Als kurz nach den Anschlägen in Paris bekannt wurde, dass vier der Beteiligten vorübergehend oder auch längerfristig in Molenbeek gelebt haben sollen, haben sowohl belgische Politiker*innen als auch internationale sogenannte ‚Sicherheitsexpert*innen‘ einmütig auf die mehrheitlich migrantische bzw. post-migrantische proletarische Molenbeek-Community gezeigt1. Ein globales Problem wurde so zu einem lokalen Problem erklärt. Es sei die hohe Arbeitslosigkeit der Jugend. Die Immigrant*innen, mehrheitlich aus Nordafrika, hätten sich nie integriert. Würden ihre Zeit vor allem in den Moscheen verbringen. Hätten die europäischen Werte nie angenommen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Erneut klingeln die Glocken. Wurde dies nicht schon während der Charlie Hébdo-Anschläge vorgebracht? Das gleiche Argumentationsmuster. Die ‚Anderen‘ stimmen nicht. Sie hätten sich ‚uns‘ nicht angepasst. Es sei ein kulturelles Problem. Ein importiertes Problem. Europa ist komplett perplex, wie sich eine solche Gewalt bloß gegen es als Ganzes richten kann.
Dies sind alles kulturalistische und rassistische Argumentationsmuster. Argumentationsmuster, die wir ablehnen. Denn: Hier wird eine ‚Gesellschaft in der Gesellschaft‘ herbeifantasiert. Eine proletarisch-migrantische, mehrheitlich muslimische Gesellschaft, die abseits von sogenannten europäischen Werten existieren soll. Diese Fantasien sind jedoch sehr gefährlich, wie wir bereits in den Jahren nach dem 11. September 2001 gesehen haben. Hier wird ein ‚ausländisches Anderes‘, ein ‚muslimisches Anderes‘ herbeigezaubert und zur neuen Gefahr für die westliche Zivilisation erklärt. Menschen, die ihr Leben lang in Deutschland oder Belgien oder Schweden gelebt haben, hier geboren wurden, werden so immer wieder zu ‚Ausländern‘ gemacht. In Zeiten der Krise mit vielen anderen Schwarzköpfen und Kanaken willkürlich in einen Topf gesteckt. Und mit Labels versehen: Moslems, Islamisten, Terroristen. Egal, ob dies stimmt oder nicht.
Antworten werden dann in der ‚anderen Kultur‘ oder gar in den ‚anderen Genen‘ (wir erinnern uns an Thilo Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab) dieser internen Anderen, dieser nicht ganz so deutschen Deutschen oder nicht ganz so französischen Französ*innen gesucht.
Gegen Kulturalisierung und Rassismus
Und dagegen müssen wir uns entschieden wehren. Denn diese Argumentationen sind weder logisch noch ganzheitlich. Es werden einzelne Merkmale – wie die Religion – der Täter*innen rausgepickt und dann verallgemeinernd interpretiert. Dann werden diese Aktionen zu rein ‚islamistischen Anschlägen‘, zu einer Tat von wahlweise Verwirrten, Verrückten oder auch Fanatikern. Eine materialistische Analyse, eine Analyse davon, welche Verhältnisse diese jungen Menschen zu diesen Taten gebracht haben, wird so gut wie nie unternommen. Stattdessen wird der Unsinn der islamistischen Ideologie, zum Beispiel die Schuld der Ungläubigen, wiederholt. Hiermit wird übrigens auch den Täter*innen die Interpretationshoheit über die Anschläge gegeben.
