Sonntag, 10. Mai 2015
Todesstrafe für mich (Otto Köhler)
Ich kriegte den Mund nicht voll: die knusprigen Krokantriegel, der duftende Kaugummi und die süße Schokolade, unvergleichbar mit den bräunlichen Dosen voll bitterem Zeug, das Hitlers Militärs munter zum Morden machte. Unvergleichbar mit Scho-ka-kola. In Wolfgang Staudtes Film »Rosen für den Staatsanwalt« wird ein Soldat zum Tode verurteilt, weil er zwei Dosen Scho-ka-kola gestohlen habe. Nun also auch ich wegen allerdings viel besserer Süßigkeiten?
Am Morgen hatte mich – und andere Jungs – der Dorfpolizist abgeholt und zum Tatort gebracht. Dort, vor dem Bahnhof, standen US-Jeeps. Aus den unverschlossenen Handschuhfächern hatten wir immer wieder die lang entbehrten Köstlichkeiten gestohlen. Im Bahnhof wurden wir einem elegant uniformierten US-Offizier mit einer – so will es meine Erinnerung – Reitpeitsche vorgeführt. Er herrschte uns an: Wir hätten Heereseigentum geplündert. Darauf, verkündete er, steht die Todesstrafe. Dann Schweigen.
Er musterte uns, lächelte er? Und verkündete das Urteil: Das sollten wir nie wieder tun, sonst! Und jetzt ab nach Hause. Das Kriegsende erlebte ich – wie Wikipedia weiß – »als sog. Pimpf des Deutschen Jungvolks« in einem kleinen Dorf bei Bad Kissingen. 1943, nach den ersten beiden Luftangriffen auf Schweinfurt, waren meine Mutter und ich nach Euerdorf evakuiert worden. In Hitlers Jungvolk, in der HJ war ich nie. Im Januar 1945 wurde ich zehn. Da war es Pflicht, Mitglied der HJ zu werden. Ich drückte mich – wehleidig, weil ich gehört hatte, daß die HJ-Führer mit ihren Lederhandschuhen brutal auf die Neulinge einschlugen. Aber dem Führer blieb ich treu.
Meine Eltern waren nicht in der Partei: katholisches Milieu. Zu jedem Christfest lag für mich unter dem Weihnachtsbaum ein Paket mit Soldaten aus Bakelit. Kaum war »Freue dich, freue dich, o Christenheit!« von »O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!« verklungen, da führte ich auf dem Fußboden unter dem Christbaum und seinen Engelchen mit meinen Neuzugängen Krieg gegen alle Feinde Deutschlands, ein unaufhörlicher Siegeslauf.
Aber dann im April 1945 marschierte der Feind ein, voran eine gebückte Gestalt, lauernd mit dem Gewehr in der Hand – ein Komantsche mit Helm statt Federschmuck, analysierte ich; denn zu meinem Bildungsschatz gehörte neben den Heften aus der Kriegsbibliothek der Deutschen Wehrmacht – viele ihrer Autoren begegneten mir in der BRD wieder als Chefredakteure großer Blätter – auch das Schrifttum von Karl May. Daß unsere Wehrmacht so einfach verschwinden konnte, ließ mich doch etwas verzweifeln.
Irgendwann in den Wochen danach balancierte ich mit einem alten Parteimitglied über die Trümmer der Brücke, die man in letzter Minute zu unserem Schutz vor den Amis gesprengt hatte (die kamen aber von unserer Seite der Fränkischen Saale). »Dieser Verbrecher«, murmelte der Nazi an meiner Seite. Mir wurde schnell klar: Dieser Verräter meinte den Führer. Ich war empört.
Und überglücklich, als mir bald darauf ein Schulfreund heimlich die Bibel seines Vaters, eines noch nicht wieder aufgetauchten Polizeioffiziers, zusteckte: »Mein Kampf«. Unter dem Schlußwort – »Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muß eines Tages zum Herrn der Erde werden« – die handschriftliche Eintragung: »13.12.1943 besuchte ich die Führer-Zelle Festung Landsberg. G.L.«
Erst zwei Jahre nach Hitlers Tod gelang meine Menschwerdung unter dem Einfluß des Amerikahauses (s. Ossietzky 1/2015) und eines Studienrates am Progymnasium im nahen Hammelburg. Dort, wo heute die Bundeswehr – in zeitgemäßer Form – den neuen Anlauf nimmt.
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