Ein großes Erlebnis war für uns dort die Teilnahme an einer öffentlichen Versammlung der kommunistischen Jugend. An den Beratungen mit den in Paris befindlichen Genossen der Leitung des KJVD war nur Werner Steinbrink beteiligt
Gespräch mit Heinz Gerhardt am 22. Mai 1997
Herr Dr. Gossweiler, ich weiß aus Ihrer Biographie, dass Sie schon als Schüler politisch organisiert waren. Das ist ja vom heutigen Standpunkt aus ziemlich ungewöhnlich. Würden Sie bitte am Anfang etwas sagen zu der Art dieser Organisation und auch zu der Frage, ob es auch andere Schülerorganisationen damals schon gegeben hat, mit anderen politischen Richtungen?
Vielleicht sollte ich gleich sagen, dass diese frühe politische Organisiertheit mit meinem Elternhaus zu tun hat. Meine Mutter Lena Reichle und ihr zweiter Mann, Adolf Reichle, waren beide 1927 in die KPD eingetreten und von Stuttgart nach Berlin gezogen. Ich bin als zehn-jähriger Junge mit meiner sieben Jahre jüngeren Schwester 1928 nachgeholt worden, solange waren wir von einer Bekannten meiner Eltern betreut worden. Wir wurden als Kinder natürlich im kommunistischen Sinne erzogen. In Stuttgart hatte ich die Waldorfschule besucht. In Berlin kam ich zunächst in die 53./54. Gemeindeschule, eine weltliche Schule, ohne Religionsunterricht, in eine Klasse mit meinem späteren Freund und Genossen Werner Steinbrink. Er wurde 1942 zusammen mit Mitkämpfern der Herbert-Baum-Gruppe von den Faschisten durch das Fallbeil hingerichtet. Beide, Werner und ich, gingen 1931 von dieser Schule zur Karl-Marx-Schule in Neukölln, die von dem sozialdemokratischen Schulreformer Fritz Karsen geleitet wurde. An dieser Schule traten wir beide der kommunistischen Schülerorganisation, dem SSB (Sozialistischer Schüler-Bund), bei.
Andere Schülerorganisationen gab es nicht an Ihrer Schule?
Mir ist nur noch bekannt, dass es außer unserer noch die sozialdemokratische Schülergemeinschaft (SSG) gab.
Und wann haben Sie unter welchen Umständen Abitur gemacht?
Wir waren ja leider nur zwei Jahre an der Karl-Marx-Schule (KMS), dann kam der 30. Januar 1933. Die KMS war eine Schule im Arbeiterbezirk Neukölln, die Arbeiterkindern die Möglichkeit gab, das Abitur zu erwerben. Sie war also kein Gymnasium, sondern eine „Aufbauschule“. Diese Schule war für mein weiteres Leben in mancherlei Hinsicht wichtig, nicht zuletzt deshalb, weil ich dort meine spätere Frau kennengelernt habe, wir waren in der gleichen Klasse.
1934 oder 1935 gingen dann viele meiner Klassenkameraden von der Schule mit dem „Ein-jährigen“ ab, auch Werner Steinbrink und Edith Evers, meine Freundin und spätere Frau. Ich blieb bis zum Abitur 1937. …
In welcher Weise haben Sie selbst sich am antifaschistischen Kampf beteiligt?
Nach 1933 fiel unsere SSB-Schülergruppe auseinander, weil die meisten Genossen von der Schule abgingen. Zusammen blieben als Gruppe, die dann vom KJVD, dem Kommunistischen Jugendverband, übernommen wurde, der natürlich auch nur noch illegal arbeiten konnte, die Genossen, die in Neukölln und Kreuzberg wohnten. Dazu gehörte an erster Stelle Werner Steinbrink. Der Leiter des Unterbezirks Südost, zu dem wir gehörten, war Herbert Ansbach, vier Jahre älter als wir und bis 1933 Leiter des Sozialistischen Schülerbundes. Wir kamen regelmäßig zusammen, um Informationen auszutauschen, gemeinsam Radio Moskau zu hören, uns theoretisch weiter zu schulen und Aktionen vorzubereiten; dazu gehörte es 1933 noch, Parolen auf die Straßen und an Wände zu malen und Flugblätter – solche, die wir vom Unterbezirk bekamen, aber auch selbst verfasste und hergestellte – zu verbreiten, ebenfalls illegale Zeitungen und Flugschriften.
