IMI-Analyse 2016/24
von: Anne Labinski | Veröffentlicht am: 20. Juni 2016
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Erstmalig rief die NATO nach den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA den Bündnisfall nach Artikel 5 aus. Kurz darauf marschierte eine Ad-hoc-Militärkoalition im Oktober 2001 in Afghanistan ein, da die dort herrschenden Taliban Osama Bin Laden, der als Urheber der Anschläge beschuldigt wurde, Unterschlupf gewährt hatten. Ab 2003 übernahm die NATO das Oberkommando über die „Internationale Schutztruppe“ (ISAF) und spätestens seit diesem Zeitpunkt ist der Einsatz zu einer Art „Paradebeispiel“ für gescheiterte westliche Militärinterventionen geworden: Mit teils über 130.000 SoldatInnen, die allein im Rahmen der NATO in Afghanistan eingesetzt waren[1], sowie mittels einer Reihe von „Aufstandsbekämpfungstechniken“, die auf dem „Experimentierfeld Afghanistan“ erstmals im großen Stil zur Anwendung kamen, wurde versucht, das Land zu „befrieden“ – sprich: unter Kontrolle zu bringen. Nicht zuletzt Deutschland war hier buchstäblich an vorderster Front mit dabei. Die Situation aber hat sich immer weiter verschlechtert, wie die desolate Lage, in der sich das Land befindet, mehr als deutlich vor Augen führt. Doch obwohl die westliche Truppenpräsenz offensichtlich Teil des Problems und nicht der Lösung des Konflikts ist und der NATO-Kampfeinsatz 2014 für offiziell beendet erklärt wurde, wird er faktisch unter dem neuen Label „Resolute Support“ fortgesetzt.[2] Schon ist wieder die Rede davon, die NATO werde noch für Jahrzehnte im Land stationiert bleiben[3], weshalb wenig darauf hindeutet, dass die Strategie der militärischen „Lösung“ von Konflikten grundsätzlich geändert wird – weder in Afghanistan noch anderswo.
1. Experimentierfeld Afghanistan
Als „Labor für Nation Building“ bezeichneten die RegierungsberaterInnen der „Stiftung Wissenschaft und Politik“ den NATO-Einsatz in Afghanistan[4]: Nach dem Kosovo sollten dort – in ungleich größerem Ausmaß – Techniken zur Anwendung gebracht werden, um ein Land im Anschluss an eine westliche Militärintervention „erfolgreich“ zu „stabilisieren“. Aus diesem Grund soll im Folgenden wenigstens kursorisch auf einige der wichtigsten dieser Techniken eingegangen werden.
Neoliberales Nation Building: Zahlreiche Studien gelangten zu dem Ergebnis, „Befriedungskonzepte“, die auf einen neoliberal-marktradialen Umbau der Wirtschaftssysteme der besetzten Länder aus sind, seien gänzlich untauglich, die soziale Lage der Bevölkerung zu verbessern und so zu einer Stabilisierung der Lage beizutragen.[5] Dennoch wurde bei allen großen NATO-Interventionen auf diese Strategie gesetzt – auch in Afghanistan. Dort präsentierte der „Internationale Währungsfond“ (IWF) bereits kurz nach Kriegsende ein offenbar schon längst ausgearbeitetes Programm, das tiefgreifende neoliberale „Reformen“ vorsah. Hierbei konnte man sich auf die willfährige, weil von der Unterstützung der „internationalen Gemeinschaft“ abhängige, Übergangsregierung unter Hamid Karzai verlassen. So stellte der IWF schon 2003 befriedigt fest: „Von Anfang an haben die afghanischen Behörden sich stark darauf verpflichtet, fiskalische Stabilität und Disziplin aufrecht zu erhalten, um den Wiederaufbau und die Erholung der Wirtschaft zu unterstützen. […] Die Wirtschaft wird auf liberalen und offenen Märkten basieren, angeführt von Aktivitäten des Privatsektors und mit einem geringen Grad an staatlichen Eingriffen. Der Außenhandel und Zahlungsverkehr […] werden auch liberal sein und Privatinvestitionen werden gefördert. In ihren Anstrengungen, all diese Ziele zu erreichen, erhalten die Behörden die Unterstützung des IWF, der Asiatischen Entwicklungsbank, der Weltbank und von zahlreichen bilateralen GeberInnen.