Wir wissen, dass alle Religionen eine blutige Geschichtsspur haben. Wir wissen von keiner Religion, die sich friedlich verbreitet hätte. Von der katholischen Inquisition bis zum islamischen Kolonialismus. Wenn Religiöse sagen, „meine Religion ist die Religion des Friedens“, so erkennen sie nicht alle Aspekte ihrer Religion(-sgeschichte) an. Jedoch: noch absurder ist es, Gewalt und Unterdrückung in die Richtung nur einer Religionsgemeinschaft schieben zu wollen. Dies passiert zwar in alle Richtungen, jedoch hat der Westen mit seiner auf dem Christentum basierenden demokratisch-marktliberalen Zivilisation hier eine besondere Deutungshoheit. Das heißt, dass imperialistische Länder wie die USA, Deutschland, England und Frankreich einen besonderen Zugang zu Medien und weiteren Bildungsorganen (wie Geldflüsse für wissenschaftliche Forschung) haben und somit stärker als zum Beispiel Kuba oder Marokko bestimmen können, was als ‚richtiges, objektives Wissen‘ gilt. Und genau deswegen steht vor allem der Islam, meist als Ganzes, am Pranger. Menschen zum Beispiel in Lateinamerika fürchten bereits ‚die Muslime‘, die sie nur aus Fernsehsendungen wie 24 – einer US-amerikanischen Produktion – kennen. Verdrehter geht es kaum!
Uns geht es also darum zu erklären, wie es sein kann, dass junge, in Frankreich oder Belgien geborene und aufgewachsene Menschen, die sich in ihrer sozialen Position oft wenig von uns selbst unterscheiden, die zum Teil mit den gleichen Sprachen und Religionen aufgewachsen sind wie wir, die eine ähnlich dunkle Haut haben wie wir und ähnliche Kindheitserinnerungen mit uns teilen, von Gruppen wie Da’esh angezogen werden können. Gruppen die mindestens genauso schlimm in ‚wir‘ und ‚die Anderen‘ aufteilen wie die Mehrheit der westlichen Regierungen und Gesellschaften.
Den Spieß umdrehen
Es ist die entfremdete Situation junger, meist post-migrantischer, nicht-weißer Menschen in Europa und anderen westlichen Ländern wie Australien, den USA und Kanada, die sie zur Zielgruppe von religiösen Organisationen macht, die ihnen „Hier seid ihr willkommen!“, „Hier habt ihr einen Platz!“ zurufen. Wir erleben die tägliche Unterstützung westlicher Länder für Apartheid-Israel, wir wissen von der vergangenen kolonialen Unterdrückung der Länder, aus denen unsere Eltern migriert sind, die mit der offiziellen Dekolonialisierung nur ihre Erscheinungsform geändert hat und heute über diktatorische Puppenregimes oder das Diktat des Freihandels fortgeführt wird. Wir sehen die imperialistischen Kriege in den Heimaten unserer Familien und sehen keinen Raum, uns hierzu in der Schule auszutauschen, geschweige denn öffentlich zu trauern. Im Gegenteil, die Kriege werden von Parlament und Medien als ‚Verteidigung deutscher Werte‘ oder ‚Kampf gegen den Terror‘ verkauft. Wenn es mal deutsche, französische oder US-amerikanische Opfer gibt, dann muss die ganze Welt öffentlich trauern: „Entweder ihr seid mit uns, oder ihr seid gegen uns!“ heißt es dann. Diese Heuchelei ist nicht zu ertragen. Bei jedem Massaker in Palästina bleibt es Jugendlichen im Hals stecken, ihre Wut und ihr Entsetzen auszudrücken. Die Angst ist zu groß, von der deutschen Gesellschaft pauschal als ‚Antisemit‘ gebrandmarkt zu werden, nur weil mensch sich gegen Israels Aggressionen stellt – zuerst von den Mitschüler*innen und deren Eltern, dann von den Lehrer*innen und weiter von staatlichen Sozialarbeiter*innen und Psycholog*innen. Zu dünn ist das Eis, auf dem sich diese Jugendlichen bewegen: Wir sind zwar von hier, aber nicht wirklich zugehörig. Immer müssen wir uns anpassen. Immer müssen wir besser deutsch sprechen als die Deutschen. Und Hauptsache keinen Stress mit den Behörden haben! Immer Kopf runter.