Zu unserer Neuköllner Gruppe kamen dann ältere Genossen hinzu, richtiger: wir wurden in ihre schon bestehende Gruppe aufgenommen. In besonders lebendiger Erinnerung sind mir Werner Schaumann und seine Frau Friedel.
Ein Höhepunkt für mich war eine Tramptour in den Sommerferien 1934 zu einem kommunistischen Jugendtreffen in Paris, an der von unserer Gruppe Werner Steinbrink, Georg Barkowski und ich teilnahmen. Noch in Berlin waren drei Jugendgenossen der KPO (Kommunistische Partei/Opposition, Brandler-Richtung) zu uns gestoßen. Ihr Leiter war Fritz Rabinowitsch, der später beim Versuch, illegal die Grenze zur Tschechoslowakei zu überqueren, von den Nazis ermordet wurde. Wir nahmen den Weg über das damals noch unter Völkerbundskontrolle stehende Saargebiet, weil von dort der Grenzübergang von Deutschland und nach Frankreich relativ leicht zu bewerkstelligen war. Das war wichtig, weil nur drei von uns sechsen einen gültigen Pass hatten. Von Saarbrücken sind wir nach Forbach, wo, wie wir wussten, Erich Weinert und seine Frau wohnten, von wo aus sie tatkräftig am Kampf für den Status quo bei der für den Januar 1935 angesetzten Saarabstimmung teilnahmen. Natürlich ließen wir uns die Gelegenheit nicht entgehen, Erich Weinert zu besuchen, der uns mit großer Freude empfing. Am 15. Juli trafen wir in Paris ein und wurden von den französischen Jugendgenossen herzlich empfangen.
Ein großes Erlebnis war für uns dort die Teilnahme an einer öffentlichen Versammlung der kommunistischen Jugend. An den Beratungen mit den in Paris befindlichen Genossen der Leitung des KJVD war nur Werner Steinbrink beteiligt. Bis zum 26. Juli blieben wir in Paris, dann ging es auf die gleiche Weise wieder nach Berlin.
Ihrer Biographie habe ich entnommen, dass Sie Verbindung zur Herbert-Baum-Gruppe hatten. Ich würde Sie gerne genauer befragen, wie die Verbindung zu dieser Gruppe zustande gekommen ist und welche Aktivitäten sich da abgespielt haben.
Die Baum-Gruppe, wie sie aus der Literatur bekannt ist, war das erzwungene Ergebnis der faschistischen Rassengesetze. Herbert Baum war Kommunist und mit Werner Steinbrink leitend im illegalen KJVD, in der Leitung des Unterbezirkes Süd-Ost, tätig. Durch die Nürnberger Gesetze und die nachfolgende immer unmenschlicher werdende Ghettoisierung der jüdischen Deutschen blieb den jüdischen Kommunisten, wollten sie der Gestapo nicht deren Bemühungen erleichtern, die illegalen kommunistischen Organisationen aufzurollen, nur ein im wesentlichen auf die jüdischen Leidensgenossen beschränkter Raum für politische Arbeit. Herbert Baum blieb zwar in Kontakt mit den nach Nazi-Sprachgebrauch „arischen“ Genossen, scharte aber vor allem jüdische Jugendliche um sich. Jeder, der sich darüber näher orientieren will, kann das in dem Buch von Margot Pikarski: Jugend im Berliner Widerstand, Berlin 1984, tun.
Ich kannte Herbert Baum nicht. Solange ich in Berlin war – im März 1939 wurde ich zum Arbeitsdienst eingezogen, von da aus im Oktober 1939 gleich zur Wehrmacht, sowohl im Arbeitsdienst wie beim Kommiss weit weg von Berlin, in Pommern –, wusste ich auch nichts von der Gruppe, die Herbert Baum um sich gesammelt hatte.
Im Herbst 1942 erhielt ich aber durch meine Schwester in einem Feldpostbrief die Nachricht, dass Werner Steinbrink hingerichtet worden sei. Die näheren Umstände erfuhr ich jedoch erst, als ich im November 1942 zum ersten Male seit dem Überfall auf die Sowjetunion Heimaturlaub bekam. Ich hatte Werners Mutter aufgesucht, und sie erzählte mir, was vorgefallen war, soweit sie es kannte. Ich besuchte auch die Mutter von Werner Schaumann. Auch er und seine Frau Friedel waren im Zusammenhang mit der Verfolgung der Baum-Gruppe verhaftet worden. Friedel hatte nach der Verhaftung Gift genommen, das sie als Arzt-Assistentin sich besorgt hatte, Werner war aber noch am Leben, sein Prozess, in dem er dann auch zum Tode verurteilt wurde, stand noch bevor. Erst durch die beiden Mütter erfuhr ich von der Aktion, die zu den Verhaftungen geführt hatte; das war der Brandanschlag der Baum-Gruppe auf die nazistische Hetzausstellung gegen die Sowjetunion, die im Lustgarten im Mai 1942 aufgebaut worden war.
