Samstag, 18. Juni 2016

München: Die Angeklagten im §129-Prozess kommen kämpferisch und optimistisch in den Gerichtssaal

München: Die Angeklagten im §129-Prozess kommen kämpferisch und optimistisch in den Gerichtssaal
Die HDP-Covorsitzende Figen Yüksekdağ bei der Protestkundgebung zum Prozessauftakt heute in München (rf-foto)
17.06.16 - Vor dem Oberlandesgericht in München hat heute früh der Prozess gegen die seit mehr als einem Jahr inhaftierten ATIK-Aktivistinnen und –Aktivisten Müslüm Elma, Erhan Aktürk, Haydar Bern, Musa Demir, Deniz Pektaş, S. Ali Uğur, Sami Solmaz, Mehmet Yeşilçalı, Dr. Sinan Aydın, Dr. D. Banu Büyükavcı begonnen. Eine Augenzeugin berichtet aus dem Gerichtssaal an rf-news: "Ich war total beeindruckt vom Auftreten der Angeklagten vor Gericht. Sie kamen aufrecht und zum Teil regelrecht strahlend herein, mit erhobenem Haupt, kämpferisch und kein bisschen niedergedrückt. Ich hatte vorher gar nicht gewusst, dass sie großteils in Isolationshaft sitzen. Die meisten sahen im Gerichtssaal zum ersten Mal ihre Angehörigen wieder; Banu z.B. hatte ihren Ehemann seit ihrer Verhaftung nicht mehr gesehen. Entsprechend bewegend war das Wiedersehen. Es wurden Parolen gerufen, z.B. 'Ihr seid unser Stolz' und 'Mit Widerstand werden wir siegen'. Eine unglaublich optimistische Stimmung war da im Gericht. Toll war auch, dass man die Parolen und Lieder der Protestkundgebung vor dem Gebäude bis in den Gerichtssaal hinein gehört hat."
Die türkischen und kurdischen Linken waren Mitte April 2015 in einer konzertierten Aktion der Staatsapparate und Geheimdienste in vier europäischen Ländern verhaftet worden. Die deutsche Bundesregierung hatte die Federführung. Lediglich Griechenland weigerte sich, einen dort verhafteten Aktivisten der ATIK (Konföderation der Arbeiter aus der Turkei in Europa) an Deutschland auszuliefern. Allen Verhafteten wird die Mitgliedschaft oder die Unterstützung einer 'terroristischen Vereinigung im In- bzw. Ausland' nach § 129a und b des StGB (Strafgesetzbuch) vorgeworfen. Dabei geht es um die TKP/ML (Kommunistische Partei Türkei Marxistisch/Leninistisch). Sie ist in der Türkei verboten, und etliche der Angeklagten waren schon in der Türkei in Haft. Die TKP/ML steht auf keiner EU-Terrorliste!
Sogar die Süddeutsche Zeitung wundert sich, warum dieser Prozess angestrengt wird, wo doch die Gerichtsbarkeit eigentlich mit Ermittlungen und Verfahren gegen den NSU, Rechtsradikale und IS-Terroristen gut ausgelastet sein könnte. Eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft lässt die Katze aus dem Sack: "Es handelt sich um ein Pilotverfahren, in dem das Gericht die Frage klären muss, ob es sich bei der TKP/ML um eine terroristische Vereinigung handelt". Der Mammutprozess soll den Weg dafür ebnen, noch mehr Linke und Revolutionäre zu kriminalisieren, einzusperren und abzuschieben.
Eine Welle der Solidarität mit den Angeklagten hat sich seit April 2015 entwickelt. Das zeigt sich auch heute bei Prozessbeginn. Hunderte versammelten sich schon um 9 Uhr vor dem Gerichtsgebäude zu einer Kundgebung, im Laufe des Vormittags wuchs die Menge auf mehr als 500 Menschen an. Sie kommen aus Frankfurt am Main, Stuttgart, Nürnberg, aus Wien und zahlreichen weiteren Städten. Die MLPD ist Mitherausgeberin des Solidaritätsaufrufs und beteiligt sich aktiv an den Protesten, u.a. wird ein MLPD-Vertreter auf der Kundgebung nachher in der Münchner Innenstadt sprechen. Aus der Türkei sind Menschenrechtler, Anwälte und fortschrittliche Abgeordnete gekommen. Die HDP-Co-Vorsitzende Figen Yüksekdağ sprach in der Verhandlungspause zu den Kundgebungsteilnehmerinnen und –teilnehmern und prangerte an, dass sich die deutsche Bundesregierung mit diesem Prozess in ganz besonderem Maß zum Handlanger des faschistoiden Erdogan-Regimes macht.
Die Verhandlung vor dem Münchner Oberlandesgericht begann mit stundenlanger Verspätung. Hintergrund war, dass einige der Angeklagten vor ihrer Fahrt nach München aufs Unwürdigste behandelt und diskriminiert worden sind. Die rf-news-Korrespondentin berichtet: "Vier Angeklagten sollten Fußfesseln angelegt werden. Sie beschwerten sich bei Gericht und prangerten an, dass ihnen die Vorbereitung auf den Prozess regelrecht verwehrt wurde. Einer bekam nach seiner Verlegung von Straubing nach Landshut seinen Laptop nicht mehr. Die Unterlagen von Banu sind verschwunden. Die JVA Landshut hat den dort inhaftierten Angeklagten gezwungen, sich für eine Leibesvisitation nackt auszuziehen. Der Richter sagte, dass dies vom Gericht nicht angeordnet worden war. Die Verantwortlichen in der JVA sagten, das sei ihnen egal, sie hätten ihre eigenen Regeln."
Protest gab es auch gegen die unprofessionelle Übersetzertätigkeit vor Gericht. Die Statements der Anwälte wurden in indirekte Rede übersetzt. Außerdem: Wenn ein Anwalt sagte: "Mein Mandant ..." übersetzte der Dolmetscher "Der Gefangene". Zwei Anwälte stellten Befangenheitsanträge gegen das Gericht.
Bei Redaktionsschluss waren noch nicht einmal die Personalien der Angeklagten aufgenommen, geschweige denn die Anklageschrift verlesen worden.

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