmung des Kampfgebiets ermöglichen; (iii) Entwicklung, Anschaffung und Einsatz von Waffensystemen und anderen technischen Fähigkeiten, die in verschiedenen operationellen Kontexten eine weitere Unterscheidung bei der Anwendung von Gewalt ermöglichen.“[9]
Desweiteren soll die Verantwortung der US-Regierung für den Tod von Zivilisten anerkannt werden und es sollen Entschuldigungen ebenso angeboten werden, wie Entschädigungszahlungen für Zivilisten, die verwundet oder deren Angehörige bei Einsätzen getötet wurden. Auch soll in Zukunft spätestens am jeweils ersten Mai ein jährlicher Bericht über die Opferzahlen veröffentlicht werden, entweder vom DNI oder von der Behörde, die mit dem Drohnen-Programm vom nächsten Amtsinhaber oder der Amtsinhaberin betraut wird. Bei der Informationsgewinnung und Auswertung sollten auch die Informationen der NGOs berücksichtigt werden, jedoch sollen auch immer wie auch bei der jetzigen Zusammenfassung Gründe für die Diskrepanz zwischen offiziellen Zahlen und solchen der NGOs gegeben werden.[10]
Zumindest mit der Organisation Reprieve lehnte die US-Regierung bislang jede Zusammenarbeit ab, obwohl sie offenbar angeboten wurde. So teilte es zumindest Jennifer Gibson, die für Reprieve arbeitet, auf dem Kurznachrichtendienst Twitter mit.[11]
Die Bewertung der Veröffentlichungen: Zweifel und mehr Fragen als Antworten
In der Rezeption des DNI-Berichtes überwiegt die Kritik deutlich. Hier nur eine kleine Auswahl an Überschriften: „Wie Obama vom zurückhaltenden Krieger zum Drohnen-Champion wurde“[12], „Warum die Behauptungen des Weißen Hauses zu Drohnen-Opfern zweifelhaft bleiben“[13] (beide Washington Post), „Drohnenschlags-Statistik beantwortet wenige Fragen, und stellt viele“[14] (New York Times), „Glauben sie den offiziellen Zahlen der US Regierung über Zahlen von zivilen Opfern von Drohnen nicht“[15] (Foreign Policy).
Für die erste Veröffentlichung von offiziellen Zahlen gab es zwar einiges Lob von NGOs, jedoch, so machte es Naureen Shah von Amnesty International deutlich, könne dies „nicht das Ende einer öffentlichen Diskussion über US-Drohnenangriffe sein, sondern nur der Anfang.“[16]
Klar ist, dass die nun veröffentlichten Zahlen weit unter jenen liegen, die von anderen Gruppen und Organisationen erhoben und veröffentlicht wurden. So geht das Bureau of Investigative Journalism (TBIJ) im gleichen Zeitraum, den auch der offizielle US-Bericht abdeckt, von 380 bis 801 zivilen Opfern aus.[17] Das Long War Journal geht von 471 Drohnenangriffen aus, jedoch nur in Pakistan und Jemen, dabei seien 207 Zivilsten gestorben.[18] Die Organisation New America kommt auf 506 Drohnenschläge in Pakistan, Jemen und Somalia, wobei insgesamt zwischen 2869 und 4290 Personen dabei ums Leben gekommen sein sollen. Darunter sollen zwischen 162 bis 213 Zivilisten gewesen sein, wobei die Zahl möglicherweise noch höher ist, denn hier wird noch die Kategorie unbekannt geführt, in dieser Kategorie sind zwischen 163 und 254 getötete Personen.[19]
Das zentrale Problem mit den offiziellen Zahlen ist dabei, dass man ohne nähere Informationen erst einmal relativ wenig damit anfangen kann. Jennifer Gibson versucht dies anhand eines Einzelbeispiels zu verdeutlichen: „Das größte Versäumnis dieser Veröffentlichung ist das Fehlen der Namen und Gesichter derjenigen Zivilisten, die getötet wurden. Die heutige Veröffentlichung sagt uns nichts über den 14-Jährigen Faheem Qureshi, der durch den ersten Drohnenangriff von Obama schwer verletzt wurde. Berichte besagen Obama wusste, dass er an jenem Tag Zivilisten tötete. Ist Faheems Familie unter diesen Zahlen?