1968 fand in Mexiko nicht nur ein
gesellschaftlicher Aufbruch statt. In dem Jahr begann auch
eine Form der staatlichen Repression oppositioneller
Bewegungen, die bis in die Gegenwart angewandt wird.
jungle.world v. 30.12.2017
https://jungle.world/artikel/2017/51/tlatelolco-wirkt-nach
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Die Olympischen Spiele fanden 1968 in Mexiko statt. In dem
Land gilt jedoch keineswegs die triumphierende und
widerständige »Black Power«-Geste der beiden schwarzen
Athleten und Medaillengewinner Tommie Smith und John Wesley
Carlos als das wichtigste Ereignis des Jahres, ebenso wenig
wie die Solidarisierung des weißen Sprinters Peter Norman mit
diesen. Vielmehr wird mehrere Jahrzehnte danach jeden 2.
Oktober des staatlich geplanten und von der Armee verübten
Massakers an protestierenden Studierenden im Stadtteil
Tlatelolco in Mexiko-Stadt gedacht. Vollständig aufgeklärt
wurden die Ereignisse nicht, weswegen die Angaben zu den
Opferzahlen von 20 (so die mexikanische Regierung) bis 300 (so
die britische BBC) variieren.
Wie in anderen Ländern häuften sich 1968 in Mexiko Proteste
dissidenter Bewegungen. Diese forderten politische Rechte,
eine Demokratisierung und Liberalisierung der Gesellschaft,
höhere Löhne und eine konsequentere Landreform zugunsten
Millionen landloser Bäuerinnen und Bauern. Die studentischen
Proteste wurden stärker, je näher die Olympischen Spiele
rückten.
»Wir wussten, dass irgendwann etwas Schreckliches passieren
würde«, berichtet fast ein halbes Jahrhundert später Gloria
Luz Rascón Martínez der Jungle World. Die 71jährige
Psychologin und Butoh-Tänzerin konnte an der Demonstration
auf dem Platz der Drei Kulturen im Stadtteil Tlatelolco nicht
teilnehmen. Sie traf sich stattdessen mit Gleichgesinnten, um
über einen möglichen Einfall der Armee auf das Gelände der
Nationalen Autonomen Universität Mexikos (UNAM) zu
diskutieren. Die Armee hatte zwei Wochen zuvor schon einmal
das Autonomierecht der Universität verletzt. Am Nachmittag des
2. Oktober seien Informationen über die Geschehnisse nur
zeitlich verzögert, verzerrt und unvollständig eingetroffen,
erinnert sich Rascón: »Wir alle bekamen Panik. Wir versteckten
uns.«
Paramilitärs, Soldaten und Studenten
Perfide inszeniert feuerte die paramilitärische Truppe
Olympia-Bataillon vom Wohngebäude Chihuahua aus auf die
Soldaten, die den Studierenden gegenüberstanden. Diese
erwiderten das Feuer, schossen aber wahllos in die
protestierende Menge. Die staatliche Maschinerie funktionierte
gut. Am folgenden Tag verteidigten die Medien unisono das
harsche Vorgehen des Staatspräsidenten Gustavo Díaz Ordaz: Er
sei regelrecht dazu gezwungen worden. Die unsichere Situation
so knapp vor den Olympischen Spielen habe es ihm abverlangt.
Die Studierenden wurden inmitten des internationalen
antikommunistischen Kampfes zum gesellschaftlichen Feindbild
erklärt.
Staat, Regierung und viele organisierte gesellschaftliche
Sektoren dominierte damals – und noch weitere Jahrzehnte lang
– die Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI). Diese
sah sich als Verkörperung des Erbes der Mexikanischen
Revolution der Jahre 1910 bis 1917. Zeitweise war der PRI die
größte Massenorganisation der westlichen Hemisphäre: 1985
zählte sie über 15 Millionen Mitglieder – die Hälfte aller
Wahlberechtigten Mexikos. Nicht wenige Mitgliedschaften wurden
erzwungen oder waren den Betroffenen unbekannt.
Schmutzige Krieg gegen linke Guerillagruppen
Luis Echeverría, der Innenminister unter Díaz Ordaz und
spätere Präsident, kündigte 1970 eine »demokratische Öffnung«
an. Sie wurde nur bedingt vollzogen. Stattdessen kam es an
Fronleichnam 1971 in Mexiko-Stadt zu einem erneuten Massaker
an Studierenden. Der gegen linke Guerillagruppen und
Oppositionelle gerichtete sogenannte Schmutzige Krieg – ein
kritisch gemeinter Begriff, der jedoch konventionellen Krieg
für »sauber« erklärt – dauerte bis in die achtziger Jahre an.
Gemeint sind damit systematische Inhaftierungen, unzählige
außergerichtliche Hinrichtungen, Folter und gewaltsames
Verschwindenlassen unter der Verantwortung des mexikanischen
Staats.
