Sonntag, 10. Mai 2015

Am Apfelbaum (Monika Köhler)

Berlin 1945. Ich war vier, da sind die Erinnerungen lückenhaft. Bombenangriffe, Bunker. Ein Vers meines Vaters: »Stulle ohne Fett / marsch ins Bett / Popo kaum warm / Fliegeralarm«. Unser Bunker war unter dem von den Nazis gebauten Arbeitsamtskoloß nahe dem Alexanderplatz. War der Bunker überfüllt, boten die weitverzweigten U-Bahn-Tunnel Schutz. Die blaßgrünen Fliesen kenne ich genau – auch den ganz besonderen Geruch: muffig, erdig. Heute ist er verschwunden, wie so vieles. Auch unser Haus und die Kleine Frankfurter Straße, alles weg. Auf einer Karte von 1848 waren an beiden Enden der Straße Barrikaden eingezeichnet. Heute erinnert nichts mehr an den Ort, nur der U-Bahn-Eingang Schillingstraße. Auch der Block gegenüber, weggebombt. Kleine Fotos zeigen mich mit Baskenmütze auf dem Dreirad vor den Häusern. Es kam vor, daß da, wo wir vorher zum Bunker gelaufen waren, bei der Rückkehr ein Krater klaffte. Das Glück, parterre zu wohnen, wir lernten es kennen. Oben alles ausgebrannt – Möbel raus, Möbel wieder rein. Der Küchenschrank hatte Gewehr-Einschüsse – wir waren im Keller. Der April war quälend, zwei Wochen im Hauskeller eingesperrt. Es gab Schlimmeres. Ich wollte unbedingt erkunden, was draußen los war. Drinnen: Feldbetten, übereinander, die anderen Kinder alle krank. Haferschleimsuppe. Dann zu meiner Oma, sehen, ob sie noch da ist. Sie wohnte nordwestlich vom Alexanderplatz in der Fehrbelliner Straße. Immer wieder der Weg dorthin und zurück. Oma ging mit mir gern da entlang, wo die Russen kampierten. Hier gab es Pferdchen und Panjewagen. Und für mich hatten die Rotarmisten Kekse. Ich weiß nicht, war es die Münz- und Alexanderstraße oder die Hirtenstraße? Auf dem Alex lagen erschossene deutsche Soldaten. Ihnen waren am nächsten Tag die Stiefel ausgezogen worden. Diese Entdeckung war für mich wichtiger, als daß da Tote lagen. Irgendwann, erzählte meine Mutter, hätte ich in der Straßenbahn zu einem SA-Mann »Affe« gesagt. Hat er wohl nicht gehört. 1944, nach Merzdorf (heute Marcinów) evakuiert, kam ich aus dem Kindergarten zu dem Bauernhof, wo wir lebten, und grüßte meine entsetzte Mutter mit »Heil Hitler«. Nur Nazitanten dort. Schutthaufen und wieder ein Geruch: verbrannt und staubig. Ich spielte in den Trümmern. Im April 1959 wurde an unserer Ecke Kleine Frankfurter/Stalin-allee eine 10-Zenter-Bombe bei Ausschachtarbeiten entdeckt. Alles, was wie Metall aussah, hatte ich nie angefaßt, es hätte ja explodieren können. Einer Mitschülerin wurde später eine Hand abgerissen – in Lichterfelde, wo wir im Juni 1945 hinzogen. Dort, wo ein winziges Stückchen Erde für Tomaten, Bohnen, Kohl (Raupen absuchen) urbar gemacht wurde. Der Krieg hat mich nicht traumatisiert. Aber beim ersten Feuerwerk im Frieden überfiel mich die Angst. Oma wollte beruhigen, zeigen, wie schön das doch ist. Ich zerrte sie weg. Der Krieg war wieder da. Kurz vor Kriegsende wohnte bei uns (eineinhalb Zimmer) ein ehemaliger KZ-Häftling. Im Spanischen Bürgerkrieg war er gegen die Faschisten aktiv gewesen und hatte dann nach Mexiko gewollt, das er kannte. Dabei war er geschnappt worden. Er stand eines Tages auf dem Hof hinter dem Haus, wo er Aufräumarbeiten leisten mußte (eine Ford-Niederlassung war dort). Meine Mutter hatte Mitleid mit dem so ganz verloren Dastehenden und ließ ihn bei uns wohnen. Für mich war er »Onkel Bügelchen«, er hieß Büge, Emil (Emilio) und war meiner Erinnerung nach Zeichner, Karikaturist. Eine damals bei uns noch fast unbekannte Mickey Mouse auf meiner Schürze – von ihm. Es gibt ein Buch, das unter anderem vom KZ Sachsenhausen handelt: »Zwölf Jahre Nacht« von Heinrich Lienau, daran arbeitete er mit. Er schenkte es uns später. Ich sollte es nicht lesen, hieß es immer, zu grausam das alles. Emil Büge schrieb eine Widmung hinein, daß er mit uns ganz frei über die NS-Zeit habe sprechen können noch vor dem Kriegsende. Wohl Anfang der fünfziger Jahre fuhr mein Vater mit dem Motorrad nach Donauwörth, um ihn zu besuchen. Er fand ihn nicht mehr. Nachbarn berichteten, er habe sich im Garten an einem Apfelbaum erhängt. Anmerkung der Redaktion: Emil Büge war 60 Jahre alt und KZ-bedingt krank, als er sich 1950 das Leben nahm. Zuvor hatte das Bayerische Versorgungsamt dem Reklamefachmann den Status als politisch Verfolgter aberkannt und die damit verbundene Rente entzogen; acht Jahre später wurde ihm der Verfolgtenstatus postum wieder zuerkannt (RBB-Kulturradio, »Kulturtermin«, 3.7.2013). Die Deutsche Nationalbibliothek führt Büge als Schriftsteller und hält fest, daß er von 1939 bis 1943 im KZ Sachsenhausen inhaftiert war. Seine KZ-Aufzeichnungen sind 2010 unter dem Titel »1470 KZ-Geheimnisse. Heimliche Aufzeichnungen aus der Politischen Abteilung des KZ Sachsenhausen, Dezember 1939 bis April 1943« erschienen.

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