“[6] Bereits früh wurden auf dieser Grundlage auch rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen, etwa mittels eines Investitionsschutzgesetzes („Law on Domestic and Foreign Private Investment“), das von der „Bertelsmann-Stiftung“ folgendermaßen zusammengefasst wurde: „Im September 2002 ratifizierte die afghanische Regierung das law on domestic and foreign private investment in Afghanistan, das keine Unterscheidung zwischen ausländischen und inländischen Investitionen macht. Dieses Gesetz ermöglicht 100 % ausländische Investitionen, den vollständigen Transfer von Gewinnen und Kapital aus dem Land heraus, internationale Schlichtungsverfahren sowie ‚stromlinienförmige‘ Lizenzverfahren. Auch werden AusländerInnen, die Kapital nach Afghanistan bringen, für vier bis acht Jahre von Steuern befreit.“[7] Ferner wurde laut afghanischer Regierung auf Betreiben von IWF und Weltbank die Steuergesetzgebung zusätzlich „vereinfacht“, indem eine Flat-Tax von 20 % auf Unternehmensgewinne eingeführt wurde.[8] Auch die Senkung der durchschnittlichen Zölle auf Importwaren von vormals 43 % auf später 5,3 % ist ein typisches Rezept aus der neoliberalen Giftküche.[9] Durch diese Maßnahmen musste sich Afghanistan komplett der übermächtigen ausländischen Konkurrenz öffnen und es verlor die Möglichkeit, die ohnehin kaum vorhandene einheimische Wirtschaft zu schützen. Und das, ohne dass der Staat durch Steuern oder Zölle sonderlich hiervon profitiert hätte, was im Resultat zu einem doppelten Defizit von Staatshaushalt und Handelsbilanz führte.
Zivil-militärische Zusammenarbeit: Innerhalb der NATO gilt es als erwiesen, dass die „erfolgreiche“ Stabilisierung einer Krisenregion nicht allein durch das Militär, sondern nur durch die gleichzeitige Mithilfe ziviler AkteurInnen zu bewerkstelligen ist. Unter dem Stichwort „Comprehensive Approach“ (CA) ist es deshalb das Ziel, für die Kontrolle und den Umbau von Gesellschaften zivile Kompetenzen und AkteurInnen – allerdings unter dem Oberbefehl des Militärs – nutzbar zu machen: JuristInnen, IngenieurInnen, AgrotechnikerInnen, VerwaltungsexpertInnen, BrunnenbauerInnen, PolizistInnen, etc. Konkret operierten in Afghanistan 27 „Regionale Wiederaufbauteams“ („Provincial Reconstruction Teams“, PRTs), Einheiten, „die sich aus Diplomaten, Polizeiausbildern, Aufbauhelfern und Soldaten zusammensetzen.“[10] Überspitzt formuliert konnten diese PRTs also in einer Region morgens Nahrungsmittel verteilen, mittags die Gegend „befrieden“ und abends dort eine Schule aufbauen. Hierdurch verloren zivile AkteurInnen ihre Neutralität und wurden dadurch aus Sicht der Aufständischen zu integralen Bestandteilen der Besatzung und damit zu legitimen Anschlagszielen. Die Folge war, dass sich eine Reihe von zivilen Organisationen gezwungen sah, ihre Tätigkeit in Afghanistan zu beenden. Mit am Schärfsten wandte sich der Dachverband der deutschen entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen (VENRO) gegen diese Instrumentalisierung ziviler Akteure: „Das Konzept der ‚Vernetzten Sicherheit‘ – im NATO-Jargon ‚Comprehensive Approach‘ – bedeutet in der Konsequenz, dass die staatliche Entwicklungszusammenarbeit und Aufbauhilfe den militärischen