Von Raina Zimmering
1989 weilte ich während eines
Studienaufenthaltes das erste
Mal in Buenos Aires. In Buenos Aires angekommen, fasste ich
mir schließlich ein Herz und rief
Alfredo Bauer an. Schon am Telefon begrüßte mich eine sehr
freundliche Stimme
und zerstreute all meine Bedenken. Alfredo freute sich riesig,
von seinem
Freund Pieter zu hören, und lud mich sehr herzlich zu sich
nach Hause ein. Ich
nahm an. Als ich zu ihm kam, war der Tisch in der Veranda
gedeckt. Er hatte
eine zugewandte und lustige Art zu sprechen. Seine
österreichische
Liebenswürdigkeit und sein jüdischer Witz amüsierten mich vom
ersten Augenblick
an. Man musste ihn einfach gern haben. Alfredo stellte mir seine
Frau Gerti vor, die
ebenso freundlich wie er war und sich trotz ihres Alters sehr
grazil bewegte. Sie
war Tänzerin. Später kam noch sein ältester Sohn. Alfredo
erzählte mir von
seinem Leben und seinen Büchern. Wir diskutierten viel,
besonders über die
Ereignisse in der DDR. Er wollte meine Meinung zu den
politischen Prozessen
damals im Herbst 1989 wissen. Ihn überraschten die Ereignisse
in der DDR
einerseits, doch andrerseits war er weniger überrascht als
ich, da er mit seinem
kritischen Fernblick schon einiges geahnt hatte. Alfredo war
zwar traurig, aber
nicht deprimiert, sondern sah, entsprechend seines
unschlagbaren Optimismus´,
eine Herausforderung in
dem Geschehenen:
Bei der nächsten Revolution sind wir klüger und dann klappt es
bestimmt. Nach
dem Treffen bei Alfredo entwickelte sich eine lebenslange
Freundschaft zwischen
uns, die sich in mehreren Besuchen dort wie hier in
Deutschland fortsetzte.
Damals nach dem ersten Besuch bei Alfredo
in Buenos Aires 1989
organisierte er ein Treffen mit dem „Ateneo Argentino
Alejandro Humboldt“,
eine Organisation deutscher in Argentinien lebender
Emigranten, die wegen
rassischer und politischer Verfolgung durch die Nazis nach
Argentinien gekommen
waren und geblieben sind. Alfredo Bauer leitete diese
Organisation, die sich besonders
dem Kulturaustausch mit der DDR widmete. Im Ateneo Humboldt
sollte ich über die
Ereignisse in der DDR sprechen und diese erklären. Alfredo saß
im Präsidium neben
mir und das beruhigte mich sehr, denn oftmals konnte ich die
Fragen der
zahlreich erschienen Anwesenden nicht beantworten, da sich die
Ereignisse
während meines Aufenthalts in Argentinien überschlugen.
Inzwischen war die
Mauer gefallen und man wollte von mir umfassende Begründungen.
Doch auch ich war
überrollt wie die argentinischen Freunde und wusste nicht viel
mehr als
diejenigen, die jahrzehntelang weit weg von Deutschland waren.
Alfredo stellte
schließlich grundsätzliche Fragen, was man vom Sozialismus
erwarte und wie
diese Frage mit den Ereignissen in der DDR zusammenhängen
könnte. Sein
unschlagbarer Optimismus rettete mich. Immer wieder, wenn ich
über das Ende der
DDR nachdenke, erinnere ich mich an diese Diskussion im Ateneo
und an Alfredo
Bauer in Buenos Aires, weit weg von zu Hause, doch schon
damals sehr
aufschlussreich aus der Ferne, mit so viel Verständnis und
Weisheit.
Nun erreichte mich die Nachricht vom Tod
von Alfredo Bauer,
nachdem ich lange nichts mehr von ihm gehört hatte. Er ist am
21. Mai in einer
Herzklinik in Buenos Aires im Alter von 91 Jahren gestorben.
Ein arbeitsames
und ausgesprochen kreatives Leben ist zu Ende gegangen.
