Sonntag, 10. Mai 2015
Befreiung im Moor (Horst Schäfer)
Abenteuerlust war sicher auch dabei, als wir uns abends aus der Wohnung schlichen. Ich zählte 14, mein Bruder 10 Jahre. Doch die Angst kam bald nach der Flucht: Da gab es Raketen, Bombenabwürfe, das Erdloch im Moor. Dann war unüberhörbar, daß unser Familienversteck zwischen den Fronten von Naziwehrmacht und britischen Truppen lag. Das alles passierte in den 20 Tagen, nachdem mich am Ostersonntag 1945 ein langes Tuscheln im Flur geweckt hatte und ich zum Horcher an der Tür geworden war.
Vater bestätigte die erregende Vermutung: Unsere Mutter war nach fast drei Jahren Haft wieder frei. Obwohl: Richtig frei war sie nicht, sondern nur wieder da, in unserer Kleinstadt nahe Bremen. In einer mutigen Flucht am Gründonnerstag aus dem Travelager in Schlutup, einem Außenlager des Frauenzuchthauses Lübeck-Lauerhof, hatte sie sich in drei Tagen – Feiertage und Kriegswirren nutzend – die 200 Kilometer bis Verden durchgeschlagen.
Mehrere Tage versteckte sie sich jede Nacht in einem anderen Quartier. Niemand traute sich, ihr länger Unterschlupf zu geben. Dann erfuhren wir: Die Polizei wartete schon auf die »getürmte Kommunistin Berta Schäfer«. Auch die Tieffliegerangriffe und die Kontrollen, ob alle im Luftschutzraum waren, wurden zu einem Sicherheitsrisiko für Mutter. Dazu kam die Einberufung des Vaters zum Volkssturm. All das machte eine Entscheidung notwendig. Es blieb nur ein riskanter Ausweg: die gemeinsame Flucht aus Verden.
*
An die Verhaftung meiner Mutter am 2. Oktober 1942 durch die Geheimpolizei kann ich mich gut erinnern. Das laute »Aufmachen – Gestapo« hat sich tief eingegraben in mein Gedächtnis. Es sollte angeblich nur eine »kurze Vernehmung« werden. Nach Stunden schließlich forschte Vater nach. Wir Kinder hingen am Fenster und bangten. Als er wieder auftauchte und schon von weitem mit gekreuzten Handgelenken die Inhaftierung andeutete, war die Hoffnung passé.
Am nächsten Tag lief ein etwas schlaksiger Junge mit seinem kleinen Bruder Hand in Hand durch die Stifthofstraße, vorbei an der Hinterfront des Gefängnisses. Sie riefen in mehr oder weniger melodischem Sprechgesang – Vaters Idee folgend – immer wieder »Mami, Mami«. Diese erste »Demonstration« unseres Lebens hatte Erfolg: Aus einem der vergitterten Zellenfenster antworteten die Stimme der Mutter und heftiges Winken.
Ein Sondergericht verurteilte Berta Schäfer wegen »Rundfunkverbrechen« (»Abhören feindlicher Sender und Zersetzung des wehrhaften Willens des Deutschen Volkes durch Weitergeben dieser Nachrichten«) zur Höchststrafe von fünf Jahren Zuchthaus und zehn Jahren Ehrverlust. Strafverschärfend werteten die Nazi-Juristen den illegalen Widerstand meiner Mutter und ihrer KPD-Gruppe gegen die Faschisten 1933 und 1934. Wegen der Weigerung, ihre Genossen zu denunzieren, hatte sie 1933 einige Wochen in »Schutzhaft« gesessen. 1934 folgten 16 Monate Gefängnis wegen »Vorbereitung zum Hochverrat«. Mein gerade geborener Bruder blieb die ganze Zeit mit der Mutter hinter Gittern, während ich mit knapp vier Wochen davonkam.