Zielen im Sinne einer ‚Aufstandsbekämpfung‘ untergeordnet ist. […] Für die Hilfsorganisationen bedeuten die genannten Tendenzen zur zivil-militärischen Zusammenarbeit und zur Unterordnung der Entwicklungshilfe unter politisch-militärische Zielsetzungen eine deutliche Erschwerung und Einschränkung ihrer Arbeit. Sie schaden dem Ansehen und der Glaubwürdigkeit der NRO als unabhängige und unparteiliche humanitäre Akteure. Im Extremfall führt dies dazu, dass Hilfsorganisationen von Teilen der Bevölkerung als Parteigänger des Militärs gesehen und von Aufständischen als vermeintlich legitime Angriffsziele eingestuft werden.“[11]
Ertüchtigung, Drohnen & Spezialkräfte: In dem Maße, in dem der militante Widerstand an Zulauf gewann, verschärfte auch die NATO ihr Vorgehen und ging immer „robuster“ vor. Vor allem ab 2006 eskalierten die Kampfhandlungen, sodass die Zahl der bewaffneten Zusammenstöße („Sicherheitsvorfälle“) von 1755 (2005) auf 19.440 (2010) regelrecht explodierte. Damit stiegen aber auch die politischen, finanziellen und personellen Kosten des Krieges rasant an, weshalb neue Wege gesucht wurden, um den Einsatz „effektiver“ zu gestalten. Ein in diesem Zusammenhang immer zielstrebiger verfolgter Versuch war es, eine „Afghanisierung“ des Krieges einzuleiten, indem der Großteil der hochintensiven Kampfhandlungen sukzessive auf die afghanischen Regierungstruppen (Armee und Polizei) übertragen wurde. Hierfür wurden afghanischen Kräfte seitens der NATO in großem Stil ausgebildet und ausgerüstet, „ertüchtigt“, wie es heute heißt. Bis zu einem gewissen Grad war diese Strategie „erfolgreich“: Offiziell haben die afghanischen Regierungseinheiten (ANSF) derzeit 320.000 Mitglieder, von denen alleine im Jahr 2015 7.000 bei Kampfhandlungen ums Leben kamen. Gleichzeitig sind die Opfer unter den westlichen SoldatInnen auf nahe null gesunken.[12] Um die Regierungstruppen zu unterstützen, gleichzeitig aber die Verluste zu begrenzen, griff die NATO im Laufe des Krieges zudem immer stärker auf Drohneneinsätze und Spezialeinheiten zurück. Als direkte Folge bezeichnete das „Bureau of Investigative Journalism“ (TBIJ) Afghanistan als das „am meisten von Drohnen bombardierte Land der Welt“.[13] Allein im Jahr 2015 wurden der Organisation zufolge bei mindestens 230 Drohnenangriffen zwischen 989 und 1441 Menschen getötet, viele davon ZivilistInnen. Auch die Einsätze von Spezialeinheiten nahmen sprunghaft zu: So hatte sich allein die Zahl der vor allem in der Nacht stattfinden Kommandoaktionen („night raids“) seit Amtsantritt der Obama-Regierung Anfang 2009 in wenigen Jahren etwa verfünffacht. Wie bei den Drohnenangriffen argumentiert die NATO, dabei „gezielt“ gegen hochrangige Aufständische vorzugehen. Einem Bericht des „Afghanistan Analysts Network“ zufolge wird dabei eher nach dem Gießkannenprinzip verfahren. Die Studie kommt zu dem Ergebnis, die NATO-Definition eines Anführers sei „so weit gefasst, dass sie inhaltsleer ist.“[14]
Mit all dem wurde der Nährboden bereitet, auf dem der Widerstand gegen die westliche Besatzung immer mehr Zulauf gewann und die Situation weiter eskalierte. Auch und gerade Deutschland war an dieser Entwicklung alles andere als unbeteiligt.
2. Deutschland: „Kämpfen gelernt“
Gerade für Deutschland ist die Bedeutung des Afghanistan-Einsatzes kaum zu unterschätzen – und zwar sowohl in seiner Rückwirkung in die deutsche Gesellschaft und Politik hinein, als auch „praktisch“, was die „Lerneffekte“ auf dem Schlachtfeld anbelangt.