“[20] Die Familie des Jungen, der nun juristisch von Reprieve vertreten wird, wurde durch den Drohnenangriff getötet. Scott Shane schreibt für die New York Times: „Ohne, dass [die Zahlen, Anm. d. Aurors] in Jahre oder Staaten herruntergebrochen werden, gar nicht zu reden von einer detaillierten Angriff-zu-Angriff-Aufstellung, sind die neuen Daten der Obama Administration nur schwer zu bewerten. Zum Beispiel, in Übereinstimmung mit mehreren Studien von Human Rights Watch, Jemens Parlament und anderen, hat eine amerikanische Cruise Missile [die auch in die Statistik zählen würde, Anm. d. Autors] in einem Angriff im Jemen am 17. Dezember 2009 41 Zivilisten getötet, darunter 22 Kinder und ein Dutzend Frauen. Mindestens drei weitere Personen wurden später beim Hantieren mit noch nicht explodierter Cluster-Munition getötet, die vom Angriff zurückgeblieben war. Wenn diese 41 in der offiziellen Berechnung auftauchen, was als wahrscheinlich gelten kann, dann wären lediglich 23 Zivilisten seit 2009 in allen anderen Strikes getötet worden, um die untere Grenze der amerikanischen Aufstellung von 64 [Zivilisten, Anm. d. Autors] zu erreichen. Nach nahezu allen unabhängigen Berichten ist diese Zahl unplausibel niedrig.“[21] Auch Micah Zenko weißt in „Foreign Policy“ auf gegebene sowie auf fehlende Informationen hin: „die Obama Administration hat vorsichtig einige zusätzliche Informationen über ‚Strikes` (keine Erwähnung von Drohnen oder unbemannten Fluggeräten) der ‚US-Regierung‘ (keine Unterscheidung zwischen CIA oder militärische Operationen) in ‚Gebieten außerhalb von aktiven Konflikten‘ (womit Jemen, Pakistan und Somalia gemeint sind) herausgegeben.“[22]
Gerade die Frage, ob die Central Intelligence Agency (CIA) oder das Militär die Angriffe ausgeführt hatte, ist durchaus von Interesse. Chris Woods hat für das TBIJ versucht, die hohe Anzahl an Opfern zu ergründen. Als einen zentralen Grund nannte er die Vorgehensweisen der CIA. Diese beinhalten die sogenannten „signature strikes“, was bedeutet, dass man durch Lebens- und Bewegungsmuster zum Ziel werden kann, ohne dass die Identität des Ziels bekannt sein muss. Auch seien bewusst Beerdigungen attackiert worden oder man sei nach der Methode des „double-tappings“ vorgegangen. Das heißt es wurde eine Rakete auf ein Ziel abgefeuert und dann wurde eine zweite Rakete auf jene abgefeuert, die den Verletzten Hilfe leisten wollten. Auch sei die CIA bei der Ausschaltung sogenannter „high-value targets“ also Hochwertzielen, die den oberen Rängen, zum Beispiel von Al-Qaida oder den Taliban angehören, nur wenig erfolgreich gewesen. Bei dem Versuch 41 Hochwertziele auszuschalten, seien 1147 den USA namentlich unbekannte Personen gestorben, so hatte es Reprieve berichtet.[23]
Dazu befragt, warum Präsident Obama sich überhaupt etwas freigiebiger mit Informationen gibt, antwortete Michael Brzoska, der Direktor des Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik in Hamburg, im Deutschlandfunk wie folgt: „Ich denke, es gibt zwei Gründe. Der eine ist, dass er schon, glaube ich, nicht gerne in die Geschichte eingehen würde als der Drohnenpräsident, wie ihn ja zum Beispiel selbst die damalige Außenministerin Hillary Clinton bezeichnet hat. Und das andere ist: Er will, dass das Drohnenprogramm so weitergeführt wird, wie er es jetzt bestimmt hat, nämlich dass man schon etwas darüber veröffentlicht, dass es nicht völlig im Geheimen bleibt.“[24]
Die Executive Order des Präsidenten soll nun zwar einerseits für etwas mehr Transparenz sorgen. Andererseits handelt es sich dabei aber um einen Schritt, der ohne Probleme vom nächsten Präsidenten oder der nächsten Präsidentin abgeändert oder ganz gestrichen werden könnte. Welchen Zweck das Dekret aber vorallem hat, ist das Programm auf ein solches Fundament zu stellen, dass es die Amtszeit Obamas weit überdauert. Darauf deuten auch die Aussagen eines Regierungsmitarbeiters hin, der der Washington Post sagte, dass das Dekret dafür sorgen solle, dass „die Architektur [des Drohnenprogrammes, Anm. d. Autors] beständig, nachhaltig und weit über die nächsten sieben Monate bestand hat.“[25] Auch solle durch das Dekret ein positives Beispiel für andere Staaten gegeben werden, die auch Drohnen einsetzen, sagte der Beamte.[26] Die Frage, warum sich der oder die Nachfolgerin im Amt diese Regeln auferlegen lassen soll, die für Obama die letzten sieben Jahre seiner Amtszeit schlicht nicht galten und erst recht, was nun das Beispielhafte am amerikanischen Drohnenprogramm für andere Staaten sein soll, wird aber in dem Artikel nicht beantwortet.
