Samstag, 18. Juni 2016

Fragen zur illegalen Arbeit als Jungkommunist und zum Übertritt auf die Seite der Roten Armee

Ein großes Erlebnis war für uns dort die Teilnahme an einer öffentlichen Versammlung der kommunistischen Jugend. An den Beratungen mit den in Paris befindlichen Genossen der Leitung des KJVD war nur Werner Steinbrink beteiligt

Gossweiler_kurt

Gespräch mit Heinz Ger­hardt am 22. Mai 1997
Herr Dr. Goss­wei­ler, ich weiß aus Ih­rer Bio­gra­phie, dass Sie schon als Schüler po­li­tisch or­ga­ni­siert wa­ren. Das ist ja vom heu­ti­gen Stand­punkt aus ziem­lich un­gewöhn­lich. Würden Sie bit­te am An­fang et­was sa­gen zu der Art die­ser Or­ga­ni­sa­ti­on und auch zu der Fra­ge, ob es auch an­de­re Schüler­or­ga­ni­sa­tio­nen da­mals schon ge­ge­ben hat, mit an­de­ren po­li­ti­schen Rich­tun­gen?
Viel­leicht soll­te ich gleich sa­gen, dass die­se frühe po­li­ti­sche Or­ga­ni­siert­heit mit mei­nem El­tern­haus zu tun hat. Mei­ne Mut­ter Lena Reich­le und ihr zwei­ter Mann, Adolf Reich­le, wa­ren bei­de 1927 in die KPD ein­ge­tre­ten und von Stutt­gart nach Ber­lin ge­zo­gen. Ich bin als zehn-jähri­ger Jun­ge mit mei­ner sie­ben Jah­re jünge­ren Schwes­ter 1928 nach­ge­holt wor­den, so­lan­ge wa­ren wir von ei­ner Be­kann­ten mei­ner El­tern be­treut wor­den. Wir wur­den als Kin­der natürlich im kom­mu­nis­ti­schen Sin­ne er­zo­gen. In Stutt­gart hat­te ich die Wal­dorf­schu­le be­sucht. In Ber­lin kam ich zunächst in die 53./​54. Ge­mein­de­schu­le, eine welt­li­che Schu­le, ohne Re­li­gi­ons­un­ter­richt, in eine Klas­se mit mei­nem späte­ren Freund und Ge­nos­sen Wer­ner Stein­brink. Er wur­de 1942 zu­sam­men mit Mitkämp­fern der Her­bert-Baum-Grup­pe von den Fa­schis­ten durch das Fall­beil hin­ge­rich­tet. Bei­de, Wer­ner und ich, gin­gen 1931 von die­ser Schu­le zur Karl-Marx-Schu­le in Neukölln, die von dem so­zi­al­de­mo­kra­ti­schen Schul­re­for­mer Fritz Kar­sen ge­lei­tet wur­de. An die­ser Schu­le tra­ten wir bei­de der kom­mu­nis­ti­schen Schüler­or­ga­ni­sa­ti­on, dem SSB (So­zia­lis­ti­scher Schüler-Bund), bei.
An­de­re Schüler­or­ga­ni­sa­tio­nen gab es nicht an Ih­rer Schu­le?
Mir ist nur noch be­kannt, dass es außer un­se­rer noch die so­zi­al­de­mo­kra­ti­sche Schüler­ge­mein­schaft (SSG) gab.
Und wann ha­ben Sie un­ter wel­chen Umständen Ab­itur ge­macht?
Wir wa­ren ja lei­der nur zwei Jah­re an der Karl-Marx-Schu­le (KMS), dann kam der 30. Ja­nu­ar 1933. Die KMS war eine Schu­le im Ar­bei­ter­be­zirk Neukölln, die Ar­bei­ter­kin­dern die Möglich­keit gab, das Ab­itur zu er­wer­ben. Sie war also kein Gym­na­si­um, son­dern eine „Auf­bau­schu­le“. Die­se Schu­le war für mein wei­te­res Le­ben in man­cher­lei Hin­sicht wich­tig, nicht zu­letzt des­halb, weil ich dort mei­ne spätere Frau ken­nen­ge­lernt habe, wir wa­ren in der glei­chen Klas­se.
1934 oder 1935 gin­gen dann vie­le mei­ner Klas­sen­ka­me­ra­den von der Schu­le mit dem „Ein-jähri­gen“ ab, auch Wer­ner Stein­brink und Edith Evers, mei­ne Freun­din und spätere Frau. Ich blieb bis zum Ab­itur 1937. …
In wel­cher Wei­se ha­ben Sie selbst sich am an­ti­fa­schis­ti­schen Kampf be­tei­ligt?