Zunächst einmal war es der Afghanistan-Einsatz, den der damalige Verteidigungsminister Peter Struck (SPD) 2002 zum Anlass nahm, um eine grundlegend neue Interpretation von Artikel 87a des Grundgesetzes – „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ – vorzunehmen. „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt“, hieß es damals – und der Verteidigung dient seither alles, was von der Bundesregierung dazu erklärt wird. Mit zeitweise deutlich über 5.000 SoldatInnen stieg Deutschland dann auch zum drittgrößten Truppensteller des NATO-Kriegs auf. Der logische Abschluss dieser Entwicklung war dann folgende Feststellung im Weißbuch der Bundeswehr des Jahres 2006: „Die Bundeswehr ist eine Armee im Einsatz.“ Generell etablierte sich ein neuer Sprachgebrauch, der die Bevölkerung darauf einstimmen sollte, dass das Töten (und getötet werden) deutscher SoldatInnen als Normalität empfunden werden sollte. Bahnbrechend war in diesem Zusammenhang das SPIEGEL-Titelbild aus dem Jahr 2006 (Nr. 47), in dem gefordert wurde: „Die Deutschen müssen das Töten lernen.“ Parallel dazu wurde angefangen, offen von „Krieg“ sowie von deutschen „Gefallenen“ zu sprechen, für die auch ein eigenes „Ehrenmahl“ geschaffen wurde, und seit 2009 wird auch wieder ein „Ehrenkreuz für Tapferkeit“ vergeben. Der deutsche Oberst Georg Klein, Verantwortlicher für die 142 Toten des Luftangriffes auf die Tanklaster bei Kunduz im September 2009, wurde nicht etwa angeklagt, sondern im April 2013 auch noch zum Brigadegeneral befördert. Generell hat sich der Ton in Deutschland grundlegend geändert: Während früher eher verschämt und am Rande über die Notwendigkeit militärischer Einsätze zu Zwecken profaner Interessensdurchsetzung gesprochen wurde, wird dies heutzutage mit aller Selbstverständlichkeit hinausposaunt. So schrieben die CDU-Verteidigungspolitiker in einem Positionspapier im April 2016: „Die Bundeswehr muss künftig in der Lage sein, sich stärker auch dauerhaft in geostrategisch wichtigen, auch entfernteren Regionen der Welt positionieren zu können, beispielsweise um die Durchlässigkeit von Handelsrouten sicherzustellen. In Übereinstimmung mit dem Koalitionsvertrag, lassen wir uns hierbei von den Interessen unseres Landes leiten.“[15]
Auch dafür, solche Einsätze taktisch, also auf dem Gefechtsfeld, „meistern“ zu können, spielte der Afghanistan-Krieg eine wichtige Rolle. Im Juli 2009 wurden die „Nationalen Klarstellungen“ zum NATO-Operationsplan geändert. Die sogenannte „Taschenkarte“ regelt, wann die SoldatInnen in Afghanistan Gewalt einsetzen dürfen. Nachdem folgender Satz komplett gestrichen wurde, war seither auch für die deutschen SoldatInnen ein noch offensiveres Vorgehen erlaubt: „Die Anwendung tödlicher Gewalt ist verboten, solange nicht ein Angriff stattfindet oder unmittelbar bevorsteht.“[16] Im selben Monat fand die „Operation Adler“ statt, deren Tragweite folgendermaßen beschrieben wird: „Die Operation Oqab [afgh. für Adler] bedeutete für das deutsche Heer die erste direkte Beteiligung an einer Offensive seit seinem Bestehen. Die Tragweite des deutschen Beitrags spiegelt sich in der Aussage von Oberstleutnant Hans-Christoph Grohmann, Kommandeur der QRF [Quick Reaction Force], wider, der einen seiner Offiziere als ‚den ersten Oberleutnant, der nach 1945 eine Infanterie-Kompanie im Angriff geführt hat‘ vorstellte.“[17]
Zusammenfassend lässt sich die Bedeutung des Afghanistan-Krieges für die Bundeswehr wohl nur schwer unterschätzen: „Seit dem Ende der territorialen Bedrohung der Bundesrepublik und der Bündnisgebiete richtete sich die Bundeswehr Schritt für Schritt auf Auslandseinsätze aus. In den 1990er-Jahren waren dies primär die Operationen auf dem Balkan, gipfelnd im Luftkrieg um den Kosovo, an dem Bundeswehrflugzeuge maßgeblich beteiligt waren. Nach 2001 standen die Operationen in Afghanistan im Mittelpunkt. Die ISAF-Mission am Hindukusch stellt nicht nur den längsten Einsatz der Bundeswehr dar; sie sah auch die intensivsten Gefechte deutscher Streitkräfte seit dem Zweiten Weltkrieg. Kurz gefasst: In Afghanistan hat die Bundeswehr das Kämpfen gelernt.“[18]
3. Offenbarungseid Besatzung: Arm, unsicher, undemokratisch
Glaubt man dem „Fortschrittsbericht Afghanistan“ der Bundesregierung, wurden in mehr als 15 Jahren Krieg und Besatzung in allen relevanten Bereichen große Fortschritte erzielt. Konkret benannt werden vier „Hauptziele“: „(1) Herstellung von Sicherheit, (2) Stärkung demokratischer Strukturen, (3) Förderung von Wirtschaftswachstum und (4) Förderung von Rechtsstaatlichkeit sowie Stärkung von Menschenrechten, insbesondere Frauenrechten.“[19] Bei näherer Betrachtung lässt sich allerdings feststellen, dass die Behauptung der Bundesregierung nicht haltbar ist.