Alfredo Bauer hat uns
ein reiches Erbe hinterlassen und diejenigen, die ihn kennen,
werden sein Bild
immer mit sich und seine Bücher im Herzen tragen. Alfredo war
Arzt,
Schriftsteller und politischer Aktivist. Er praktizierte noch
damals, als ich
ihn kennen lernte und er schon in einem Alter war, in dem sich
andere zur Ruhe
setzen. Ruhe passte nicht zu ihm. Er praktizierte noch bis ins
hohe Alter und
schrieb bis zu seinem 91. Lebensjahr.
Alfredo Bauer wurde am 14. November 1924 in
Wien in einer jüdischen
Familie, als Sohn eines Kaufmanns und einer Pharmazeutin
geboren und besuchte
dort die Volks- und Mittelschule. Schon in der Schule erlebte
er Diskriminierungen.
Als 14jähriger floh er 1938, kurz nach dem Anschluss
Österreichs an
Nazideutschland, zusammen
mit seiner
Familie nach Argentinien. Eine Tante ermöglichte der Familie
die Einreise.
Immer wieder betonte Alfredo Bauer, dass er nicht von
Österreich vertrieben
wurde, sondern von den Feinden Österreichs. In Buenos Aires
besuchte er die
deutschsprachige antifaschistische Pestalozzi-Schule, die 1935
von Dr. Ernesto Aleman, dem Besitzer des
liberalen „Argentinischen Tageblatts“, als unabhängige
Schule gegründet wurde.
Es war eine Art Gegenmodell
zu den
anderen 20 deutschen Schulen in Buenos Aires, die von der
nazideutschen
Botschaft gleichgeschaltet waren. Die
Pestalozzi-Schule entwickelte sich mit dem Zulauf
antifaschistischer Lehrer,
die nach Argentinien migrierten, zu einem Zentrum
antifaschistischer
humanistischer Kultur. Ein
Lehrer
beeindruckte Alfredo Bauer durch seine Literatur- und
Philosophiekenntnisse
besonders. Es war August Siemsen, der ebenfalls wegen seiner
Einstellung als
linker Sozialdemokrat nach Argentinien vor den Nazis geflohen
war. Siemsen
vermittelte Alfred Bauer ein materialistisch-historisches
Gesellschaftsverständnis.
Nach Beendigung der Pestalozzi-Schule
studierte Alfredo
Bauer in Buenos Aires Medizin, promovierte zum Thema der
„Schmerzarmen Geburt“ und
praktizierte zuerst als Kinderarzt und
später als Frauenarzt. Geburtsmedizin war sein Spezialgebiet,
und ich vermute,
dass gerade das seinen großen Optimismus begründete. Alfredo
Bauer wurde 1941 Mitglied
in der Jugendgruppe der antifaschistischen österreichischen
Exilorganisation
„Austria Libre“, die 2000 Mitglieder hatte, und schrieb für
deren Zeitschrift
„Nueva Austria“. Auch trat er der jüdischen Organisation
„Blau-Weiß“ bei. 1946
wurde er Mitglied der Kommunistischen Partei Argentiniens.
Alfredo Bauer
arbeitete, seinen sozialistischen Intension folgend, mit dem
antifaschistischen
Verein „Vorwärts“ zusammen, der 1882 von deutschen Sozialisten
gegründet wurde,
die wegen der Sozialistengesetze unter Bismarck nach
Argentinien geflohen waren. Auch
schrieb er für die Zeitung „Das andere
Deutschland“, die von August Siemsen geleitet wurde. Die
politischen Aktivisten
im Umfeld des „Vorwärts“ setzten sich kritisch mit dem
Hitler-Stalin-Pakt
auseinander und überwarfen sich mit anderen linken
Emigrantengruppen und der III.
Internationale. In diesem Zusammenhang lernte Alfredo Bauer
auch Pieter, den
gleichaltrigen Sohn von August Siemsen, kennen, der seinem
Vater in die argentinische
Emigration folgte. Obwohl Alfredo Bauer sich frühzeitig nach
seiner Ankunft
gesellschaftlich und politisch im argentinischen Exil schnell
integrierte,
brauchte er nach seinen eigenen Aussagen, 30 Jahre, um sich
kulturell zu
integrieren.
