Dienstag, 7. Juni 2016

Revolutionäre Politik heißt Bildung und Organisierung!

Nach unseren ersten zwei Jahren Politik als Antikapitalistische nicht-weiße Gruppe haben wir unsere bisherige Arbeit kritisch reflektiert.
Antikapitalistische Politik ist die Politik, die anstrebt „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“1. Das alleinige Lippenbekenntnis zur Befreiung der Gesellschaft von Ausbeutung und Unterdrückung kann deshalb nicht ernst genommen werden. Die Kriterien für erfolgreiche antikapitalistische Politik müssen das klare Wachstum unserer Gruppenstruktur und die konkrete Veränderung der gesellschaftlichen Realität hin zu politischem Bewusstsein und politischer Organisierung sein. Selbstkritisch haben wir festgestellt, dass wir keines der beiden Ziele bislang realisieren konnten. Wir haben zwei Jahre lang intensiv Aktivismus betrieben, dabei Demonstrationen, Veranstaltungen und Bündnisse organisiert und uns mit der Berliner Linken vernetzt, politische Diskussionen geführt und Kritiken geübt, dabei aber keinen ausschlaggebenden gesellschaftlichen Einfluss entwickelt.
Uns ist allzu lange nicht aufgefallen, dass wir damit die gleichen Fehler wiederholen, die wir an der deutschen Linken allgemein kritisieren: Nicht aus der Summe vieler kleiner Aktionen wird sich die Gesellschaft verändern, werden wir Ausbeutung und Unterdrückung aus unserem Leben verbannen, sondern durch organisierte Schritte zur revolutionären Organisierung der Unterdrückten und Ausgebeuteten – der arbeitenden Klasse. Eine Demonstration oder ein Workshop etwa können aus moralischen Gründen legitim erscheinen (beispielsweise die zahlreichen antirassistischen Bündnisse, die in Berlin momentan gegen Rassismus mobilisieren) – wenn mit ihnen aber ernsthaft eine Veränderung der Gesellschaft angestrebt wird, müssen diese Aktionen darüber hinaus Teil eines langfristigeren organisatorischen Prozesses sein. Unsere Aktionen dürfen nicht einfach moralisch gut klingen – sie brauchen eine durchdachte, kontextbezogene politische Begründung. Insbesondere wenn wir gegen die verschiedenen Formen von Unterdrückung ankämpfen wollen, die unsere Gesellschaft prägen, und uns dabei aktiv mit anderen internationalen Kämpfen solidarisieren, die den gleichen Kampf in anderen Teilen der Welt führen, müssen wir uns fragen wie wir diese zahlreichen Aufgaben bewältigen können, ohne uns in zahllosen Aktionen zu verlieren. Jede unserer Aktionen muss bewusst durchgeführt werden und Teil des revolutionären Aufbauprozesses sein, der uns unserem Ziel näher bringt. Für unsere Praxis brauchen wir deshalb eine solide theoretische Grundlage, die uns aufzeigt wo wir gebündelt ansetzen müssen.
Wir sind überzeugt, dass diese Grundlage der Marxismus ist: Die Methode des dialektischen Materialismus, sowie die wissenschaftliche Kritik des Kapitalismus, der Klassengesellschaft und der in ihr existierenden Ausbeutung und Unterdrückung. Wir sehen unsere Aufgabe darin, davon ausgehend eine Theorie zu entwickeln, die unsere Realität als Migrant*innen in Deutschland widerspiegelt; eine Theorie, die dem nicht-weißen Proletariat Deutschlands seine Position erklärt und einen zielgerichteten Widerstand ermöglicht.
Wir sind die Produkte von deutschem Kolonialismus, die Nachkommen von Überlebenden des deutschen Faschismus, Arbeitsmigrant*innen, durch imperialistische Kriege Vertriebene, Geflüchtete und ihre von der deutschen Gesellschaft oft ungewollten Kinder, die ewigen ‚Anderen‘ der deutschen Nation. Wir standen historisch und tun es auch heute weiterhin inmitten einer Vielzahl von gesellschaftlichen Widersprüchen, die uns von uns selbst und voneinander entfremden, uns am Boden halten und verhindern, ein gutes Leben zu führen. Wir sind zwanzig Prozent der in Deutschland lebenden Menschen. Und wir werden mehr.
Die deutsche Linke spricht das migrantische Proletariat jedoch kaum an. Anstatt der arbeitenden Klasse und ihren migrantischen Communities zur Seite zu stehen und die herrschenden Verhältnisse zu bekämpfen geht es den meisten von uns Linken einfach darum sich von der reaktionär beeinflussten Gesellschaft abzugrenzen. Die größtenteils weiße, sogenannte Antira-Szene führt den Kampf gegen Rassismus in Deutschland zwar lautstark an, die Realität von uns Langzeit-Ausländern und unseren wahren Problemen hat sie aber kaum auf dem Schirm. Auch der liberale Antirassismus mit seinen NGOs ist den Massen migrantischer Prolet*innen keine Hilfe. Er verschleiert nur die gewaltvollen Klassenwidersprüche und verwässert den Kampf gegen Rassismus zu einer moralischen Bekennung zu ‚Toleranz‘ innerhalb des kapitalistischen Ausbeutungssystems, welches weiterhin jeder rassistischen und faschistischen Gewalt zugrundeliegt.
Aufgrund dieser Misslage, aufgrund dieser unerträglichen Lücke, müssen wir als organisierte migrantische Arbeiter*innen, als Jugendliche und junge Erwachsene der zweiten und dritten Generation, den Kampf für eine freie Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung selbst in die Hand nehmen. Dafür werden wir uns vorerst aus dem gängigen linken Aktivismus zurückziehen und uns intensiv zu unserer Geschichte, der deutschen Gesellschaft und unserer Position darin, zum Herrschaftssystem des Kapitalismus und gesellschaftlichen Alternativen bilden. Wir werden uns auch hin und wieder an politischen Projekten beteiligen und auf der Straße anwesend sein, sehen jedoch genau jetzt die Notwendigkeit, unsere theoretische Basis durch Bildung und Weiterbildung zu festigen, um zu wachsen und bald mit neuen Antworten zu neuen Taten zu schreiten.
1Karl Marx, „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ S. 385

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