Sicherheit: Die Intensität der Kampfhandlungen in Afghanistan ist unverändert äußert hoch: Die Zahl der „Sicherheitsvorfälle“ hat 2015 mit 22.634 den zweithöchsten Stand seit Kriegsbeginn erreicht. Auf westlicher Seite sind bis 30. März 2016 etwa 3.500 SoldatInnen im Afghanistan-Krieg ums Leben gekommen. Ungleich höher waren die Verluste auf der afghanischen Seite: Allein zwischen 2009 und 2015, vorher wurden überhaupt keine Zahlen erhoben, sind laut den Vereinten Nationen 21.323 ZivilistInnen bei Kampfhandlungen ums Leben gekommen und 37.413 verletzt worden, wobei es dabei eine hohe Dunkelziffer geben dürfte. Überhaupt nicht erfasst werden getötete „Aufständische“ und Menschen, die an den indirekten Folgen des Krieges sterben, weshalb andere Einschätzungen zu weit höheren Opferzahlen gelangen: „Addieren wir sämtliche Kategorien von Kriegstoten, so schätzen wir ihre Zahl für Afghanistan auf 184000 bis 248000 bis Ende 2013.“[20] Konsequenterweise wurde das Land auf dem Global Peace Index, der die Friedfertigkeit von Ländern misst, 2015 auf dem drittletzten Platz verortet, dahinter fanden sich nur noch der Irak und Syrien.[21]
Förderung des Wirtschaftswachstums: Auch was die sozioökonomische Lage anbelangt, sind die Resultate der Besatzung alles andere als eine Erfolgsgeschichte: Afghanistan wurde im UN-Index für menschliche Entwicklung 2015 auf Platz 171 von 187 Ländern geführt (2014: 169).[22] Dementsprechend sieht die Lage für die dort lebenden Menschen aus: „Ca. 7,4 Millionen der offiziell etwa 26 Mio. Einwohner leiden unter akutem Nahrungsmangel, weitere 8,5 Mio. sind davon bedroht. 60 Prozent der Kinder sind mangelhaft ernährt. Nur 27 Prozent der Bevölkerung haben Zugang zu sauberem Trinkwasser, fünf Prozent zu hygienischen Sanitäreinrichtungen.“[23] Nicht viel besser steht es um den allgemeinen Zustand der Wirtschaft: „Afghanistan hat seit Jahren eine negative Außenhandelsbilanz vorzuweisen. Für das Jahr 2014 wird ein Exportvolumen von rund 2,4 Milliarden US-Dollar geschätzt, dem gegenüber steht ein Importvolumen von rund 10,6 Milliarden US-Dollar. Dieses Handelsdefizit wird vollständig durch internationale Gebermittel finanziert.“[24]
Menschenrechte und die Stärkung demokratischer Strukturen: Auch hier lässt sich wenig beschönigen, nicht umsonst wird Afghanistan häufig als „defekte Demokratie“ oder auch als „Fassadendemokratie“ bezeichnet. So gab es etwa seit 2001 keinen Urnengang, bei dem es nicht zu massiven Wahlfälschungen gekommen wäre. Vor allem Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung der Menschen- und insbesondere der Frauenrechte geben Anlass zu großer Sorge.[25]
All das hätte eigentlich zu der Einsicht verhelfen sollen, dass nachhaltige Lösungen für Afghanistan nur durch eine Abkehr vom bislang praktizierten militärisch abgesicherten Nation Building erreicht werden können – doch leider ist dies nicht der Fall!