Nach 1933 fiel un­se­re SSB-Schüler­grup­pe aus­ein­an­der, weil die meis­ten Ge­nos­sen von der Schu­le ab­gin­gen. Zu­sam­men blie­ben als Grup­pe, die dann vom KJVD, dem Kom­mu­nis­ti­schen Ju­gend­ver­band, über­nom­men wur­de, der natürlich auch nur noch il­le­gal ar­bei­ten konn­te, die Ge­nos­sen, die in Neukölln und Kreuz­berg wohn­ten. Dazu gehörte an ers­ter Stel­le Wer­ner Stein­brink. Der Lei­ter des Un­ter­be­zirks Südost, zu dem wir gehörten, war Her­bert Ans­bach, vier Jah­re älter als wir und bis 1933 Lei­ter des So­zia­lis­ti­schen Schüler­bun­des. Wir ka­men re­gelmäßig zu­sam­men, um In­for­ma­tio­nen aus­zu­tau­schen, ge­mein­sam Ra­dio Mos­kau zu hören, uns theo­re­tisch wei­ter zu schu­len und Ak­tio­nen vor­zu­be­rei­ten; dazu gehörte es 1933 noch, Pa­ro­len auf die Straßen und an Wände zu ma­len und Flugblätter – sol­che, die wir vom Un­ter­be­zirk be­ka­men, aber auch selbst ver­fass­te und her­ge­stell­te – zu ver­brei­ten, eben­falls il­le­ga­le Zei­tun­gen und Flug­schrif­ten.
Zu un­se­rer Neuköll­ner Grup­pe ka­men dann älte­re Ge­nos­sen hin­zu, rich­ti­ger: wir wur­den in ihre schon be­ste­hen­de Grup­pe auf­ge­nom­men. In be­son­ders le­ben­di­ger Er­in­ne­rung sind mir Wer­ner Schau­mann und sei­ne Frau Frie­del.
Ein Höhe­punkt für mich war eine Tramp­tour in den Som­mer­fe­ri­en 1934 zu ei­nem kom­mu­nis­ti­schen Ju­gend­tref­fen in Pa­ris, an der von un­se­rer Grup­pe Wer­ner Stein­brink, Ge­org Bar­kow­ski und ich teil­nah­men. Noch in Ber­lin wa­ren drei Ju­gend­ge­nos­sen der KPO (Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei/​Op­po­si­ti­on, Brand­ler-Rich­tung) zu uns ges­toßen. Ihr Lei­ter war Fritz Ra­bi­no­witsch, der später beim Ver­such, il­le­gal die Gren­ze zur Tsche­cho­slo­wa­kei zu über­que­ren, von den Na­zis er­mor­det wur­de. Wir nah­men den Weg über das da­mals noch un­ter Völker­bunds­kon­trol­le ste­hen­de Saar­ge­biet, weil von dort der Grenzüber­gang von Deutsch­land und nach Frank­reich re­la­tiv leicht zu be­werk­stel­li­gen war. Das war wich­tig, weil nur drei von uns sech­sen ei­nen gülti­gen Pass hat­ten. Von Saarbrücken sind wir nach For­bach, wo, wie wir wuss­ten, Erich Wei­nert und sei­ne Frau wohn­ten, von wo aus sie tat­kräftig am Kampf für den Sta­tus quo bei der für den Ja­nu­ar 1935 an­ge­setz­ten Saarab­stim­mung teil­nah­men. Natürlich ließen wir uns die Ge­le­gen­heit nicht ent­ge­hen, Erich Wei­nert zu be­su­chen, der uns mit großer Freu­de emp­fing. Am 15. Juli tra­fen wir in Pa­ris ein und wur­den von den französi­schen Ju­gend­ge­nos­sen herz­lich emp­fan­gen.
Ein großes Er­leb­nis war für uns dort die Teil­nah­me an ei­ner öffent­li­chen Ver­samm­lung der kom­mu­nis­ti­schen Ju­gend. An den Be­ra­tun­gen mit den in Pa­ris be­find­li­chen Ge­nos­sen der Lei­tung des KJVD war nur Wer­ner Stein­brink be­tei­ligt. Bis zum 26. Juli blie­ben wir in Pa­ris, dann ging es auf die glei­che Wei­se wie­der nach Ber­lin.