Die älteren Generationen geben da schnell auf und ziehen sich in ihre familiären, religiösen oder nationalen Traditionen zurück. Die jugendlich-rebellische Haltung macht hier aber oft ab einem Punkt nicht mehr mit. Wir wehren uns. Nicht mehr Kopf runter sondern Kopf hoch. Und dann kommt Trotz ins Spiel. Da wird eine Religion für alles Böse verantwortlich gemacht. Dann sage ich, sie ist nur gut und richtig. Und zwar alles an ihr. Da werden Schwarzköpfe überproportional mehr als Weiße auf Drogen gefilzt. Na gut – dann ticke ich als Kanake erst recht Drogen und beweise euch, dass euer System nicht funktioniert. Dass ihr mich nicht drankriegt! Da gaukelt uns die bürgerliche Ideologie ständig vor, mit Fleiß und Respekt vor dem Gesetz könnten wir alles schaffen, dabei sind die Reichen in Wirklichkeit entweder reich geboren oder Kriminelle. Im Fernsehen und in der Schule tun aber alle so als wären nur wir Kanaken kriminell. Okay, dann werde ich halt auch kriminell und komme so an das Geld, das Bonzenkinder so selbstverständlich von ihren Eltern bekommen. Wenn alle Hijab-tragenden jungen Frauen als ‚unterdrückt‘ dargestellt werden, ziehe ich mir jetzt erst Recht ein Tuch übern Kopf und zeige euch, wie selbstbestimmt ich bin! Egal, ob ich verstanden habe, was der Sinn des Hijab ist oder nicht. So werden post-migrantische Kids dazu genötigt, sich in Schubladen irgendwie zurechtzufinden bzw. dieses reaktionäre Schubladendenken zu wiederholen.
Wo mitmachen?
Ja, es gibt in Europa Kanaken, die, beeinflusst von reaktionären Ideologien und Werten, dem Mythos des ‚christlichen Abendlandes‘ feindlich gegenüber stehen. Die gleichen Menschen sind aber genau so sehr von den bürgerlichen Werten des Kapitalismus geprägt: von der Warengesellschaft, von Chauvinismus, Nationalismus, Rassismus, Sexismus, Individualismus und dem Hass gegen die Armen. Die angeblich moralisch überlegene westliche Staatengemeinschaft ist keinen Deut besser als die reaktionären Gruppen, die sie hervorbringt. Was ist also zu tun?
In solchen Fragen stehen junge Menschen oft allein. Denn in diesem Kontext hat auch die politische Linke in Europa versagt. Die migrantische Linke, bestehend aus der Elterngeneration oder neu Exilierten, arbeitet wahlweise zu Kurdistan, der Türkei, dem Iran oder zu Chile. Sie sammelt Gelder und geht mit ein paar Dutzend Menschen regelmäßig vor die entsprechenden Botschaften. Die hier geborene oder hier aufgewachsene Generation erreicht sie kaum. Zu wenig schafft sie es, die Verhältnisse dort mit den Verhältnissen, also den Problemen hier in Verbindung zu bringen. Jedoch, erst wenn dies geschafft ist, können wir eine breite Bewegung der nicht-weißen Arbeiter*innenklasse in Deutschland, Frankreich oder Belgien aufbauen. Erst wenn wir verstehen, was wir aus unterschiedlichen Kämpfen in anderen Kontexten – Indien, Libanon, Algerien, Peru – für die Veränderung unserer eigenen unmittelbaren Realität lernen können, werden wir uns als Internationalist*innen nachhaltig aufstellen können.
Und wieso geschah das nun alles in Paris?
Zurück zu den Anschlägen: Wir verstehen, dass der Zulauf von jugendlichen meist post-migrantischen Menschen sowie jungen westlichen Konvertit*innen zu Gruppen wie Da’esh eine Antwort auf die unbeantworteten Fragen einer ganzen Generation ist, verloren zwischen Ausgrenzung und Chancenlosigkeit. So haben sich islamistische Gruppen die „Verdammten dieser Erde“, wie der martiniquanische Psychoanalytiker Frantz Fanon einst die Arbeiter*innen und Bäuer*innen der kolonisierten Völker der Dritten Welt bezeichnete, bzw. die „Verdammten aus Europa“ ausgesucht, um ihre mörderische Ideologie als reale Alternative zum gleichsam mörderischem Kapitalismus darzustellen. Im Wissen um die Perspektivlosigkeit vieler dieser jungen Menschen wird diesen neben materiellem Reichtum eine angeblich ganzheitlich ‚reine‘ Lebensweise versprochen. Auf Erden wie im Jenseits. Und da sich sonst keine*r um sie schert, scheint dies eine akzeptable Lösung der eigenen Probleme.