4. Resolute Support: Fortsetzung des NATO-Krieges
Obwohl der Öffentlichkeit stets suggeriert wurde, die NATO plane sich 2014 vollständig aus dem Land zurückzuziehen, übergab die ISAF ab 2015 lediglich den Stab an die NATO-Folgemission „Resolute Support“. Sie umfasst 12.486 SoldatInnen (Stand: April 2016), wobei ihr Mandat zwar von Anfang an einen gewissen Spielraum für westliche Kampfeinsätze ließ, offiziell aber ursprünglich stets betont wurde, es gehe eigentlich „nur“ um die Ausbildung afghanischer Militär- und Polizeieinheiten. Diese Regierungstruppen übernehmen zwar wie beschrieben tatsächlich immer größere Teile der Kampfhandlungen, sie scheinen aber nicht in der Lage zu sein, die Aufständischen zu besiegen.
Dies wird wiederum u. a. von den USA als Begründung herangeführt, ihren bereits zuvor mehrmals verschobenen Truppenabzug erneut nach hinten zu verlegen: Momentan sind rund 9800 US-SoldatInnen in Afghanistan stationiert, 2017 sollte diese Zahl eigentlich auf 1000 sinken, wurde aber inzwischen wieder auf mindestens 5500 Soldaten angehoben.[26] Dabei weichen die USA von dem offiziellen Slogan der NATO-Mission „Training, Beratung und Unterstützung“ immer weiter ab und gehen erneut in zunehmendem Ausmaß offensiv vor. Des Weiteren erklärte der US-General David Petraeus, u. a. von Oktober 2008 bis Juni 2010 als Chef des Central Command für die US-Kriege im Irak und in Afghanistan zuständig, zusammen mit dem bekannten demokratischen Sicherheitspolitiker Michael O’Hanlon, dass es im Afghanistan-Krieg Zeit wäre, endlich wieder die „Samthandschuhe auszuziehen“. Dabei solle nicht eine Aufstockung der Bodentruppen, sondern eine deutliche (Wieder)Ausweitung der Luftschläge im Zentrum stehen.[27]
Seit Anfang 2016 nehmen von deutscher Seite 980 SoldatInnen (statt bisher 850) an „Resolute Support“ teil. Das wird für dieses Jahr mit 245,3 Millionen Euro zu Buche schlagen.[28] Auch in Deutschland scheint man zu einer neuerlichen Intensivierung der Kampfhandlungen bereit zu sein, wie Aussagen des deutschen NATO-Generals Hans-Lothar Domröse vom November 2015 nahelegen: „Wir brauchen eine robuste Beratung. […] Wenn wir sehen, dass es einen Taliban-Angriff gibt, müssen wir den auch niederschlagen können“. Man müsse die Frage von militärischen Unterstützungsleistungen der NATO für die AfghanInnen grundsätzlich „noch einmal neu überdenken.“[29]
Somit scheint die direkte militärische Unterstützung im Kampf gegen Terroristen nun doch wieder ein – wachsender – Teil der Mission zu werden.
5. Verwaltung des Desasters
Auch ohne die Kosten für Resolute Support haben die westlichen Staaten immense Summen für den Krieg in Afghanistan aufgewendet: Bis einschließlich 2014 waren es im Falle der USA offiziell 756 Milliarden Dollar[30] und bei Deutschland über 8,8 Milliarden Euro.[31] Da diese Beträge notorisch schöngerechnet werden, dürften die tatsächlichen Zahlen weit höher liegen. Eine Untersuchung des „Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung“ kam zu dem Ergebnis, der Bundeswehreinsatz sei etwa 2,5 bis 3 Mal teurer als von Regierungsseite angegeben.[32] Werden diese Summen kritisiert, wird gerne auf die „gewaltigen“ Entwicklungshilfegelder verwiesen, die ebenfalls ins Land geflossen seien. Diese wandern aber häufig wieder direkt in die Taschen westlicher Aufbauunternehmen oder werden gleich für die Aufstandsbekämpfung verwendet. So belief sich die Entwicklungshilfe im Falle der USA einschließlich des Haushaltsjahrs 2014 auf 100 Milliarden Dollar – allerdings waren davon allein circa 60 % für den Aufbau und das Training der afghanischen Sicherheitskräfte bestimmt.[33]
Die jährlichen Kosten für die Regierungstruppen belaufen sich auf schätzungsweise etwa 5 Milliarden US-Dollar. Sie sind damit nur wenig niedriger als der komplette afghanische Haushalt (2016/2017: 7,2 Mrd. Dollar). Afghanistan hat sich im September 2014 auf dem NATO-Gipfeltreffen in Wales verpflichtet, künftig jährlich für 500 Millionen US-Dollar der Kosten selbst aufzukommen, was dem Regierungsbudget die letzten Spielräume raubt, zumal die geplante Truppenreduzierung auf 228.500 im Mai 2016 zurückgenommen wurde. Darüber hinaus fehlen langfristige Zusagen der Europäischen Union oder anderer Mitglieder der internationalen Gemeinschaft, den Haushalt der ANSF zu finanzieren. Im Hinblick darauf besteht die Gefahr, dass die hoch militarisierten und gut ausgerüsteten Regierungstruppen, die bereits wiederholt schwerer Menschenrechtsverbrechen beschuldigt wurden, sich z. B. mittels Raub an der Bevölkerung alternative Einnahmequellen erschließen werden.