Ih­rer Bio­gra­phie habe ich ent­nom­men, dass Sie Ver­bin­dung zur Her­bert-Baum-Grup­pe hat­ten. Ich würde Sie ger­ne ge­nau­er be­fra­gen, wie die Ver­bin­dung zu die­ser Grup­pe zu­stan­de ge­kom­men ist und wel­che Ak­ti­vitäten sich da ab­ge­spielt ha­ben.
Die Baum-Grup­pe, wie sie aus der Li­te­ra­tur be­kannt ist, war das er­zwun­ge­ne Er­geb­nis der fa­schis­ti­schen Ras­sen­ge­set­ze. Her­bert Baum war Kom­mu­nist und mit Wer­ner Stein­brink lei­tend im il­le­ga­len KJVD, in der Lei­tung des Un­ter­be­zir­kes Süd-Ost, tätig. Durch die Nürn­ber­ger Ge­set­ze und die nach­fol­gen­de im­mer un­mensch­li­cher wer­den­de Ghet­toi­sie­rung der jüdi­schen Deut­schen blieb den jüdi­schen Kom­mu­nis­ten, woll­ten sie der Ge­sta­po nicht de­ren Bemühun­gen er­leich­tern, die il­le­ga­len kom­mu­nis­ti­schen Or­ga­ni­sa­tio­nen auf­zu­rol­len, nur ein im we­sent­li­chen auf die jüdi­schen Lei­dens­ge­nos­sen be­schränk­ter Raum für po­li­ti­sche Ar­beit. Her­bert Baum blieb zwar in Kon­takt mit den nach Nazi-Sprach­ge­brauch „ari­schen“ Ge­nos­sen, schar­te aber vor al­lem jüdi­sche Ju­gend­li­che um sich. Je­der, der sich darüber näher ori­en­tie­ren will, kann das in dem Buch von Mar­got Pi­kar­ski: Ju­gend im Ber­li­ner Wi­der­stand, Ber­lin 1984, tun.
Ich kann­te Her­bert Baum nicht. So­lan­ge ich in Ber­lin war – im März 1939 wur­de ich zum Ar­beits­dienst ein­ge­zo­gen, von da aus im Ok­to­ber 1939 gleich zur Wehr­macht, so­wohl im Ar­beits­dienst wie beim Kom­miss weit weg von Ber­lin, in Pom­mern –, wuss­te ich auch nichts von der Grup­pe, die Her­bert Baum um sich ge­sam­melt hat­te.
Im Herbst 1942 er­hielt ich aber durch mei­ne Schwes­ter in ei­nem Feld­post­brief die Nach­richt, dass Wer­ner Stein­brink hin­ge­rich­tet wor­den sei. Die nähe­ren Umstände er­fuhr ich je­doch erst, als ich im No­vem­ber 1942 zum ers­ten Male seit dem Über­fall auf die So­wjet­uni­on Hei­mat­ur­laub be­kam. Ich hat­te Wer­ners Mut­ter auf­ge­sucht, und sie erzählte mir, was vor­ge­fal­len war, so­weit sie es kann­te. Ich be­such­te auch die Mut­ter von Wer­ner Schau­mann. Auch er und sei­ne Frau Frie­del wa­ren im Zu­sam­men­hang mit der Ver­fol­gung der Baum-Grup­pe ver­haf­tet wor­den. Frie­del hat­te nach der Ver­haf­tung Gift ge­nom­men, das sie als Arzt-As­sis­ten­tin sich be­sorgt hat­te, Wer­ner war aber noch am Le­ben, sein Pro­zess, in dem er dann auch zum Tode ver­ur­teilt wur­de, stand noch be­vor. Erst durch die bei­den Mütter er­fuhr ich von der Ak­ti­on, die zu den Ver­haf­tun­gen geführt hat­te; das war der Brand­an­schlag der Baum-Grup­pe auf die na­zis­ti­sche Hetz­aus­stel­lung ge­gen die So­wjet­uni­on, die im Lust­gar­ten im Mai 1942 auf­ge­baut wor­den war.
Die Er­mor­dung mei­ner Ge­nos­sen und das fak­ti­sche Ende un­se­rer Or­ga­ni­sa­ti­on führte bei mir den Ent­schluss her­bei, nach Rück­kehr an die Front zur Ro­ten Ar­mee über­zu­lau­fen.