Die ersten literarischen Arbeiten von
Alfredo Bauer waren
1944 Kleintheaterstücke für das von Walter Jacob gegründete
deutschsprachige
Theater „Freie Deutsche Bühne“, das überwiegend von Emigranten
bespielt und
besucht wurde. In dieser Zeit schreib er auch für das
„Argentinische
Tageblatt“. Als ihm
das Tagebuch seines
Großvaters, der 1848 in der bürgerlich-demokratischen
Revolution in Deutschland
gekämpft hatte, in die Hände fiel, beschloss er größere Dinge
zu schreiben. Die
Ereignisse um das Tagebuch waren so einzigartig, dass er das
Schreiben als eine
neue Berufung empfand. Eine Tante, die dieses Tagebuch besaß,
wurde ins KZ von
Theresienstadt verschleppt, konnte das Tagebuch aber vorher
noch verstecken. Sie
überlebte das KZ und übergab das Tagebuch nach dem Krieg
Alfredo Bauer. Aus
diesem Tagebuch entstand der Stoff für sein erstes Buch, das
er in Spanisch für
die Argentinier schrieb. Er nahm an, dass die Europäer die
europäische Geschichte
sowieso kennen. Als er nach seinen ersten Besuchen in Europa
mitbekam, dass
nichts davon bekannt war, begann er sein zweites Buch zu
schreiben: „Die
kritische Geschichte der Juden“ und dieses Mal in Deutsch für
die Deutschen und
Österreicher. An seinem Familienroman, der durch das Tagebuch
des Großvaters ausgelöst
wurde, schrieb er jedoch immer weiter, so dass daraus fünf
Teile entstanden,
die die Geschichte seiner jüdischen Familie mit den
historischen Ereignissen
der Zeit von 1838 bis 1938 verbanden. Er nannte diesen Roman
„Los Compañeros
Antepasados“. Er erschien nach und nach in den 1970er und
1980er Jahren in
Argentinien auf Spanisch. Die ersten beiden Bände wurden dann
1986 in der DDR ins
Deutsche übersetzt publiziert und erst 2012 wurden alle fünf
Teile unter dem
Titel „Die Vorgänger. Romanzyklus“, von der Theodor Kramer
Gesellschaft in
Österreich in Deutsch herausgegeben. 2004 erschien seine
heftig umstrittene
„Kritische Geschichte der Juden“ in Deutsch. 2014 wurde das Buch „Der sanfte
Rebell. Bibelszenen“ in
Deutsch herausgegeben. Sein literarisches Werk umfasst
mindestens 30 Werke, Romane,
Essays, Erzählungen, Biographien, Gedichte, Reiseberichte,
wissenschaftliche
und politische Artikel. Alfredo Bauer schrieb auch
Theaterstücke und ein
Opernlibretto. Er veröffentlichte Fachliteratur zur
Frauenheilkunde,
Geburtsmedizin und sexologischen Themen. Er betätigte sich
auch als Übersetzer,
übersetzte Werke von Goethe, Heinrich Heine, Berthold Brecht,
Peter Hacks, Jura
Soyfer und Felix Mitterer ins Spanische
und das argentinische Nationalepos „Martin Fierro“ von José
Hernández ins
Deutsche. Die meisten Bücher von ihm wurden in Argentinien und
in der DDR
veröffentlicht. Er erhielt zahlreiche Auszeichnungen. Er trat
auch regelmäßig
in einem Radioprogramm auf, das er mit Gleichgesinnten jede
Woche durchführte.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges
dachte Alfredo Bauer
mehrmals darüber nach, nach Europa zurück zu gehen. Er nahm
mit
Selbstverständlichkeit an, dass in Österreich und Deutschland
die
sozialistische Idee nach der Katastrophe der faschistischen
Barbarei Fuß fassen
würde. Doch mit der Zeit sah er, dass sich eine andere
Entwicklung auftat und
zögerte. Auch hatte er sich inzwischen familiär gebunden. 1952
heiratete er die
aus Österreich stammende Kitty Eggerer, mit der er drei Kinder
hatte. Seine
Frau Kitty starb 1984. 1988 heiratete Alfredo zum zweiten Mal.
Seine Frau wurde
die ebenfalls aus Österreich stammende Tänzerin Gerti Neumann.