In jener Phase kam es zur Gründung mehrerer linksgerichteter
bewaffneter und unbewaffneter klandestiner Organisationen, die
gegen den autoritären Staat kämpften. Für viele junge
Menschen sei damals klar gewesen, dass man »mit der Regierung
keinen Dialog führen kann«, sagt Jorge Gálvez der Jungle
World. Er ist Direktor des Museo de la Memoria Indómita
(Museum der unzähmbaren Erinnerung) und Mitbegründer des
Menschenrechts- und Verschwundenenkomitees Eureka in
Mexiko-Stadt, das sich 1977 gründete. Eureka beziffert die
Zahl der gewaltsam Verschwundenen zur Zeit des »Schmutzigen
Kriegs« auf 557. Von ihnen konnten 148 gefunden werden.
Verantwortliche Staatsdiener von damals sind auch heutzutage
noch in den Medien präsent und politisch tätig. Gálvez
schreibt einem von ihnen eine besondere Schuld zu: Manlio
Fabio Beltrones, der von 2015 bis 2016 Vorsitzender des PRI
war. »Er kennt den Aufenthalt aller unserer Verhafteten und
Verschwundenen, denn das war seine Arbeit. Sein Rang als
Untersekretär der Regierung und Zuständiger für Menschenrechte
veranlasste ihn dazu, alles wissen zu müssen.«
Für Gloria Rascón, deren Sohn Manuel indigene Philosophie an
der UNAM lehrt, war 1968 der Anlass, das individuelle und
gesellschaftliche Leben anders zu gestalten: »Ich wollte mich
niemals einer traditionellen Beziehung unterwerfen, sondern
wollte frei und autonom sein.« Sowohl sie als auch viele
jüngere Menschen begreifen das Massaker von Tlatelolco als
Teil der eigenen Geschichte. Dies betrifft auch die
Studierenden an den ländlichen Lehramtsschulen, die es überall
in Mexiko gibt und die sich damals auf verschiedenste Weise an
den Protesten beteiligten.
Weil viele Studierende aus armen Verhältnissen kommen und die
Schulen selbst nicht über ausreichend Geld verfügen, kaperte
am 26. September 2014 eine Gruppe von Studenten der
Lehramtsschule Raúl Isidro Burgos aus Ayotzinapa in der
Kleinstadt Iguala mehrere Reisebusse. Sie wollten zur
Gedenkveranstaltung am 2. Oktober anlässlich des Massakers von
Tlatelolco in die Hauptstadt fahren und die Busse danach
wieder zurückzugeben – für mexikanische Proteste nicht
ungewöhnlich. Das wurde ihnen zum Verhängnis, und Ayotzinapa
weltweit bekannt: In der Nacht auf den 27. September 2014
wurden in einem konzertierten Vorgehen verschiedener
staatlicher Akteure und des organisierten Verbrechens 43 der
protestierenden Studenten verschleppt und vermutlich ermordet,
sechs weitere Menschen wurden vor Ort erschossen. Seither
kämpfen politische Organisationen mit internationaler
Unterstützung um die vollständige Aufklärung dieses
Verbrechens.
1968: Bruch mit alten Ansätzen
Omar García Velásquez überlebte damals den Angriff und konnte
fliehen. Im Gespräch mit der Jungle World verweist
er auf Parallelen von 1968 und 2014: »Die Repression ist
ähnlich in Bezug auf die Rolle des Staats und die
Streitkräfte. Bei der Suche nach unseren Genossen haben wir
immer auf die mexikanische Armee verwiesen. Nur sie hat die
Infrastruktur, um eine Operation dieses Ausmaßes
durchzuführen.« Aber das Verteidigungsministerium verweigert
eine Untersuchung des bei Iguala stationierten
27. Infanteriebataillons. »Wir glauben, dass der, der nichts
verschuldet hat, nichts zu fürchten hat«, sagt García
Velásquez.
Das Verbrechen von Ayotzinapa reiht sich in eine lange Liste von Verbrechen ein, die nie aufgeklärt wurden und deren Verantwortliche daher auch straffrei bleiben. Vor fast 50 Jahren erklärte sich Präsident Díaz Ordaz öffentlich verantwortlich für das Massaker von Tlatelolco. Verurteilt wurde er nie. Genauso wenig sein damaliger Innenminister Luis Echeverría.
Das Verbrechen von Ayotzinapa reiht sich in eine lange Liste von Verbrechen ein, die nie aufgeklärt wurden und deren Verantwortliche daher auch straffrei bleiben. Vor fast 50 Jahren erklärte sich Präsident Díaz Ordaz öffentlich verantwortlich für das Massaker von Tlatelolco. Verurteilt wurde er nie. Genauso wenig sein damaliger Innenminister Luis Echeverría.
In Mexiko gilt 1968 auch als Bruch mit alten Ansätzen. Die
damaligen Forderungen wurden zwar nicht erfüllt, aber auch
nicht vergessen. Schließlich führte der gesellschaftliche
Aufbruch im Jahr 1983 zur Gründung und 1994 zum bewaffneten
Aufstand einer Organisation, die sich von vorhergehenden
deutlich unterschied: Die Zapatistische Armee der Nationalen
Befreiung (EZLN) veränderte auf nationaler und
internationaler Ebene die politische Szenerie.
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