Weinen bringt nichts!
Hier müssen wir ansetzten! Jungen proletarischen Menschen, nicht-weiß und weiß, Alternativen gesellschaftlicher Kritik und Veränderung anbieten. Modelle, die Gemeinsamkeiten und Solidarität aus einer antinationalistischen und internationalistischen Perspektive betonen und gleichzeitig Analysen zu gesellschaftlicher Ungerechtigkeit aufzeigen, die überzeugen. Eine gemeinsame Organisierung ihrer Entfremdung entgegensetzen. Solidarität und Kampf gegen Depression und Verzweiflung.
Die Gesellschaft revolutionieren
Wir wollen eine Gesellschaft ohne Rassismus. Wir wollen eine Gesellschaft, in der Menschen nicht mehr so ein Leid ertragen müssen, dass sie sich dies mit etwas Überirdischem wie Gott erklären müssen, dass sie das Leben nach dem Tod schnellstmöglich erwarten, weil das Leben im hier und jetzt so schrecklich ist.
Um Verhältnisse wie Rassismus und Sexismus, also die Zuschreibung von unveränderbaren Merkmalen aufgrund von Herkunft, Aussehen oder Geschlecht zu bekämpfen, müssen wir zuerst verstehen, wie diese entstehen. Erst wenn wir verstanden haben, dass weiße Menschen nicht irgendwie rassistisch geboren werden oder Männer immer und überall frauenfeindlich sein müssen, sondern Menschen immer von anderen Menschen geformt, also sozialisiert werden und sich dementsprechend auch verändern können; erst wenn wir verstanden haben, wie imperialistische Kriege mit dem Rassismus auf unseren Straßen zusammenhängen; erst wenn wir verstanden haben, warum wir immer arbeiten sollen und uns in unserer Freizeit bloß nicht kritisch mit unserer eigenen Umgebung auseinandersetzen sollen; erst dann können wir anfangen, ein revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln.
Und revolutionär muss es sein, denn eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung ist mit der kapitalistischen Gesellschaft nicht vereinbar. Diese existiert allein zum Zweck der privaten Aneignung von gesellschaftlicher Arbeit. Ihre Grundpfeiler und Institutionen wie das Privateigentum, der Nationalstaat, Konzerne, Gefängnisse, Polizei und Militär, Behörden und Schulen, werden immer wieder diese Ungerechtigkeit produzieren, wenn wir sie nicht daran hindern.
Karl Marx und Friedrich Engels, zwei für uns wichtige deutsche Philosophen, die den Großteil ihres Lebens im englischen Exil gelebt haben, schreiben in ihrem Text Kritik der neusten deutschen Ideologie in ihren Repräsentanten B. Bauer und Stirner von 1846 bereits, dass Kommunist*innen
„die Basis alles Bestehenden [umwälzen wollen], […] nämlich einerseits die vorhandnen Produktivkräfte, andererseits die Bildung einer revolutionären Masse, die nicht nur gegen einzelne Bedingungen der bisherigen Gesellschaft, sondern gegen die bisherige „Lebensproduktion“ selbst, die „Gesamttätigkeit“, worauf sie basiert, revolutioniert“.2
Wir wollen das bestehende System umwerfen!
Wir wollen mit allen Menschen gleichberechtigt leben!
Wir wollen diese „Gesamttätigkeit“ von der Basis auf revolutionieren!
Dafür wollen wir uns mit Menschen vernetzen. Wir wollen in den verschiedenen Communities unserer Gesellschaft selber Antworten auf unsere vielfältigen Probleme finden und nicht auf irgendeine neue lügende Parlamentspartei warten, die dann wieder nur die Interessen der Reichen vertritt!
Yalla!
1 Siehe einige Stimmen aus Molenbeek, die genau dies kritisieren (auf Englisch): A message from Molenbeek: ‚We are not terrorists‘, http://www.aljazeera.com/indepth/features/2015/11/message-molenbeek-terrorists-151119073154697.html.
2 aus: Marx/Engels: Kritik der neusten deutschen Ideologie in ihren Repräsentanten B.Bauer und Stirner, MEG, Seite 38-39.
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