Ich möchte zu un­se­rer Tätig­keit bis zu mei­ner Ein­be­zie­hung zum RAD (Reichs­ar­beits­dienst) im Frühjahr 1939 noch nach­tra­gen: Bis 1935 ha­ben wir die Ver­brei­tung von Agi­ta­ti­ons­ma­te­ria­li­en, Flugblättern, il­le­ga­len Zei­tun­gen, das An­brin­gen von Kle­be­zet­teln mit Anti-Nazi-Pa­ro­len, noch re­la­tiv stark be­trie­ben. Ab 1935 wa­ren aber die Me­tho­den der Na­zis zur Ver­fol­gung und Auf­de­ckung sol­cher Ak­ti­vitäten, war auch die Ge­fahr der De­nun­zia­ti­on so viel größer ge­wor­den, dass wir sol­che Ak­ti­vitäten sehr ein­schränken und um vie­les bes­ser ab­si­chern muss­ten. Wir war­fen die Flugblätter und il­le­ga­len Zei­tun­gen nicht mehr in die Briefkästen in den Häusern, son­dern ver­schick­ten sie per Post an Adres­sen, die wir aus den Te­le­fonbüchern her­aus­such­ten. So ver­brei­te­ten wir auch ein Flug­blatt ge­gen das Nazi-Po­grom vom 9. No­vem­ber 1938 (die so ge­nann­te Kris­tall­nacht), das ich da­mals auf Auf­for­de­rung von Wer­ner Stein­brink ent­wor­fen hat­te.
In der Grup­pe hat­ten wir uns auch schon vor der Ent­fes­se­lung des Krie­ges durch Hit­ler­deutsch­land Ge­dan­ken darüber ge­macht, wie wir uns im Fal­le ei­nes Über­fal­les Deutsch­lands auf die So­wjet­uni­on ver­hal­ten würden, ob wir über­lau­fen oder nicht. Da­mals und auch noch 1940 – als ich von Ok­to­ber 1940 bis April 1941 Ur­laub zur Fort­set­zung mei­nes Stu­di­ums er­hielt und natürlich wie­der den Kon­takt zu den Ge­nos­sen auf­nahm – wa­ren wir fest da­von über­zeugt, dass die­ser Zwei­te von Deutsch­land ent­fes­sel­te Welt­krieg noch viel si­che­rer als der Ers­te mit ei­ner Re­vo­lu­ti­on en­den würde und dass wir dann in Deutsch­land ge­braucht würden. Des­halb woll­ten wir in der deut­schen Ar­mee blei­ben und in der Re­gel nicht über­lau­fen.
Im No­vem­ber 1942, nach der Er­mor­dung mei­ner Ge­nos­sen, war die Si­tua­ti­on für mich plötz­lich ganz an­ders. Ich fühlte mich sehr al­lein und iso­liert und dach­te, auf deut­scher Sei­te würde ich al­lein und ohne Or­ga­ni­sa­ti­on kaum noch ge­gen die Na­zis und ih­ren Krieg wirk­sam wer­den können, das aber könnte ich da­ge­gen in vol­lem Maße auf der Sei­te der Ro­ten Ar­mee. Ich habe mich des­halb noch während die­ses Ur­lau­bes ent­schlos­sen, die ers­te güns­ti­ge Ge­le­gen­heit zum Über­lau­fen wahr­zu­neh­men.
Das habe ich auch mei­ner Mut­ter und mei­ner da­ma­li­gen Ver­lob­ten und späte­ren Frau ge­sagt, da­mit sie wis­sen, wenn von mir kei­ne Post mehr kommt, dass mir der Über­tritt ge­lun­gen ist.
Wie ging denn die­ser Sei­ten­wech­sel von­stat­ten, das war doch si­cher gar nicht so ein­fach?