Die Ermordung meiner Genossen und das faktische Ende unserer Organisation führte bei mir den Entschluss herbei, nach Rückkehr an die Front zur Roten Armee überzulaufen.
Ich möchte zu unserer Tätigkeit bis zu meiner Einbeziehung zum RAD (Reichsarbeitsdienst) im Frühjahr 1939 noch nachtragen: Bis 1935 haben wir die Verbreitung von Agitationsmaterialien, Flugblättern, illegalen Zeitungen, das Anbringen von Klebezetteln mit Anti-Nazi-Parolen, noch relativ stark betrieben. Ab 1935 waren aber die Methoden der Nazis zur Verfolgung und Aufdeckung solcher Aktivitäten, war auch die Gefahr der Denunziation so viel größer geworden, dass wir solche Aktivitäten sehr einschränken und um vieles besser absichern mussten. Wir warfen die Flugblätter und illegalen Zeitungen nicht mehr in die Briefkästen in den Häusern, sondern verschickten sie per Post an Adressen, die wir aus den Telefonbüchern heraussuchten. So verbreiteten wir auch ein Flugblatt gegen das Nazi-Pogrom vom 9. November 1938 (die so genannte Kristallnacht), das ich damals auf Aufforderung von Werner Steinbrink entworfen hatte.
In der Gruppe hatten wir uns auch schon vor der Entfesselung des Krieges durch Hitlerdeutschland Gedanken darüber gemacht, wie wir uns im Falle eines Überfalles Deutschlands auf die Sowjetunion verhalten würden, ob wir überlaufen oder nicht. Damals und auch noch 1940 – als ich von Oktober 1940 bis April 1941 Urlaub zur Fortsetzung meines Studiums erhielt und natürlich wieder den Kontakt zu den Genossen aufnahm – waren wir fest davon überzeugt, dass dieser Zweite von Deutschland entfesselte Weltkrieg noch viel sicherer als der Erste mit einer Revolution enden würde und dass wir dann in Deutschland gebraucht würden. Deshalb wollten wir in der deutschen Armee bleiben und in der Regel nicht überlaufen.
Im November 1942, nach der Ermordung meiner Genossen, war die Situation für mich plötzlich ganz anders. Ich fühlte mich sehr allein und isoliert und dachte, auf deutscher Seite würde ich allein und ohne Organisation kaum noch gegen die Nazis und ihren Krieg wirksam werden können, das aber könnte ich dagegen in vollem Maße auf der Seite der Roten Armee. Ich habe mich deshalb noch während dieses Urlaubes entschlossen, die erste günstige Gelegenheit zum Überlaufen wahrzunehmen.
Das habe ich auch meiner Mutter und meiner damaligen Verlobten und späteren Frau gesagt, damit sie wissen, wenn von mir keine Post mehr kommt, dass mir der Übertritt gelungen ist.
Wie ging denn dieser Seitenwechsel vonstatten, das war doch sicher gar nicht so einfach?
