Sonntag, 10. Mai 2015

Aufbruch in den Frieden (Heinrich Hannover)

Am 8. Mai 1945 gab ich bei einem amerikanischen Posten in Karlsbad meine Waffen ab. Ich gehörte zu einer endlosen Kolonne deutscher Soldaten und Zivilisten, die durch die nördliche Tschechoslowakei vor den »Russen« flüchtete. Daß ich dabei war, verdankte ich einer Granatsplitterverletzung, die mich einige Tage zuvor außer Gefecht gesetzt hatte. Wir sollten über eine Wiese stürmen und am jenseitigen Waldrand stehende Panzer in Richtung Moskau vertreiben. Denn wir neunzehnjährige Jungen sollten ja noch den Endsieg erringen. Wir hatten nur eine einzige panzerbrechende Waffe, einen erbeuteten russischen Granatwerfer, mit dem einem Kameraden ein Zufallstreffer gelang. Ein Panzer ging in Flammen auf. Wir jubelten. Mir wurde erst später bewußt, daß wir über den Tod von Menschen gejubelt hatten, die in dem Panzer verbrannten. Dann wurden wir beschossen. Eine Granate explodierte in meiner Nähe und tötete einen neben mir laufenden Kameraden. Ich kriegte nur einen Granatsplitter ab, der noch heute dicht neben der Wirbelsäule steckt. Auf der Fahrt zum Verbandsplatz geriet der Sanitätskraftwagen, in dem ich transportiert wurde, unter Granatwerferbeschuß. Der Fahrer und der Beifahrer flüchteten in den Keller eines Hauses, nachdem sie den Wagen, in dem ich bewegungsunfähig auf der Bahre liegenblieb, an der Hauswand abgestellt hatten. Unvergessen ist die Todesangst, als Granatsplitter das Blech des Wagens durchschlugen und eine Granate in das Haus einschlug und Mauerschotter auf das Dach des Fahrzeugs prasselte. Aber ich hatte Glück. Ich kam ohne weitere Verletzungen davon und erreichte den Verbandsplatz. Dort zog mir ein junger Arzt Kleiderfetzen aus der Wunde und sorgte dafür, daß ich in die nach Westen strömende Menschenherde aufgenommen wurde. Ich kam in ein riesiges Gefangenenlager auf dem Flugplatz von Eger, wo Kompanien gebildet wurden, die Tage und Nächte unter freiem Himmel herumlagen. Von den Amerikanern hatten wir keine Ernährung zu erwarten. Wir erfuhren, daß wir nicht Kriegsgefangene seien, sondern »entwaffnete Deutsche«, deren Ernährung in der Haager Landkriegsordnung nicht vorgesehen war. Ich hatte das Pech, einer Kompanie zugeteilt zu werden, die nicht über Lebensmittelvorräte verfügte. Um zu überleben, mußte ich das in der konkreten Situation nicht ungefährliche Handwerk des Diebstahls erlernen. Mit zwei anderen Gefangenen bildete ich eine kriminelle Vereinigung, die durch nächtliche Diebeszüge im Lager für die Verpflegung des nächsten Tages sorgte. Das waren noch zwei schlimme Wochen. Zu meinem Glück gehörte ich dann zu den ersten, die in die Freiheit entlassen wurden. Ich hatte als Wohnsitz nicht meinen in der sowjetischen Besatzungszone liegenden Heimatort Anklam angegeben, sondern die Adresse von Verwandten in Kassel, das in der amerikanischen Zone lag. So wurde ich am 22. Mai 1945 mit weiteren 49 Gefangenen auf einen amerikanischen Militärlastwagen geladen, auf dem wir dann eng stehend die zwölfstündige Fahrt nach Kassel überstanden. Mitten in der Nacht kamen wir dort an und wurden vor dem zentral gelegenen Rathaus ausgeladen, wo ich einige Stunden auf die erste Straßenbahn wartete. Am Morgen fuhr ich dann in Richtung des Stadtteils Brasselsberg. Ich war der einzige Soldat in dem Wagen, mit schmutziger Wehrmachtsuniform bekleidet. Einziges Gepäck war ein Beutel mit ein paar Habseligkeiten. Da die Unterwäsche seit Wochen nicht mehr gewechselt oder gewaschen werden konnte und Körperpflege im Gefangenenlager kaum möglich war, werde ich wohl gestunken haben wie der als »alter Fritz« popularisierte König von Preußen. Aber ich gewann trotzdem das allgemeine Interesse und die Sympathien der mitfahrenden Zivilisten. Irgendjemand bezahlte meinen Fahrschein. Man wollte wissen, ob jetzt alle Soldaten nach Hause kämen. Eine Frau zeigte mir ein Foto ihres Sohnes in Wehrmachtsuniform und fragte, ob ich zufällig etwas von ihm wüßte. Man interessierte sich dafür, wo meine Eltern seien. Ich nannte meine Heimatstadt Anklam und hörte, daß ich jetzt wegen der militärisch bewachten Zonengrenze nicht dort hinfahren könne und daß es weder Post- noch Telefonverbindung zwischen den Besatzungszonen gebe. Ich äußerte die Hoffnung, daß meine Eltern das Kriegsende überlebt hätten. Daß sie einige Tage nach der von der Roten Armee erkämpften Einnahme der Stadt, ebenso wie etwa 600 weitere Anklamer, durch Freitod aus dem Leben geschieden waren, sollte ich erst vier Monate später erfahren, nachdem die Postverbindung zwischen den Besatzungszonen möglich geworden war. Eine Frau wünschte mir, daß meine Kasseler Verwandten den Bombenkrieg überlebt hätten, gab mir aber für den Fall, daß ich sie nicht lebend antreffen sollte, ihre Adresse, wo sie mich aufnehmen würde. Ich fand das Haus meiner Verwandten unbeschädigt vor und sah meine Tante am Fenster. Ihr freudiges Winken galt aber einem anderen, mit dem sie mich zunächst verwechselte. Der erwartete Sohn des Hauses, mein Vetter, war, wie sich bald herausstellte, noch in den letzten Kriegstagen umgekommen. Ich spürte, daß ich der falsche Heimkehrer war. Doch für mich begann ein neues Leben. Es gab wenig zu essen, man war als junger Mensch dauernd hungrig, aber daß Krieg und Naziherrschaft vorbei waren und daß ich alles überlebt hatte, brachte ein unbeschreibliches Glücksgefühl hervor. Und ich war voller Hoffnung, daß der Ruf »Nie wieder Krieg! Nie wieder Faschismus!« für alle Zeiten gültig bleiben würde.

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