Nein, ganz und gar nicht. Aber mir kam der Zu­fall zu Hil­fe. Der Zu­fall war eine Ver­wun­dung, ein „Hei­mat­schuss“, während ei­ner Großof­fen­si­ve der Ro­ten Ar­mee bei Sta­ra­ja Rus­sa, wo die Ein­heit lag, in der ich war. Das war am 14. März 1943. Zu­sam­men mit an­de­ren Ver­wun­de­ten mach­te ich mich auf den Weg zum rückwärti­gen Ver­bands­platz. Auf dem Wege dort­hin ka­men wir an ei­ner Schützen­kom­pa­nie vor­bei, die ei­nen be­son­ders for­schen Of­fi­zier hat­te. Als der un­se­ren Trupp sah, hielt er mich an und woll­te mir be­feh­len, bei sei­ner Kom­pa­nie zu blei­ben und mit­zukämp­fen. Die an­de­ren Ver­wun­de­ten hat­ten sicht­ba­re Arm- oder Bein­ver­wun­dun­gen, ich hat­te ei­nen nicht er­kenn­ba­ren Ein­schuss zwi­schen den Schul­terblättern, sah also äußer­lich un­ver­letzt aus. Bis ich ihm klar­ge­macht hat­te, dass mei­ne Ver­wun­dung nicht we­ni­ger schwer war als die der an­de­ren Ka­me­ra­den, wa­ren die an­de­ren schnell wei­ter­ge­gan­gen und außer Sicht­wei­te. Ich setz­te also mei­nen Weg al­lei­ne fort. Plötz­lich be­merk­te ich in etwa 100 bis 200 Me­tern Ent­fer­nung eine so­wje­ti­sche Pa­trouil­le, die par­al­lel zu mir in der glei­chen Rich­tung vor­ging. Sie hat­ten mich nicht be­merkt. Ich mach­te mich erst ein­mal un­sicht­bar, in­dem ich mich in den Schnee leg­te, und über­leg­te: „Mensch, du hast jetzt ei­nen Hei­mat­schuss und kannst viel­leicht bald zu Hau­se sein. Du hast aber jetzt auch die Möglich­keit, auf die du so lan­ge ge­war­tet und die du her­bei­ge­sehnt hast: Du kannst hier auf die an­de­re Sei­te, ohne Ge­fahr zu lau­fen, auf eine Mine zu tre­ten oder von den deut­schen Pos­ten ge­se­hen und ab­ge­knallt zu wer­den; und ge­nau so wich­tig: Du gefähr­dest dei­ne Mut­ter nicht, weil nie­mand sieht, dass du frei­wil­lig über­gehst – du bist ein­fach ver­misst.“ Also stand ich auf und ging auf sie zu, die Arme er­ho­ben und sie an­ru­fend: „Ne stre­lat!“ (Nicht schießen!), wie es in den so­wje­ti­schen Flugblättern, die wir ab und zu ge­fun­den ha­ben, stand. Da­durch be­merk­ten sie mich erst, und ihr Truppführer war sehr über­rascht und rief mir „Stoj!“ zu, trat zu mir her­an, riss mir den Stahl­helm vom Kopf – mir war gar nicht be­wusst, dass ich noch die­ses mar­tia­li­sche Ding auf­hat­te – und tas­te­te mich nach ei­ner Waf­fe ab, ich hat­te aber kei­ne. Ich setz­te mein Käppi auf und fand das auch viel an­ge­mes­se­ner als den Stahl­helm.
Bald da­nach kam ein wei­te­rer Rot­ar­mist auf den Trupp zu, mit ei­ner prall gefüll­ten Ak­ten­ta­sche un­ter dem Arm. Er gehörte of­fen­bar zu die­sem Stoßtrupp und hat­te ei­nen deut­schen Un­ter­stand und dort zurück­ge­las­se­ne Pa­pie­re ge­fun­den. Von dem, was er sei­nen Ge­nos­sen erzählte, ver­stand ich nur „Stab, Ba­tail­lon, Do­ku­men­te“. Er hat­te also für die so­wje­ti­sche Sei­te wich­ti­ge Do­ku­men­te er­beu­tet und war verständ­li­cher­wei­se darüber vol­ler Freu­de. Dann frag­te er, auf mich zei­gend, et­was, und aus der Ant­wort sei­ner Ge­nos­sen ist mir das Wort „Ja­syk“ in Er­in­ne­rung ge­blie­ben, ohne dass ich wuss­te, was das be­deu­tet, denn Rus­sisch lern­te ich erst hin­ter­her im so­wje­ti­schen La­za­rett. Erst dann habe ich be­grif­fen, dass ich da­mals für sie eine „Zun­ge“ (denn das be­deu­te­te in der mi­litäri­schen Spra­che da­mals das Wort „Ja­syk“, das ja zu­gleich auch „Spra­che“ heißt) war. Und eine „Zun­ge“, das war eben ei­ner, den man aus­fra­gen konn­te über die feind­li­chen Stel­lun­gen und Be­we­gun­gen. Nun hat­te der Rot­ar­mist nicht nur eine Ak­ten­ta­sche vol­ler wert­vol­ler Do­ku­men­te, son­dern auch noch eine „Zun­ge“, was sei­ne Freu­de sicht­lich ver­dop­pel­te. Er hieß mich dann mit ihm zu kom­men, den vorwärts mar­schie­ren­den So­wjet­sol­da­ten ent­ge­gen zur Aus­gangs­li­nie ih­rer Of­fen­si­ve.