Nein, ganz und gar nicht. Aber mir kam der Zufall zu Hilfe. Der Zufall war eine Verwundung, ein „Heimatschuss“, während einer Großoffensive der Roten Armee bei Staraja Russa, wo die Einheit lag, in der ich war. Das war am 14. März 1943. Zusammen mit anderen Verwundeten machte ich mich auf den Weg zum rückwärtigen Verbandsplatz. Auf dem Wege dorthin kamen wir an einer Schützenkompanie vorbei, die einen besonders forschen Offizier hatte. Als der unseren Trupp sah, hielt er mich an und wollte mir befehlen, bei seiner Kompanie zu bleiben und mitzukämpfen. Die anderen Verwundeten hatten sichtbare Arm- oder Beinverwundungen, ich hatte einen nicht erkennbaren Einschuss zwischen den Schulterblättern, sah also äußerlich unverletzt aus. Bis ich ihm klargemacht hatte, dass meine Verwundung nicht weniger schwer war als die der anderen Kameraden, waren die anderen schnell weitergegangen und außer Sichtweite. Ich setzte also meinen Weg alleine fort. Plötzlich bemerkte ich in etwa 100 bis 200 Metern Entfernung eine sowjetische Patrouille, die parallel zu mir in der gleichen Richtung vorging. Sie hatten mich nicht bemerkt. Ich machte mich erst einmal unsichtbar, indem ich mich in den Schnee legte, und überlegte: „Mensch, du hast jetzt einen Heimatschuss und kannst vielleicht bald zu Hause sein. Du hast aber jetzt auch die Möglichkeit, auf die du so lange gewartet und die du herbeigesehnt hast: Du kannst hier auf die andere Seite, ohne Gefahr zu laufen, auf eine Mine zu treten oder von den deutschen Posten gesehen und abgeknallt zu werden; und genau so wichtig: Du gefährdest deine Mutter nicht, weil niemand sieht, dass du freiwillig übergehst – du bist einfach vermisst.“ Also stand ich auf und ging auf sie zu, die Arme erhoben und sie anrufend: „Ne strelat!“ (Nicht schießen!), wie es in den sowjetischen Flugblättern, die wir ab und zu gefunden haben, stand. Dadurch bemerkten sie mich erst, und ihr Truppführer war sehr überrascht und rief mir „Stoj!“ zu, trat zu mir heran, riss mir den Stahlhelm vom Kopf – mir war gar nicht bewusst, dass ich noch dieses martialische Ding aufhatte – und tastete mich nach einer Waffe ab, ich hatte aber keine. Ich setzte mein Käppi auf und fand das auch viel angemessener als den Stahlhelm.
Bald danach kam ein weiterer Rotarmist auf den Trupp zu, mit einer prall gefüllten Aktentasche unter dem Arm. Er gehörte offenbar zu diesem Stoßtrupp und hatte einen deutschen Unterstand und dort zurückgelassene Papiere gefunden. Von dem, was er seinen Genossen erzählte, verstand ich nur „Stab, Bataillon, Dokumente“. Er hatte also für die sowjetische Seite wichtige Dokumente erbeutet und war verständlicherweise darüber voller Freude. Dann fragte er, auf mich zeigend, etwas, und aus der Antwort seiner Genossen ist mir das Wort „Jasyk“ in Erinnerung geblieben, ohne dass ich wusste, was das bedeutet, denn Russisch lernte ich erst hinterher im sowjetischen Lazarett. Erst dann habe ich begriffen, dass ich damals für sie eine „Zunge“ (denn das bedeutete in der militärischen Sprache damals das Wort „Jasyk“, das ja zugleich auch „Sprache“ heißt) war. Und eine „Zunge“, das war eben einer, den man ausfragen konnte über die feindlichen Stellungen und Bewegungen. Nun hatte der Rotarmist nicht nur eine Aktentasche voller wertvoller Dokumente, sondern auch noch eine „Zunge“, was seine Freude sichtlich verdoppelte. Er hieß mich dann mit ihm zu kommen, den vorwärts marschierenden Sowjetsoldaten entgegen zur Ausgangslinie ihrer Offensive.
Als wir die erreicht hatten, kamen durch die vielen Rufe der Rotarmisten bei meinem Anblick – „Fritz“ und „Gans“ (die Russen sprechen anstelle von H immer G oder CH) – drei Offiziere aus einem Unterstand, der mehr ein Erdloch war, heraus, winkten meinen Rotarmisten zu sich und fragten ihn nach mir aus. Danach nahmen sie mich mit in ihren Unterstand zu meinem ersten Verhör auf sowjetischer Seite. Die ersten Fragen galten der Einheit, aus der ich käme, der Stellung dieser Einheit und ähnlichem. Einer von den dreien dolmetschte. Ich merkte ihm an, dass er mich für einen besonders dreisten Faschisten hielt, offenbar deshalb, weil ich keinerlei Furcht und Niedergeschlagenheit zeigte, sondern mich in einer für sie ganz unverständlichen Hochstimmung befand – war ich doch nun endlich auf eine so günstige Weise auf ihre Seite gelangt. Da sie aber keine Frage danach stellten, wie ich dahin gekommen war, habe ich mich auch gehütet, ihnen zu sagen, dass ich freiwillig gekommen war, hatte doch der Posten, der mich hierher gebracht hatte, das selbst nicht als Augenzeuge gesehen. Außerdem hatte ich an meinem Uniformrock doch zwei Ordensbänder – den von den Landsern ironisch „Hungerorden“ genannten „Winter-Orden“, den alle bekommen hatten, die bereits den Winter 1941/1942 an der Ostfront verbracht hatten, und das „EK II“, das „Eiserne Kreuz zweiter Klasse“, das ebenfalls alle in meiner Kompanie erhalten hatten, die vom ersten Tage des Überfalls auf die Sowjetunion an in der Einheit waren. In ihren Augen war ich sicher ein ganz besonders tüchtiger Nazisoldat, noch dazu Angehöriger einer Maschinengewehr-Kompanie, die aus nur zu berechtigtem Grunde bei ihnen besonders verhasst waren. Hätte ich ihnen jetzt erzählt, ich sei freiwillig gekommen, musste ich damit rechnen, dass sie dies für eine besonders freche und zugleich feige faschistische Schwindelei auffassten.