Als Jude nach
Israel zu gehen, kam ihm nie in den Sinn. Er sagte 2014 in
einem Interview: „Ich war
selbstverständlich für die Gründung Israels als
Exil für die Entwurzelten, aber der Zionismus als Idee war
mir nicht nur fremd,
sondern – im ideologischen Sinne und ohne Hass gegen
diejenigen, die
dieser Idee anhängen – immer eine feindliche Strömung für
mich.“[1]
Zwischen 1976 und 1983 erlebte Alfredo
Bauer das zweite Mal
in seinem Leben eine Diktatur, dieses Mal die argentinische
Militärdiktatur.
Obwohl er durch seine guten Beziehungen zur DDR-Botschaft
einigermaßen
geschützt war, musste er um das Schicksal seiner Kinder
bangen, denn in dieser
Zeit war jung gewesen zu sein allein schon ein „Verbrechen“.
Im Zusammenhang mit
der Militärdiktatur kamen erneut Gedanken über eine Rückkehr
nach Europa,
obwohl es nun schon kaum eine Rückkehr sondern eher eine
Emigration in
umgekehrter Richtung gewesen wäre. Die Sorge um seine Kinder
und die familiären
und Freundes- Bindungen bewogen ihn schließlich zum Bleiben.
Gegenüber
seinem Heimatland
Österreich hatte Alfredo Bauer ein sehr gespaltenes
Verhältnis. 1957 besuchte er
das erste Mal nach dem Krieg wieder seine Heimatstadt Wien.
Er wurde dort kaum
wahrgenommen. Später wurde Alfredo Bauer wegen seiner Kritik
gegenüber
Mitgliedern der politisch konservativen Familie Starhemberg und der Verurteilung
des Putsches 1934 in
Österreich in Abwesenheit wegen
Verleumdung von dem Landesgericht St. Pölten verklagt. Er
schrieb dem Gericht,
dass er zum Prozess kommen würde, wenn ihm der
österreichische Staat die Reise
bezahlt. Wenn er dann tatsächlich verurteilt und eingesperrt
werden würde,
würde er ein Buch über seine Erfahrungen als politischer
Gefangener in einem
österreichischen Gefängnis schreiben, was sicher ein
Bestseller werden könnte. Der
Prozess fand schließlich ohne ihn statt.[2]
Im Jahre
2000 organisierte Alfredo Bauer über die
Künstlergewerkschaft in Buenos Aires
vor der österreichischen Botschaft riesige
Protestdemonstrationen gegen Jörg
Haider. Nach dem Tod von Jörg Haider befürchtete er noch
mehr den Politiker
Strache. Was würde er wohl zu dem gegenwärtigen Wahlergebnis
der FPÖ und von
Hofer sagen?
Alfredo Bauer schöpfte mit den sozialen
Protesten 2001 und
2002 in Argentinien und der Regierungsübernahme durch die
demokratische
Regierung Kirchner neue Hoffnung. Besonders Cristina Kirchner
verehrte er sehr.
Er hatte die große Hoffnung, dass sich die neuen
südamerikanischen Demokratien
zusammenschließen und auf diese Weise eine gerechtere
Gesellschaft errichten
könnten. Kurz vor seinem Tod wurde er wiederum durch die
Angriffe auf Cristina
Kirchner und die Regierungsübernahme des rechtsliberalen
Präsidenten Macri sehr
enttäuscht.
Alfredo
Bauer wurde 1982 und 1991 mit der Ehrenschleife "Faja de
Honor" des
Argentinischen Schriftstellerverbandes ausgezeichnet. Er erhielt 1987 den
Jakob-und-Wilhelm-Grimm-Preis der DDR und 2002 den
Theodor-Kramer-Preis als
Exilliterat. 2010 erhielt er das Goldene Ehrenzeichen der
Stadt Wien.
Alfredo
Bauer wurde am 25.Mai 2016 auf einem Friedhof in Buenos
Aires beigesetzt.
[1]
Interview mit Gerd Eisenbürger: Der rassisch Verfolgte hielt
sich für
minderwertig. In: ila 154. April 1992.
[2]
Interview mit Erhard Strackl am 23.10.2009.
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Univ.-Prof. Dr. habil. Raina Zimmering
- Historikerin, Politologin, Soziologin -
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