Sonntag, 10. Mai 2015

1945 – Impressionen und Pressionen (Ingrid Zwerenz)

Sicher nicht aus freiem Willen, doch unterm Zwang der Zitate betitelte Jürgen Kaube, jüngst mehrmals preisgekrönter Journalist, am 3. März 2015 seinen FAZ-Artikel mit diesem als Frage formulierten Heidegger-Satz aus den berüchtigten »Schwarzen Heften«: »Die Alliierten – schlimmer als Hitler?« Jahrelang sperrte man sich im Weltblatt aus Frankfurt dagegen, den geheiligten Philosophen MH so darzustellen, wie es sich durch seine zahlreichen antidemokratischen und judenfeindlichen Äußerungen geradezu aufdrängte. 1945 eskalierte der vielbewunderte Rauner in den schieren Wahn- und Blödsinn. »Für Heidegger« führt Kaube an, »zählen letztlich nur Gedanken und vor allem die eigenen. Sie darauf zu prüfen, wie viele Irrtümer und Phrasen sie enthalten, hindert ihn die komplette Unfähigkeit zur Reflexion, die ihm einst sein Schüler Hans-Georg Gadamer attestiert hat.« Nach Kriegsende sieht Heidegger eine »Tötungsmaschinerie an den Deutschen angesetzt« und »findet es ungehörig, Goebbels an den Pranger zu stellen«. Wo sollte denn Hitlers getreuer Propaganda-Minister sonst positioniert werden – auf einem Piedestal? Da waren zwei Figuren aus dem Dritten Reich, hier ausdrücklich herausgehoben, obwohl die Mehrheit der Machthaber betroffen ist, wahrlich nicht mehr ganz bei Groschen; soweit es den früheren Gauleiter von Berlin und später wegen seiner Sexgier als Bock von Babelsberg Verhöhnten betrifft, bestätigt eine Erinnerung aus meiner Kindheit die Unzurechnungsfähigkeit von Goebbels. Er lieferte im Winter 44/45 in Liegnitz, Niederschlesien, wo ich geboren bin, noch eine seiner Hetz- und Durchhalte-Reden, danach ließ er die Stadt zupflastern mit Plakaten, auf denen zu lesen stand: »Den Sowjets geht der Atem aus.« Wir konnten die Rotarmisten schon Luft holen hören, so dicht stand der Einmarsch bevor, aber der Propagandhi, wie Tucholsky den großfressigen Joseph G. hin und wieder genannt hatte, log am Ende seiner Karriere so schamlos weiter wie in all den Jahren davor. Die seiner Definition nach an Luftmangel leidende sowjetische Armee rückte indessen recht flott am 11. Februar 1945 von der Siegeshöhe her in meiner Heimatstadt ein. Siegeshöhe ist in dieser Situation die Höhe, und die Absurdität des Straßennamens freute uns sehr. Bloß keine deutschen Siege mehr! Die ersten Russen, auf Rufnähe herangekommen, triumphierten: Woina kaput! – Krieg ist aus! In den nächsten Wochen amüsierten sie sich beim Eintritt ins Zimmer mit dem Gruß »Geil Gitler!« – sie könnten nun mal kein H sprechen, wurde uns erklärt. Nicht in meinen ärgsten Angstträumen hätte ich mir vorstellen können, daß ich später junge Deutsche erleben müßte, die Hitler »geil« finden, was im lange angesagten Jargon ja ein hohes Lob bedeutet, gesteigert wird meine Übelkeit noch durch die Nachricht, daß es schon in der Sowjetunion und weiterhin im heutigen Rußland Verehrer und Anbeter des einstigen deutschen »Führers« gibt – zum Kotzen. Zurück zur damaligen Roten Armee – sie ließ sich allerlei einfallen, damit wir Ortsveränderungen schon mal übten. Im Frühjahr verteilte sie die in Liegnitz verbliebene Rest-Bevölkerung auf einige kleine umliegende Dörfer, uns verschlug es nach Rüstern, es betraf meine Mutter, meine jüngere Schwester und mich; der Vater »Kurt Goffmann«, recte Hoffmann war abgeholt worden, als Ersatz für die vielen rechtzeitig getürmten Nazis, er war keiner, nicht mal Soldat gewesen, zum Glück u.k., das heißt unabkömmlich gestellt, gehörte nicht der NSDAP an, der Arme büßte für deutsche Schuld fast zwei Jahre lang als Zivilinternierter in Sibirien. Einige hilfsbereite Rote-Armee-Offiziere bemühten sich, herauszufinden, wohin man ihn gebracht hatte – der russische Geheimdienst behielt das streng für sich. Im Sommer, nachdem wir für kurze Zeit aus Rüstern nach Liegnitz hatten zurückkehren dürfen, entschloß sich der sowjetische Kommandant, fußend auf verschiedenen internationalen Abmachungen, die Deutschen nun endgültig aus der Stadt zu entfernen, am Abend vorm morgendlichen Ausmarsch ertönten laute Befehle: »Dawai, dawai!« Die Nacht verbrachten wir auf einer Wiese in der Roonstraße, bis dahin unsere Wohnstraße. So trainierten wir das Schlafen unter freiem Himmel, was für den anschließenden langen Treck recht nützlich war. All diese Scharen unfreiwilliger Auswanderer hat man im Fernsehen oft genug gezeigt, jetzt also der Sprung zu einem brandenburgischen Ort, an den es uns nach mehreren Zwischenaufenthalten verschlagen hatte. Meinem Vater war es gelungen, Sibirien zu überleben, wir hatten ihn wieder bei uns. Wie ist man mit alldem fertig geworden? Per Lied, oft gesungen im Schulchor von Dahme/Mark, klang das so: »Die Asche fiel wie ein Regen/ schwarz quoll gen Himmel der Krieg/ und ohne Ziel allerwegen trieb flüchtendes Elend und schwieg./ Da schwieg auch der Herr General/ Feldwebel, Hauptmann, Stabsoffizier/ da der Führer dies Deutschland zu Grab befahl/ kommandieren wir. Wir Menschen, wir von verderbten Henkern zum Tode bestellt/ Wir Arbeiter, Bauern ererbten/ die grimmigste Erbschaft der Welt …« Autor: Kurt Bariel. Ja, wir trugen das immer mal wieder vor wechselndem Publikum vor, wohlgesetzte, wohlgesungene Worte, sehr anrührend und doch auch falsch. Die verderbten Henker wurden von einer Volksmehrheit gewählt, Kommunisten, Sozialisten und Gewerkschafter eingesperrt, in vielen Fällen gleich getötet. Das braune Gesindel war ja nicht vom Himmel gefallen oder, besser gesagt, aus der Hölle entsprungen, Deutsche brachten es an die Macht. Unversehens steht mir eine Szene vor Augen, die wir bei den Besuchen von Karola Bloch, der temperamentvollen in Polen geborenen Ehefrau von Ernst Bloch, gelernte Architektin und später auch tätig als Autorin, hier bei uns im Hochtaunus oft erlebten, sie resümierte: »Ob Männer, Frauen oder Jugendliche im Dritten Reich, die kriegten doch vor lauter Hitler-Begeisterung den rechten Arm gar nicht mehr runter, ein Wunder, daß der ihnen nicht für ewig erigierte.«

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