Nachdem die Fragen zu mir und meiner militärischen Einheit beendet waren, fragte mich der Kommissar, warum die Deutschen alle Juden umbringen. Als ich antwortete: „Das machen nicht die Deutschen, sondern die deutschen Faschisten“, wurde er noch zorniger und gab zurück: „Alle Deutschen sind Faschisten!“ Als ich dem widersprach, holte er seine Pistole heraus, legte sie sich flach auf die Hand und fragte: „Wissen Sie, was das ist?“ Unglücklicherweise war das keine sowjetische, sondern eine deutsche Pistole, also sagte ich: „Ja, eine deutsche Null Acht.“ Das brachte ihn noch mehr auf und überzeugte ihn sicher noch mehr davon, dass ich ein besonders eingefleischter Faschist sein musste. Woher sollten sie auch verstehen, weshalb ich in einer solchen glücklichen Hochstimmung war, in der mich nichts umwerfen konnte?
Das Verhör war beendet, es ging wieder raus aus dem Unterstand. „Mein“ Posten stand etwas abseits, und ein anderer Posten stand da, mit der Maschinenpistole im Anschlag. Der Kommissar wies mit dem Finger nach vorn und befahl mir: „Idi!“ (Geh!) Die Situation war eindeutig. Aber ich war zu ihnen gekommen, um mit ihnen gegen Hitler zu kämpfen, nicht, um als vermeintlicher Nazi umgelegt zu werden. Ich blieb deshalb stehen und sagte ihm, ich würde erst gehen, wenn er mir zusichert, dass mir nichts passieren würde. Er wurde nur noch zorniger und wiederholte mit gesteigerter Stimme: „Idi won!“ (Geh raus!) Auch das hat mich nicht aus meiner Gelassenheit gebracht. Ich sagte ihm jetzt: „Stalin hat gesagt, wenn ein deutscher Soldat sich ergibt, wird ihm nichts geschehen!“ Er war nun wirklich überrascht und wusste nicht mehr so recht, was er von mir halten sollte. Er wiederholte ein drittes Mal: „Idi!“ Nachdem ich aber nur noch einmal wiederholte, ich ginge erst, wenn er mir zusichert, dass mir nichts geschehen würde, sagte er mit veränderter, aber nachdrücklicher Stimme: „Sie werrdenn lebbenn!“ Das war sozusagen mein „Lebens-Urteil“. Er winkte nun „meinen“ Posten heran, gab dem anderen ein Zeichen, und wir konnten gehen. Wir gingen nicht sehr weit, bis ich etwas zu sehen bekam, was mir erst so richtig zum Bewusstsein brachte, dass es fast ein Wunder war, dass ich mit dem Leben davongekommen bin: Da war eine sowjetische Flakstellung gewesen. Noch vor meiner Verwundung hatte ich auf deutscher Seite gesehen, dass deutsche Sturzkampfbomber irgendeine sowjetische Stellung angriffen. Jetzt war ich an der Stelle und sah die Wirkung dieses Stuka-Angriffs: zerschmetterte Geschütze, Geschützrohre, umgeknickt wie aus Holz, und rund um die Geschütze auf der Erde die toten, zum Teil verbrannten Körper ihrer Mannschaften.
Das war also mein Weg auf die andere, die richtige Seite. Aber für sie war ich nichts anderes als ein „Wojennoplenni“, ein Kriegsgefangener. Zusammen mit anderen verwundeten deutschen Kriegsgefangenen wurde ich am nächsten Tag in ein Feldlazarett gebracht, vor dessen Zelten viele verwundete Sowjetsoldaten auf Tragen auf ihre Behandlung warteten. Als wir ankamen, wurden wir begreiflicherweise nicht gerade mit freundlichen Worten bedacht. Und als wir dann gar noch, ohne warten zu müssen, sofort vorrangig behandelt wurden, mussten sich die Ärzte und Pfleger von den sowjetischen Verwundeten wütende Flüche anhören. Ich aber konnte meinen deutschen Kameraden sagen: „Stellt euch das einmal auf einem deutschen Verbandsplatz mit sowjetischen Kriegsgefangenen vor!“ Sie reagierten darauf sehr still und nachdenklich.