Die Regierungen im Westen geben immer noch viel Geld für das Land aus, kappen aber die Budgets für den zivilgesellschaftlichen Aufbau und die Demokratisierung. Sie investieren lieber in vorzeigbare Hardware als sichtbaren Erfolgsbeweis für die SteuerzahlerInnen und WählerInnen daheim. Der Westen ist aber Teil des Problems, nicht der Lösung; in einem Land mit komplexen Strukturen, unklaren Fronten und fast täglichen Anschlägen. Solange die militärische Präsenz des Westens anhält und es keine politische Vision gibt, ist ein Ende des Krieges nicht in Sicht. Stattdessen wird ohne Plan, Sinn und Verstand weiter gekämpft, wie unter anderem Ulrich Ladurner von der Zeit kritisiert: „Strategie ist das keine, das ist die Verwaltung des Desasters. Es wird so getan, als ob eine längere und stärkere Präsenz der Bundeswehr […] die Taliban mit Sicherheit schwächen würde. Aber was, wenn es umgekehrt ist? […] Aus dieser Lage muss sich der Westen, muss sich Deutschland befreien – und das geht nur, wenn er den Einsatz beendet.“[34]
Anmerkungen
[1] Hinzu kamen noch Kräfte der rein US-geführten „Operation Enduring Freedeom“ und zahlreiche MitarbeiterInnen Privater Militärfirmen.
[2] Hinzuweisen ist hier auch auf das bilaterale Sicherheitsabkommen USA-Afghanistan (BSA) und das Abkommen zwischen NATO und Afghanistan (NATO SOFA) über die Rechtsstellung ihrer Truppen und ihres Personals, die beide am 30. September 2014 unterzeichnet wurden. Die Unterzeichnung des NATO SOFA untergräbt die Unabhängigkeit des Staates Afghanistan und seiner Institutionen. So kann es ggf. zur Straffreiheit von Kriegsverbrechen durch NATO-SoldatInnen kommen.
[3] The U.S. was supposed to leave Afghanistan by 2017. Now it might take decades, Washington Post, 26.01.2016.
[4] Schmunk, Michael: Die deutschen Provincial Reconstruction Teams. Ein neues Instrument
zum Nation-Building, SWP-Studie, November 2005, S. 8.
[5] Vgl. zur Kritik des neoliberalen Nation Building u.a. Chandler, David (ed.): Statebuilding and Intervention: Policies, Practices and Paradigms, London 2009; Richmond, Oliver P./Franks, Jason: Liberal peace transitions: between statebuilding and peacebuilding, Edinburgh 2009; Newman, Edward/Paris, Roland/Richmond, Oliver P. (eds.): New Perspectives on Liberal Peacebuilding, Tokyo 2009; Paris, Robert/Sisk, Timothy D. (eds.): The Dilemmas of Statebuilding: Confronting the contradictions of postwar peace operations, London 2009; Pugh, Michael/Cooper, Neil/Turner, Mandy (eds.): Whose peace? critical perspectives on the political economy of peacebuilding, Basingstoke 2008; Barbara, Julien: Rethinking neo-liberal state building, in: Development in Practice, June 2008, S. 307-318; Lacher, Wolfram: Iraq: Exception to, or Epitome of Contemporary Post-Conflict Reconstruction?, in: International Peacekeeping, April 2007, S. 237-250; Chandler, David: Empire in Denial: The Politics of State-building, London 2006.