Was noch anzumerken ist: Es gibt nur zwei zivile Opfer, die auch von der US-Seite als solche namentlich genannt wurden. Die englischsprachige pakistanische Zeitung „Dawn“ schreibt zu den beiden Namen im Lichte der neusten Veröffentlichungen folgendes: „Der Mangel an Details, wie Namen, nähere Umstände usw. werfen ein Licht auf ein tiefer greifendes – vielleicht das grundlegende – Problem, das der Entmenschlichung des ‚Feindes‘. Dies wurde stark verdeutlicht nach einem Drohnenangriff an der pakistanisch-afghanischen Grenze im Januar 2015 indem versehentlich Dr. Warren Weinstein, ein amerikanischer Staatsbürger [und der italienischen Staatsbürger Giovanni Lo Porto, Anm. d. Autors] getötet wurde, der von Militanten seit 2011 als Geisel festgehalten wurde. Obamas Ausdruck von ‘profundem Bedauern’ war das erste Mal, dass ein ziviles Opfer in einem Drohnenangriff eine solche Antwort der USA entlockte. Die Ironie war unmissverständlich.”[27]
Viele Fragen offen – Auswirkungen ungewiss
Neben den ganzen ungeklärten Fragen bleibt die US-Regierung der Öffentlichkeit eine gemachte Zusage schuldig. Die Presidential Policy Guidance, kurz PPG, des Präsidenten, auch Playbook genannt, bleibt weiterhin geheim. Die Zusage wurde im Verlauf eines Prozesses um eine FOI Anfrage der ACLU gemacht. Ein Fact Sheet zu dem Dokument wurde zwar schon 2013 veröffentlicht, jedoch ließ es wenige Schlüsse auf die rechtlichen Grundlagen und Prozesse des Drohnenprogramms zu, die in diesem Dokument niedergeschrieben sind.[28] Laut diesem Fact Sheet habe Obama höhere Standards eingeführt, so dürfe jetzt nur noch jemand zum Ziel werden, wenn mit „near certainty“ also nahezu mit Sicherheit gesagt werden könne, die verdächtigte Person sei auch Terrorist_in und/oder würde eine Gefahr für die USA darstellen. Es müsse sichergestellt werden, dass mit nahezu mit Sicherheit keine Unbeteiligten in der Nähe wären. Auch fand im zeitlichem Zusammenhang mit dem Erlass der PPG ein merklicher Wechsel statt. Die Central Intelligence Agency (CIA) führte weniger Drohnenschläge aus und es wurden langsam aber stetig mehr Angriffe durch das Militär durchgeführt. Das Drohnenprogramm wurde aber noch nicht vollständig vom Militär übernommen. Doch der Wechsel heißt nicht automatisch mehr Öffentlichkeit und Transparenz. Denn das Kommando, unter dem die Angriffe meist durchgeführt werden, ist das Joint Special Operations Command (JSOC), das direkt dem Weißen Haus unterstellt ist und bis vor wenigen Jahren der Öffentlichkeit komplett unbekannt war.[29] Auch bedeuten die PPG und die jetzige Executive Order keine Abkehr von den umstrittenen „signature strikes“.[30]
Falls die Executive Order bestehen bleibt und die jährliche Veröffentlichungspraxis umgesetzt wird, dauert es trotzdem noch mindestens zwei Jahre, bis eine Vergleichbarkeit der Daten untereinander möglich wird. Denn Aussagekraft besitzen die jetzigen Daten letztlich keine. Auch können die jetzigen Veröffentlichungen nicht als ausreichend gelten, um Obamas Ziel von mehr Transparenz im US-Drohnenkrieg herzustellen. Sie können nur ein erster Schritt sein, von dem zu hoffen ist, dass er sieben Jahre nach der massiven Ausweitung von Drohneneinsätzen im „Krieg gegen den Terror“ durch Obama, nicht zu spät gegangen wurde, um auch einen nachhaltigen Effekt zu haben.