Wir wurden dann schließlich in ein sowjetisches Lazarett auf einer Insel im Seeliger See gebracht und dort ausgeheilt. Dort habe ich mein stümperhaftes Russisch gelernt, indem ich mir von der sowjetischen Wachmannschaft ihre „Okopnaja gasetta“, ihre „Schützengraben-Zeitung“, geben ließ und mit Bildunterschriften und Texten allmählich die Bedeutung von immer mehr russischen Wörtern erriet. Auf diese Weise habe ich aus der Zeitung auch erfahren, dass von Genossen Emigranten und Kriegsgefangenen ein „Nationalkomitee Freies Deutschland“ gegründet worden war.
Als im Juli 1943 meine Wunde verheilt war, bot mir der jüdische Chefarzt – der sich mit größtem Eifer um die Heilung der deutschen Kriegsgefangenen bemüht hatte – an, bei ihm als Dolmetscher zu bleiben. Aber ich wollte zur antifaschistischen Arbeit in ein Kriegsgefangenenlager, und so kam ich in ein Arbeitslager bei Ostaschkow. Dort wurden wir zur Torfgewinnung eingesetzt.
Es gab da schon ein Antifa-Aktiv, und natürlich wollte ich sofort mitarbeiten. Aber dessen Vorsitzender, ein Österreicher namens Auracher, wies mich ab: „Mir hom Sperre.“ Als ich dann auf eigene Faust politische Arbeit unternahm, indem ich im Krankenbau, in den Werkstätten und Baracken nach Feierabend die neuesten Nachrichten aus den sowjetischen Zeitungen verlas, verbreitete Auracher bei der Lagerleitung und unter den Kameraden, ich sei in Deutschland ein Hitlerjugendführer und in der Wehrmacht Offizier gewesen. Er hatte aber bei der Lagerleitung damit deshalb keinen Erfolg, weil ich in meinen vielen Lebensberichten, die ich aufgrund seiner Lügen immer wieder abgeben musste, nachprüfbare Tatsachen anführen konnte, z.B., dass meine Eltern 1931 die beiden Kinder des kommunistischen Reichstagsabgeordneten Walter Stoecker für die Zeit, die er in der Sowjetunion war, aufgenommen hatten, und ferner, dass wir in Britz befreundet waren mit Erich Mühsam und seiner Frau Zenzl, von der ich wusste, dass sie über Prag in die Sowjetunion gegangen war. Im Oktober 1943 wurde ich dann zusammen mit einigen anderen – darunter auch Auracher – zur Zentralen Antifa-Schule nach Taliza geschickt. Dort hat Auracher wieder die gleichen Lügen über mich losgelassen, konnte aber nicht verhindern, dass ich zuerst als Kursant, dann als Assistent an dieser Schule bis Juli 1947 gearbeitet habe. Nach Kriegsende hat sich dann herausgestellt, dass er, dieser Auracher, ein österreichischer Heimwehrfaschist und Offizier der Wehrmacht war.
Die Jahre an dieser Schule gehören zu den wertvollsten meines Lebens. Hitler hat Millionen deutsche Soldaten in den imperialistischen Raubkrieg und in den Tod getrieben, um die Sowjetunion zu liquidieren. Die Sowjetunion hat dafür gesorgt, dass Hunderttausende von diesen ehemaligen Landsknechten des deutschen Faschismus als überzeugte Antifaschisten nach Deutschland zurückkehrten. Es ist ein gutes Gefühl, Gelegenheit gehabt zu haben, dabei mitzuhelfen.
Der Text wurde von Kurt Gossweiler überarbeitet.
Veröffentlicht in „Im Widerstand gegen das NS-Regime. Gespräche aus den Jahren 1997/98, Teil I.“ Hrsg. von der Berliner Vereinigung ehemaliger Teilnehmer am antifaschistischen Widerstand, Verfolgter des Naziregimes und Hinterbliebener (BV VdN) e.V. und dem Verein für angewandte Konfliktforschung (VAK) e.V., Berlin 2000
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