Bald nach der Verhaftung 1942 wurde Vater von der Sparkasse entlassen, und der gelernte Bankfachmann war wieder – wie schon von 1933 bis 1938 – arbeitslos. Aber diesmal konnten die Eltern vorsorgen. Mutter hatte eine Bekannte, deren Mann Besitzer eines größeren Metallbetriebes war. Ferdinand Schmidt ließ Vater zum Schweißer ausbilden. Er galt dann wegen »kriegswichtiger Arbeiten« als »u.k.« (unabkömmlich). Mehrere Jahre lang war Vater ein hart arbeitender Alleinerzieher, doch so konnte er verhindern, daß er Soldat wurde und wir Kinder in eine Nazi-Erziehungsanstalt mußten.
Über den Unternehmer kam sogar illegale Post, die Mutter aus dem Lager schmuggeln konnte. Diese Briefe führten uns dann auf eine »Urlaubsreise« über das im August 1943 nach Luftangriffen brennende Hamburg an die Ostsee. Heimliches Ziel aber war Lübeck-Schlutup, wo in einer bestimmten Straße zu einer bestimmten Zeit Marschkolonnen von jeweils etwa 150 Frauen unter starker Bewachung auf dem Weg zwischen Travelager und Fabrik vorbeikamen. Dort standen wir dann, ein großer und zwei kleine Männer, und winkten unserer Liebsten vorsichtig mit kaum merkbaren Bewegungen der Fingerspitzen zu ...
Damals wußten wir nicht, wohin man Mutter trieb. Zusammen mit tausenden Häftlingen und Zwangsarbeiterinnen aus nahezu allen okkupierten Staaten wurde sie von einem der größten Rüstungskonzerne, der Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken AG (DWM), als Dreherin ausgebeutet. Die DWM gehörte vor 1933, während des Faschismus und in der Bundesrepublik zum Familienimperium der Quandts, denen heute unter anderem große Anteile von BMW gehören. Wieviel hat meine Mutter in Jahren der Sklavenarbeit zu Quandts Vermögen beigetragen? Und wie viele Millionen hat Quandt an den mehr als 50.000 Zwangsbeschäftigten allein in den DWM verdient?
Auf der Rückfahrt nach Verden loderten in Hamburg noch Feuer. Ich hatte dazu eigene Gedanken. Immer wenn die riesigen Bomberpulks vorbeiflogen, sah ich in ihnen Helfer bei Mutters Befreiung aus dem Lager. An das Leid der unschuldig Bombardierten dachte ich nicht. In der Luke auf dem Dach unseres Wohnhauses erwartete ich die Bomber mit einem Hochgefühl.
Die gleiche Begeisterung empfand ich als 12jähriger Anfang Februar 1943 beim Fall von Stalingrad. Es gab erregte Diskussionen mit Mitschülern auf dem Pausenhof des Domgymnasiums. Stalingrad spielte in Verden eine besondere Rolle, weil alle General Walther von Seydlitz kannten, der hier wohnte. Seydlitz hatte mit Generalfeldmarschall Paulus in Stalingrad kapituliert, arbeitete dann im Nationalkomitee Freies Deutschland mit und wurde deshalb in Nazi-Deutschland zum Tode verurteilt; seine Familie stand seitdem unter Hausarrest.
Das, was die Frau des Generals und ihre Töchter dann an Diskriminierungen, Ausgrenzung und Beschimpfungen erlebten, war mir vertraut. Ich wurde zwar nicht »Vaterlandsverräter« gerufen, aber »Kittchenhocker« und »Kommunistenbalg«. Zu diesem Teil meines Lebens gehörte auch unsere Nachbarin Frau B. Sie liebte es, mich im Treppenhaus mit »Heil Hitler« zu begrüßen, und quittierte mein »Guten Tag« – wenn ich nicht entwischen konnte – mit einer Ohrfeige.
Nach dem kriegsentscheidenden Sieg der Sowjetarmee in Stalingrad waren solche Vorfälle für mich leichter zu ertragen. Oft flüchtete ich nach den Demütigungen vor eine Europakarte, die mein Vater an die Wand gepinnt hatte und die mit bunten Stecknadeln den ungefähren Frontverlauf zeigte. War das herrlich, wenn wieder eine Nadel näher in Richtung Berlin gerückt werden konnte.
