Sonntag, 10. Mai 2015
Brief meiner Mutter an ihre Mutter (Friedrich Wolff)
Das Ende des Zweiten Weltkriegs habe ich in Berlin-Neukölln erlebt. Die Nazizeit hatte ich relativ gut überstanden. Als Sohn eines jüdischen Arztes, der 1935 starb, und einer »arischen« Mutter war ich »Halbjude« und daher unwürdig, in Hitlers Armee zu dienen. Die Dienstverpflichtung in Munitionsfabriken in Berlin und Treuenbrietzen war das wesentlich kleinere Übel. Hitlers Niederlage war ersehnte Befreiung. Meine Mutter hat ihre Erlebnisse und Gefühle am 29. Juni 1945 in einem ersten Brief ihrer Mutter in Dresden mitgeteilt. Sie war eine kluge, aber einfache Frau, ihren Text habe ich orthographisch leicht korrigiert:
»Meine liebe, liebe Mutter!
Wir leben! Es fällt mir sehr schwer, diesen Brief zu schreiben, aus seelischen u. körperlichen Gründen. Ich habe 2 Tage schweren Durchfall mit hohem Fieber gehabt u. bin eben aufgestanden und fühle mich hundeelend. Aber es ist G.s.D. überstanden. Durch starkes Abführmittel ist alles raus, u. es wurde mir gleich besser. Die seelischen Gründe wirst Du Dir denken können, beim Schreiben dieser Zeilen kommt mir das namenlose Elend wieder zum Bewußtsein, was wir durchgemacht haben, 6 Wochen, ehe der Russe hier war, Nacht für Nacht bombardiert. Berlin hatte 700 Angriffe. Dann kam der Kanonendonner der Front langsam, aber sicher näher. Wir haben gezittert, wenn er aufhörte, wir glaubten, der Russe würde wieder zurückgedrängt. Wir hatten wohl Angst vor dem Straßenkampf u. dessen Folgen, vor Brand am meisten, aber wir hofften u. wünschten auf die Befreiung. Dann war sie da. Am 25. April mittags 2 ¼ Uhr kamen 2 Russen durch unseren Garten, wir raus aus der Wohnung, ihnen entgegen. Ich habe geweint und ihnen die Hand gedrückt, andere haben sich versteckt. Ich hatte keine Angst. Die zwei sahen sehr gut aus u. sagten: ›Ruskis tut keinen Zivilpersonen etwas.‹ 10 Minuten vorher waren noch 4 SS-Soldaten bei uns im Haus, die setzten sich, ohne zu schießen, G.s.D. ab. In der Luft war eine tolle Schießerei, die Granaten flogen über den Häusern, die Stalinorgel orgelte ihre Granaten aus allen Rohren, es war ein Höllenlärm. 15 Mieter aus unserem Haus, wir natürlich mit, hatten uns vollkommen Tag u. Nacht im gut abgestützten Keller eingerichtet. Nun kam der Mittwochabend, welcher den Nachschub der Russen brachte, von da ab noch mindestens 8 Tage war es furchtbar. Sie kamen und plünderten u. holten die Frauen aus den Kellern. Ich hatte in meinem Keller sämtliche Koffer mit unseren Sachen. Da kamen 2 Russen mit einem Beil u. wollten den Keller aufbrechen, ich dazu u. sagte: nicht aufbrechen, hier Schlüssel. Ich schloß auf, ich glaubte, mein Ende ist nahe. Blitzschnell überlegte ich, wie bekommst du sie von meinem Keller weg. Sie griffen zuerst nach den eingeweckten Sachen, nach einer Flasche mit Tomatenpüree, ha, nun kam mir der rettende Gedanke. Ich sagte: ›Nix Wodka, Wodka oben‹ u. zeigte mit dem Finger nach oben, u. winkte ihnen, mit raufzukommen. Sie folgten mir, zum Erstaunen meiner Hausbewohner, wie ich mit den beiden Russen abschob. Ich hatte ein bissel Korn, den goß ich in 2 Gläser, ihre Gesichter strahlten, ich mußte aber selbst erst trinken, dann tranken sie aus, klopften mir auf die Schulter u. sagten ›Gut Mamuschka‹ und zogen ab.«
Neben den Erlebnissen in den letzten Kriegs- und ersten Friedenstagen drängte es sie, zu berichten, was sie in der Nazizeit durchgemacht hatte. So erzählte sie, was ihr Bruder Max ihr damals angetan hatte:
»Als ich im Oktober 33 ganz hoffnungslos bei Dir war, u. Max war auch zugegen, u. ich meinen Kummer ihm erzählte, sagte er vollkommen unberührt: ›Ja, das läßt sich nicht ändern, die Regierung ist nun mal gegen die Juden so eingestellt, das muß man eben hinnehmen.‹« Etwas später fügte sie hinzu: »Über 12 Jahre habe ich das Leid gehabt. Was habe ich um meinen Jungen gekämpft, das ganze letzte Jahr, alle kamen sie in Mischlingslager und mußten in Steinbrüchen arbeiten. Dank meiner energischen Natur ließ ich die Befehle zurückgehen. Ich mußte zur Gestapo, alles hat mir nichts ausgemacht, ich habe gekämpft bis zur letzten Minute, u. ich habe ihn aus ihren Klauen gerettet. Noch die letzten 14 Tage hatte ich mir einen Plan ausgedacht, was ich mache, wenn sie ihn holen wollen.«
Fast zum Schluß des Briefes schrieb sie: »Nun wirst Du noch wissen wollen, meine liebe Mutter, wie ich dazu komme, Dir zu schreiben. An einem Baum, nicht weit von uns, war ein Zettel angebracht, daß ein Kurier Briefe nach Dresden, Leipzig, Chemnitz mitnimmt, hoffentlich kommt er wieder zurück u. bringt mir Nachricht von Dir.«
Der Brief findet sich neben vielen weiteren Dokumenten in Friedrich Wolffs Autobiographie »Ein Leben – vier Mal Deutschland. Erinnerungen: Weimar, NS-Zeit, DDR, BRD«, 2013 erschienen im PapyRossa-Verlag, 248 Seiten, 15 €
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