[6] Islamic State of Afghanistan: Rebuilding a Macroeconomic Framework for Reconstruction and Growth, IMF Country Report No. 03/299, September 2003, S. 8.
[7] Bertelsmann Transformationsindex: Afghanistan, URL: http://bti2003.bertelsmann-transformation-index.de/fileadmin/pdf/laendergutachten/asien_ozeanien/Afghanistan.pdf. Die Steuerbefreiungen wurden im Jahr 2005 teils modifiziert und etwas abgeschwächt. Vgl. World Bank: Afghanistan. Managing Public Finances for Development, Volume III, Report No. 34582-AF, December 22, 2005, S. 1.
[8] Afghanistan: Income Tax Law (consolidation to 31 March 2005), Article 3.
[9] World Bank: Afghanistan. Managing Public Finances for Development, Volume I, Report No. 34582-AF, December 22, 2005, S. 36.
[10] Auswärtiges Amt: Deutschland globales Engagement, Berlin 2007, S. 12.
[11] VENRO: Was will Deutschland am Hindukusch?, Positionspapier Nr. 7/2009, S. 6.
[12] Brookings Afghanistan Index, 31.03.2016.
[13] Taliban – an den Haaren herbeigezogen, taz, 16.12.2014.
[14] Borger, Julian: Nato success against Taliban in Afghanistan ‚may be exaggerated‘, The Guardian, 13.10.2011.
[15] Positionierung der CDU-Verteidiger: Bundeswehr im Innern und an der EU-Grenze, Augengeradeaus, 29.04.2016.
[16] Neue Regeln erlauben Deutschen offensiveres Vorgehen, Spiegel Online, 04.07.2009.
[17] Wikipedia: Operation Oqab.
[18] Zapfe, Martin: Die Bundeswehr 2014 – Zwischen Kabul und Krim, CSS Analysen Nr. 154, Mai 2014.
[19] Die Bundesregierung: Fortschrittsbericht Afghanistan zur Unterrichtung des Deutschen Bundestags, Januar 2014, S. 6.
[20] Henken, Lühr: Vergessene Tote, junge Welt, 07.07.2014.
[21] Global Peace Index 2015: Afghanistan, visionofhumanity.org, 24.01.2016.
[22] UN Development Programme: Human Development Reports: Afghanistan, hdr.undp.org, 24.01.2016.
[23] Ruttig, Thomas: Einiges besser, nichts wirklich gut. Afghanistan nach 34 Jahren Krieg – eine Bilanz, in: WeltTrends 94 (2014): 1, S. 27-39, S. 36.
[24] LIP-Portal: Afghanistan.
[25] Glaßer, Michael Schulze von/Wagner, Jürgen: Krachend gescheitert. Demokratisierungsrhetorik und Besatzungsrealität in Afghanistan, in: AUSDRUCK (August 2014).
[26] Militäreinsatz in Afghanistan: USA verlangsamen Truppenabzug, tagesschau.de, 15.10.2015.
[27] David Petraeus und Michael O’Hanlon: It’s time to unleash America’s airpower in Afghanistan, washingtonpost.com, 14.01.2016.
[28] Deutscher Bundestag: Ausweitung des Einsatzes in Afghanistan zugestimmt, bundestag.de, 17.12.2015.
[29] Matthias Gebauer: Afghanistan: Deutscher Nato-Kommandeur fordert Luftschläge gegen Taliban, spiegel.de, 03.11.2015.
[30] Frankfurter Allgemeine Zeitung: Afghanistan kostet Amerika eine Billion, faz.net, 15.12.2014.
[31] Christian Thiels: Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan: Die Kosten des Krieges, tagesschau.de, 20.03.2015.
[32] Brück, Tilman u.a.: Eine erste Schätzung der wirtschaftlichen Kosten der deutschen Beteiligung am Krieg in Afghanistan, Wochenbericht des DIW Berlin 21/2010, S. 2-11.
[33] Im Jahr 2015 wurden ungefähr 5,7 Milliarden Dollar bereitgestellt, davon allein 4,1 Milliarden für die ANSF. Kenneth Katzman: Afghanistan: Post-Taliban Governance, Security, and U.S. Policy, fas.org, S.2, 22.12.2015
[34] Ladurner, Ulrich: Bundeswehr in Afghanistan: Die Verwaltung des Desasters, zeit.de, 17.12.2015.
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