Als wir die er­reicht hat­ten, ka­men durch die vie­len Rufe der Rot­ar­mis­ten bei mei­nem An­blick – „Fritz“ und „Gans“ (die Rus­sen spre­chen an­stel­le von H im­mer G oder CH) – drei Of­fi­zie­re aus ei­nem Un­ter­stand, der mehr ein Erd­loch war, her­aus, wink­ten mei­nen Rot­ar­mis­ten zu sich und frag­ten ihn nach mir aus. Da­nach nah­men sie mich mit in ih­ren Un­ter­stand zu mei­nem ers­ten Verhör auf so­wje­ti­scher Sei­te. Die ers­ten Fra­gen gal­ten der Ein­heit, aus der ich käme, der Stel­lung die­ser Ein­heit und ähn­li­chem. Ei­ner von den drei­en dol­metsch­te. Ich merk­te ihm an, dass er mich für ei­nen be­son­ders dreis­ten Fa­schis­ten hielt, of­fen­bar des­halb, weil ich kei­ner­lei Furcht und Nie­der­ge­schla­gen­heit zeig­te, son­dern mich in ei­ner für sie ganz un­verständ­li­chen Hoch­stim­mung be­fand – war ich doch nun end­lich auf eine so güns­ti­ge Wei­se auf ihre Sei­te ge­langt. Da sie aber kei­ne Fra­ge da­nach stell­ten, wie ich da­hin ge­kom­men war, habe ich mich auch gehütet, ih­nen zu sa­gen, dass ich frei­wil­lig ge­kom­men war, hat­te doch der Pos­ten, der mich hier­her ge­bracht hat­te, das selbst nicht als Au­gen­zeu­ge ge­se­hen. Außer­dem hat­te ich an mei­nem Uni­form­rock doch zwei Or­densbänder – den von den Land­sern iro­nisch „Hun­ger­or­den“ ge­nann­ten „Win­ter-Or­den“, den alle be­kom­men hat­ten, die be­reits den Win­ter 1941/​1942 an der Ost­front ver­bracht hat­ten, und das „EK II“, das „Ei­ser­ne Kreuz zwei­ter Klas­se“, das eben­falls alle in mei­ner Kom­pa­nie er­hal­ten hat­ten, die vom ers­ten Tage des Über­falls auf die So­wjet­uni­on an in der Ein­heit wa­ren. In ih­ren Au­gen war ich si­cher ein ganz be­son­ders tüch­ti­ger Na­zi­sol­dat, noch dazu An­gehöri­ger ei­ner Ma­schi­nen­ge­wehr-Kom­pa­nie, die aus nur zu be­rech­tig­tem Grun­de bei ih­nen be­son­ders ver­hasst wa­ren. Hätte ich ih­nen jetzt erzählt, ich sei frei­wil­lig ge­kom­men, muss­te ich da­mit rech­nen, dass sie dies für eine be­son­ders fre­che und zu­gleich fei­ge fa­schis­ti­sche Schwin­de­lei auf­fass­ten.
Nach­dem die Fra­gen zu mir und mei­ner mi­litäri­schen Ein­heit be­en­det wa­ren, frag­te mich der Kom­mis­sar, war­um die Deut­schen alle Ju­den um­brin­gen. Als ich ant­wor­te­te: „Das ma­chen nicht die Deut­schen, son­dern die deut­schen Fa­schis­ten“, wur­de er noch zor­ni­ger und gab zurück: „Alle Deut­schen sind Fa­schis­ten!“ Als ich dem wi­der­sprach, hol­te er sei­ne Pis­to­le her­aus, leg­te sie sich flach auf die Hand und frag­te: „Wis­sen Sie, was das ist?“ Unglück­li­cher­wei­se war das kei­ne so­wje­ti­sche, son­dern eine deut­sche Pis­to­le, also sag­te ich: „Ja, eine deut­sche Null Acht.“ Das brach­te ihn noch mehr auf und über­zeug­te ihn si­cher noch mehr da­von, dass ich ein be­son­ders ein­ge­fleisch­ter Fa­schist sein muss­te. Wo­her soll­ten sie auch ver­ste­hen, wes­halb ich in ei­ner sol­chen glück­li­chen Hoch­stim­mung war, in der mich nichts um­wer­fen konn­te?