*
Die überstürzte nächtliche Flucht Anfang April 1945 aus Verden gelang – mit Zelt, Decken und Lebensmitteln auf dem Fahrrad. Am Stadtrand konnten wir endlich Mutter umarmen. Ihr merkte man die Strapazen der langen Haft und der Flucht aus dem Lager bei jedem Schritt an. Wir kamen nur langsam voran, marschierten aus Sicherheitsgründen nachts und versteckten uns am Tage.
Gleich am ersten Tag passierte Unerhörtes: Die Erde begann zu beben, Explosionen folgten. Vater brachte die verwirrende Nachricht, daß wenige Kilometer vor uns eine oder mehrere Raketen abgeschossen worden seien. Stundenlange Strategiedebatten der Eltern über die weitere Fluchtrichtung verzögerten den Aufbruch. Dann plötzlich Fluglärm, erneut Feuerbälle, zahlreiche schwere Detonationen, und zwar dort, wo viele Stunden zuvor die Raketen gestartet waren. Erst später erfuhren wir: Etwa zwei Kilometer vor uns war eine mobile Abschußbasis für V2-Raketen stationiert, die dann von britischen Bombern angegriffen wurde. Besonders irrwitzig: Die V2-Abschüsse waren Testflüge in die Nordsee vor Dänemark, um an der »Wunderwaffe« ein neues Leitwerk mit besserer Trefferquote auszuprobieren – und das wenige Tage vor Kriegende.
Eine geänderte Fluchtrichtung führte uns ins Verdener Moor. In einer dicht bewachsenen und schwer zugänglichen Schonung bauten wir ein Erdloch, unsere Wohnung für etwa anderthalb Wochen. Nach einigen Tagen mußten Lebensmittel besorgt werden. Mutter schien zu schwach und war am meisten gefährdet, auch Vater wurde vielleicht gesucht. Also zogen wir zwei Jungs aus, um bei einem etwa einen Kilometer entfernten Bauern unser Glück zu versuchen. Aber wir brachten immer nur Eier zurück. Mehr konnten wir dem Bauern nicht abschwatzen. Der unangenehme Nachgeschmack von zu vielen Eiern im Magen ist für mich eng mit der Zeit im Moor verbunden.
Doch dann verging uns für fast zwei Tage der Hunger: Deutsche Kommandos auf der einen Seite der Schonung und wenig später britische Laute und Spatengeklapper auf der anderen – wir waren zwischen die Fronten geraten. Salven aus Maschinengewehren zischelten durch die Schonung, trafen manchmal Bäume und produzierten Querschläger. Selbst die Eltern konnten ihre Angst nicht mehr verbergen. Erst nachdem über Stunden kein Laut mehr zu hören war, trauten wir uns aus der Deckung. Die Engländer hatten etwa 100 Meter entfernt einen Schützengraben ausgehoben. Dort fanden wir unvorstellbare Schätze: zweieinhalb Dosen Corned Beef, mehrere Tüten Kartoffelchips und eine Art Knäckebrot! Wir wähnten uns im Schlaraffenland.
Am 20. April kehrten wir in die gerade von britischen Truppen befreite Stadt zurück. Für uns vier hatte sich ein Traum erfüllt: Die Mutter nach Jahren schlimmer Verfolgungen wieder da, Polizei und Gestapo geflüchtet, die langjährige faschistische Tyrannei schien beendet. Auch der 14jährige war glücklich: Keine Angstträume mehr um die Mutter, keine V2-Raketen, keine Demütigungen durch Lehrer, Mitschüler oder Straßenpassanten – und endlich auch Schluß mit Frau B.s Ohrfeigen.
Daß Berta Schäfer, die dem ersten niedersächsischen Landtag 1946 angehörte, bald viele Jahre um ihre Entschädigung und ihre Rente als Naziverfolgte sowie gegen Polizei- und Justizwillkür streiten mußte, nur weil sie Kommunistin blieb und Mitglied der verbotenen Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft war, ist dann eine andere Geschichte.
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