Sonntag, 21. Januar 2018

Von Schweinefraß und leeren Büros (Heinrich Peuckmann)


1968 habe ich das Abitur in Unna gemacht. Was im Laufe des Jahres an Revolte aus Berlin bis in die Provinz durchschlug, war schon in meiner Schulklasse spürbar. Wir haben alles hinterfragt, mit Leidenschaft diskutiert, am liebsten über Literatur. Unsere Lehrer haben uns nicht gehindert, das kann ich nur loben, sie haben mitgemacht, manche sogar, wie unser Deutschlehrer Schlabach, der selber Hörspiele und Erzählungen schrieb, mit Sympathie.

Schon mit dem Wintersemester 68/69 habe ich an der Ruhruniversität Bochum mein Studium begonnen und dort als erstes das Streiken gelernt. Wir wehrten uns gegen die Verschulung des Studiums, gegen das übertriebene Sammeln von Leistungsscheinen (»Der Student studiert zum Schein«) und wollten Freiräume, um eigene Schwerpunkte zu setzen. Weniger Scheine, weniger Verschulung, das muss man sich angesichts der Bologna-Reformen heute mal vorstellen! Die großen Vollversammlungen, zu denen ich selbstverständlich ging, fanden ein-, zweimal in der Mensa statt, weil die neu errichtete Uni noch kein Audimax hatte. Als Neuling hielt ich mich zurück. Während vorn an einem Tisch die großen Studentenführer saßen – darunter der Anarcho-Syndikalist Hajo, stets besoffen, manchmal eingeschlafen, aber sehr beliebt –, saß ich hinten auf dem Laufband, auf das wir sonst die Tabletts mit dem benutzten Geschirr stellten. Ich verstand erst mit der Zeit die programmatischen Unterschiede der studentischen Gruppierungen, MSB Spartacus, Sozialistischer Studentenbund, Jusos, Anarcho-Syndikalisten … Einmal ging es bei den Streitpunkten auch um die Qualität des Mensaessens. Es gab zwei Gerichte zur Auswahl, A und B, dazu eine Suppe oder einen Eintopf. Die Qualität wurde angezweifelt, für Arbeiterkinder (ich glaube, zehn Prozent der Studenten stammten aus Arbeiterfamilien so wie ich) sei der letzte Mist halt gut genug, wurde geschimpft. Irgendwann fuhr Hajo mit seinem uralten Käfer los zum Bauern in der Nähe, fing dort zwei junge Schweine ein, brachte sie zur Mensa und stellte ihnen die Tagesgerichte vor. Essen A, B und Eintopf. Die Schweine fraßen A und B, woraus die unwiderlegbare Schlussfolgerung gezogen wurde, dass zwei der angebotenen Essen ein Schweinefraß seien und das dritte nicht einmal das. Die Schweine wurden anschließend zu ihrer Wiese zurückgebracht. Haben sie gelitten bei der Aktion? Wohl kaum. Sie haben zwei Autofahrten mitgemacht und bekamen jedes ein Essen, einen Schweinefraß zwar, aber der war ja gerade richtig für sie.

Unvergessen sind mir die Auseinandersetzungen mit dem Soziologen Johannes Papalekas, der in seinen Vorlesungen gelegentlich das griechische Obristenregime verteidigte, also die griechische Diktatur, die erst 1974 gestürzt wurde. Papalekas war der Gegenspieler von Urs Jaeggi, dessen Buch »Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik« wir alle gelesen hatten. Während Jaeggis Seminare und Vorlesungen an unserer Uni rappelvoll waren, verloren sich bei Papalekas immer nur wenige Studenten. Wie ein Lauffeuer ging es dann durch die Uni, wenn er mal wieder die Diktatur verteidigt hatte. Dann rannten wir Studenten zu seinem Büro, ich war inzwischen vom Beobachter zum gelegentlichen Aktivisten aufgestiegen, räumten alle Akten, Stühle und Schreibtische raus und stellten sie auf den Flur. Der Rektor wurde gerufen, er kam sofort: Kurt Biedenkopf, der spätere »König von Sachsen«. Er war ein körperlich kleiner Mann, ich staunte bei unserer ersten Begegnung. Biedenkopf schimpfte nicht, er redete beruhigend auf uns ein. »Meine Damen und Herren, was soll das bringen? Gleich, wenn sie weg sind, muss das Hauspersonal alles wieder einräumen. Ich denke, sie haben ein Herz für die Arbeiterklasse, warum machen sie ihr das Leben also schwerer, als es ohnehin schon ist?«

Ein Argument, das mich verblüffte.

Aber wir setzten unsere Kämpfe fort, auch in den Seminaren, es waren bunte, anregende Zeiten. Vieles davon habe ich mitgenommen ins Leben, auch in meine Zeit als Lehrer. Bürokratische Vorschriften, wenn sie mir nicht einleuchteten, habe ich so gut umschifft, wie ich es konnte. Für Lehrer, die brav alles ausfüllten und umsetzen, was die Behörde vorgab, und die als Dank dafür Schulleiter wurden, hatte ich nie Verständnis. Kritisch zu sein ist Teil meines Lebens geblieben, was denn auch sonst? In meinen Büchern, den Romanen und Gedichten, kann man es, glaube ich, nachlesen. Bin ich auf diese Welt gekommen, um unkritisch wiederzukäuen, was andere vergeben? Mit den Anstößen aus meiner 68er Zeit fing alles an.

Wie kritisch werden Studenten im Jahr 2018, 50 Jahre nach den 68ern, sein?

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