Das Verhör war be­en­det, es ging wie­der raus aus dem Un­ter­stand. „Mein“ Pos­ten stand et­was ab­seits, und ein an­de­rer Pos­ten stand da, mit der Ma­schi­nen­pis­to­le im An­schlag. Der Kom­mis­sar wies mit dem Fin­ger nach vorn und be­fahl mir: „Idi!“ (Geh!) Die Si­tua­ti­on war ein­deu­tig. Aber ich war zu ih­nen ge­kom­men, um mit ih­nen ge­gen Hit­ler zu kämp­fen, nicht, um als ver­meint­li­cher Nazi um­ge­legt zu wer­den. Ich blieb des­halb ste­hen und sag­te ihm, ich würde erst ge­hen, wenn er mir zu­si­chert, dass mir nichts pas­sie­ren würde. Er wur­de nur noch zor­ni­ger und wie­der­hol­te mit ge­stei­ger­ter Stim­me: „Idi won!“ (Geh raus!) Auch das hat mich nicht aus mei­ner Ge­las­sen­heit ge­bracht. Ich sag­te ihm jetzt: „Sta­lin hat ge­sagt, wenn ein deut­scher Sol­dat sich er­gibt, wird ihm nichts ge­sche­hen!“ Er war nun wirk­lich über­rascht und wuss­te nicht mehr so recht, was er von mir hal­ten soll­te. Er wie­der­hol­te ein drit­tes Mal: „Idi!“ Nach­dem ich aber nur noch ein­mal wie­der­hol­te, ich gin­ge erst, wenn er mir zu­si­chert, dass mir nichts ge­sche­hen würde, sag­te er mit veränder­ter, aber nach­drück­li­cher Stim­me: „Sie werr­denn leb­benn!“ Das war so­zu­sa­gen mein „Le­bens-Ur­teil“. Er wink­te nun „mei­nen“ Pos­ten her­an, gab dem an­de­ren ein Zei­chen, und wir konn­ten ge­hen. Wir gin­gen nicht sehr weit, bis ich et­was zu se­hen be­kam, was mir erst so rich­tig zum Be­wusst­sein brach­te, dass es fast ein Wun­der war, dass ich mit dem Le­ben da­von­ge­kom­men bin: Da war eine so­wje­ti­sche Flak­stel­lung ge­we­sen. Noch vor mei­ner Ver­wun­dung hat­te ich auf deut­scher Sei­te ge­se­hen, dass deut­sche Sturz­kampf­bom­ber ir­gend­ei­ne so­wje­ti­sche Stel­lung an­grif­fen. Jetzt war ich an der Stel­le und sah die Wir­kung die­ses Stu­ka-An­griffs: zer­schmet­ter­te Geschütze, Geschütz­roh­re, um­ge­knickt wie aus Holz, und rund um die Geschütze auf der Erde die to­ten, zum Teil ver­brann­ten Körper ih­rer Mann­schaf­ten.
Das war also mein Weg auf die an­de­re, die rich­ti­ge Sei­te. Aber für sie war ich nichts an­de­res als ein „Wo­jen­no­p­le­nni“, ein Kriegs­ge­fan­ge­ner. Zu­sam­men mit an­de­ren ver­wun­de­ten deut­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen wur­de ich am nächs­ten Tag in ein Feld­la­za­rett ge­bracht, vor des­sen Zel­ten vie­le ver­wun­de­te So­wjet­sol­da­ten auf Tra­gen auf ihre Be­hand­lung war­te­ten. Als wir an­ka­men, wur­den wir be­greif­li­cher­wei­se nicht ge­ra­de mit freund­li­chen Wor­ten be­dacht. Und als wir dann gar noch, ohne war­ten zu müssen, so­fort vor­ran­gig be­han­delt wur­den, muss­ten sich die Ärzte und Pfle­ger von den so­wje­ti­schen Ver­wun­de­ten wüten­de Flüche anhören. Ich aber konn­te mei­nen deut­schen Ka­me­ra­den sa­gen: „Stellt euch das ein­mal auf ei­nem deut­schen Ver­bands­platz mit so­wje­ti­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen vor!“ Sie re­agier­ten dar­auf sehr still und nach­denk­lich.
Wir wur­den dann schließlich in ein so­wje­ti­sches La­za­rett auf ei­ner In­sel im See­li­ger See ge­bracht und dort aus­ge­heilt. Dort habe ich mein stümper­haf­tes Rus­sisch ge­lernt, in­dem ich mir von der so­wje­ti­schen Wach­mann­schaft ihre „Okop­na­ja ga­set­ta“, ihre „Schützen­gra­ben-Zei­tung“, ge­ben ließ und mit Bild­un­ter­schrif­ten und Tex­ten allmählich die Be­deu­tung von im­mer mehr rus­si­schen Wörtern er­riet. Auf die­se Wei­se habe ich aus der Zei­tung auch er­fah­ren, dass von Ge­nos­sen Emi­gran­ten und Kriegs­ge­fan­ge­nen ein „Na­tio­nal­ko­mi­tee Frei­es Deutsch­land“ gegründet wor­den war.