Anmerkungen
[1] Zur Methodik der Zählung von Strikes: Chris Cole (Drone Wars UK, 16.11.2015): New figures on UK drone use in Iraq and Syria.
[2] Karen DeYoung / Greg Miller (Washington Post, 1.7.2016): White House releases its count of civilian deaths in counterterrorism operations under Obama.
[3] DNI (1.7.2016): Summary of Information Regarding U.S. Counterterrorism Strikes Outside Areas of Active Hostilities [Übersetzt durch Autor].
[4] Ryan Devereaux (The Intercept, 15.10.2016): Manhunting in the Hindukush.
[5] Jo Becker / Scott Shane (New York Times, 29.5.2012): Secret ‘Kill List’ Proves a Test of Obama’s Principles and Will [Übersetzt durch Autor].
[6] Joseph Trevithick (War is Boring, 2.7.2016): The White House Doesn’t Know How Many People It Has Killed in Targeted Strikes.
[7] Brett Max Kaufman (ACLU, 1.7.2016): President Obama’s New, Long-Promised Drone ‚Transparency‘ Is Not Nearly Enough [Übersetzt durch Autor].
[8] DNI (1.7.2016): Summary of Information Regarding U.S. Counterterrorism Strikes Outside Areas of Active Hostilities.
[9] White House (1.7.2016): Executive Order — United States Policy on Pre- and Post-Strike Measures to Address Civilian Casualties in U.S. Operations Involving the Use of Force [Übersetzt durch Autor].
[10] White House (1.7.2016): Executive Order — United States Policy on Pre- and Post-Strike Measures to Address Civilian Casualties in U.S. Operations Involving the Use of Force [Übersetzt durch Autor].
[11] Jennifer Gibson (Twitter, 1.7.2016).
[12] Greg Jaffe (Washington Post, 1.7.2016): How Obama went from reluctant warrior to drone champion.
[13] Greg Miller (Washington Post, 1.7.21016): Why the White House claims on drone casualties remain in doubt.
[14] Scott Shane (New York Times, 3.7.2016): Drone Strike Statistics Answer Few Questions, and Raise Many.
[15] Micah Zenko (Foreign Policy, 5.7.2016): Do Not Believe the U.S. Government’s Official Numbers on Drone Strike Civilian Casualties.
[16] Nancy A. Youssef / Shane Harris (The Daily Beast, 1.7.2016): Did Obama Just Lowball The Drone War Death Toll? [Übersetzt durch Autor].
[17] Jack Serle (The Bureau of Investigative Journalism, 1.7.2016): Obama drone casualty numbers a fraction of those recorded by the Bureau.
[18] Bill Roggio (Long War Journal, 1.7.2016): US government releases data on ‘counterterrorism strikes outside areas of active hostilities’.
[19] New America (Zahlen aus eigener Berechnung aus Daten von Pakistan, Jemen, Somalia im fraglichen Zeitraum zwischen 20.1.2009 bis 31.12.2015).
[20] Jennifer Gibson (Reprieve, 1.7.2016): Drone death figures show the U.S. „simply doesn’t know who it has killed“ [Übersetzt durch Autor].
[21] Scott Shane (New York Times, 3.7.2016): Drone Strike Statistics Answer Few Questions, and Raise Many [Übersetzt durch Autor].
[22] Micah Zenko (Foreign Policy, 5.7.2016): Do Not Believe the U.S. Government’s Official Numbers on Drone Strike Civilian Casualties [Übersetzt durch Autor].
[23] Chris Woods (The Bureau of Investigative Journalism, 1.7.2016): Official estimates show civilians more likely to be killed by CIA drones than by US Air Force actions. The reality is likely far worse.
[24] Michael Brzoska im Gespäch mit Tobias Armbrüster (Deutschlandfunk, 4.7.2016): „Ich denke, dass die Anzahl der Opfer größer ist“.
[25] Karen DeYoung / Greg Miller (Washington Post, 1.7.2016): White House releases its count of civilian deaths in counterterrorism operations under Obama [Übersetzt durch Autor].
[26] Ebd.
[27] Editorial (Dawn, 4.7.2016): Death by drone [Übersetzt durch Autor].
[28] Marius Pletsch (IMI-Aktuell 2016/175, 21.3.2016): US-Drohnenkrieg: Hauch von Transparenz? Hier ist der Link zum Fact Sheet.
[29] Greg Miller (Washington Post, 16.6.2016): Why CIA drone strikes have plummeted.
[30] Karen DeYoung / Greg Miller (Washington Post, 1.7.2016): White House releases its count of civilian deaths in counterterrorism operations under Obama.
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