Als im Juli 1943 mei­ne Wun­de ver­heilt war, bot mir der jüdi­sche Chef­arzt – der sich mit größtem Ei­fer um die Hei­lung der deut­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen bemüht hat­te – an, bei ihm als Dol­met­scher zu blei­ben. Aber ich woll­te zur an­ti­fa­schis­ti­schen Ar­beit in ein Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­ger, und so kam ich in ein Ar­beits­la­ger bei Ostasch­kow. Dort wur­den wir zur Torf­ge­win­nung ein­ge­setzt.
Es gab da schon ein An­ti­fa-Ak­tiv, und natürlich woll­te ich so­fort mit­ar­bei­ten. Aber des­sen Vor­sit­zen­der, ein Öster­rei­cher na­mens Au­ra­cher, wies mich ab: „Mir hom Sper­re.“ Als ich dann auf ei­ge­ne Faust po­li­ti­sche Ar­beit un­ter­nahm, in­dem ich im Kran­ken­bau, in den Werkstätten und Ba­ra­cken nach Fei­er­abend die neu­es­ten Nach­rich­ten aus den so­wje­ti­schen Zei­tun­gen ver­las, ver­brei­te­te Au­ra­cher bei der La­ger­lei­tung und un­ter den Ka­me­ra­den, ich sei in Deutsch­land ein Hit­ler­ju­gendführer und in der Wehr­macht Of­fi­zier ge­we­sen. Er hat­te aber bei der La­ger­lei­tung da­mit des­halb kei­nen Er­folg, weil ich in mei­nen vie­len Le­bens­be­rich­ten, die ich auf­grund sei­ner Lügen im­mer wie­der ab­ge­ben muss­te, nach­prüfba­re Tat­sa­chen anführen konn­te, z.B., dass mei­ne El­tern 1931 die bei­den Kin­der des kom­mu­nis­ti­schen Reichs­tags­ab­ge­ord­ne­ten Wal­ter Stoecker für die Zeit, die er in der So­wjet­uni­on war, auf­ge­nom­men hat­ten, und fer­ner, dass wir in Britz be­freun­det wa­ren mit Erich Mühsam und sei­ner Frau Zenzl, von der ich wuss­te, dass sie über Prag in die So­wjet­uni­on ge­gan­gen war. Im Ok­to­ber 1943 wur­de ich dann zu­sam­men mit ei­ni­gen an­de­ren – dar­un­ter auch Au­ra­cher – zur Zen­tra­len An­ti­fa-Schu­le nach Ta­liza ge­schickt. Dort hat Au­ra­cher wie­der die glei­chen Lügen über mich los­ge­las­sen, konn­te aber nicht ver­hin­dern, dass ich zu­erst als Kurs­ant, dann als As­sis­tent an die­ser Schu­le bis Juli 1947 ge­ar­bei­tet habe. Nach Kriegs­en­de hat sich dann her­aus­ge­stellt, dass er, die­ser Au­ra­cher, ein öster­rei­chi­scher Heim­wehr­fa­schist und Of­fi­zier der Wehr­macht war.
Die Jah­re an die­ser Schu­le gehören zu den wert­volls­ten mei­nes Le­bens. Hit­ler hat Mil­lio­nen deut­sche Sol­da­ten in den im­pe­ria­lis­ti­schen Raub­krieg und in den Tod ge­trie­ben, um die So­wjet­uni­on zu li­qui­die­ren. Die So­wjet­uni­on hat dafür ge­sorgt, dass Hun­dert­tau­sen­de von die­sen ehe­ma­li­gen Lands­knech­ten des deut­schen Fa­schis­mus als über­zeug­te An­ti­fa­schis­ten nach Deutsch­land zurück­kehr­ten. Es ist ein gu­tes Gefühl, Ge­le­gen­heit ge­habt zu ha­ben, da­bei mit­zu­hel­fen.
Der Text wur­de von Kurt Goss­wei­ler übe­r­ar­bei­tet.
Veröffent­licht in „Im Wi­der­stand ge­gen das NS-Re­gime. Gespräche aus den Jah­ren 1997/​98, Teil I.“ Hrsg. von der Ber­li­ner Ver­ei­ni­gung ehe­ma­li­ger Teil­neh­mer am an­ti­fa­schis­ti­schen Wi­der­stand, Ver­folg­ter des Na­zi­re­gimes und Hin­ter­blie­be­ner (BV VdN) e.V. und dem Ver­ein für an­ge­wand­te Kon­flikt­for­schung (VAK) e.V., Ber­lin 2000

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