Sonntag, 21. Januar 2018

Die Utopie der offenen Zukunft


Das ideal der geschlossenen Zukunft, also eines Endzustandes der Geschichte mit der idealen Gesellschaft, ist nach Walter Benjamin die inhaltliche Bestimmung des utopischen als schon immanente und in seiner historischen Form gewußte Struktur: "Die Elemente des Endzustandes ... sind als gefährdetste, verrufenste und verlachte Schöpfungen und Gedanken tief in jeder Gegenwart eingebettet. Den immanenten Zustand der Vollkommenheit rein zum absoluten zu gestalten, ihn sichtbar und herrschend in der Gegenwart zu machen, ist die geschichtliche Aufgabe."
Vom "zurück zur Natur" über den Marxismus und die Religionen bis zum Nationalsozialismus beschreibt dieses Zitat die dahinterstehende Ideologie: Der ideale Endzustand ist bekannt, wir müssen ihn nur noch verwirkichen. Nach dem Scheitern aller Utopien - und dies ist die historische Lehre des 20. Jahrhunderts - hätte man es besser wissen können, könnte jeder es besser wissen. Das Problem ist nicht nur, daß all diese schönen Zukünfte in Massenmord und Diktatur endeten, das könnte vielleicht Zufall sein. Das Problem ist, daß die behauptete Kenntnis des letztgültigen Glückszustandes für alle Menschen immer eine innere Tendenz dazu hat, diesen Zustand den Menschen aufzuzwingen - es dient ja nur ihrem wahren Glück.
Von diesen Problemen ganz abgesehen kann man das Wissen um den endgültigen Glückszustand für alle Menschen nur dann haben, wenn man die Wahrheit über Gott, die Welt, die Geschichte und die Menschen kennt. Aber wir wissen (!) heute, daß alles Wissen historisch und kulturell bedingt ist. Jede historische Epoche und jede Kultur hat andere Ideale und Werte und deshalb andere Vorstellungen vom Glück der Menschheit und vom Ende der Geschichte. Abgesehen davon ist die Wahrheit selbst nur noch ein Fragezeichen, auf welches niemand eine Antwort weiß.
Die Alternative ist jedoch auch nicht das Festhalten am gegebenen, denn daß wir auf dem falschen Weg sind und dies durch ökologische Ausdrücke formuliert werden kann - von politischen und wirtschaftlichen Problemen ganz zu schweigen - , ist heute nur noch schwerlich zu bestreiten.
Wenn aber eine inhaltlich festgelegte Utopie unhaltbar geworden ist, weil es sowohl philosophisch als auch historisch unhaltbar geworden ist zu behaupten, daß wir wissen könnten wie eine bessere Welt in Wahrheit aussähe. Wenn außerdem das Festhalten am gegebenen auch unhaltbar geworden ist, weil das "weiter so" in den globalen Kollaps führt, was haben wir dann noch für Alternativen?
Wenn "weiter so" nicht geht muß eine Utopie her, wenn eine inhaltlich festgelegte Utopie nicht geht, muß eine inhaltlich unbestimmte Utopie her. Eine inhaltlich unbestimmte Utopie ist eine Utopie der offenen Zukunft. Aber besagt ein solches Etikett denn mehr, als daß die Zukunft offen sein soll? Wo bleibt das utopische Element?
Zum einen enthält die Vorstellung einer offenen Zukunft schon an sich ein utopisches Element, denn "offene Zukunft" beinhaltet, daß wir eine prinzipielle Offenheit zu immer neuen Lebensentwürfen zu jedem historischen Zeitpunkt anstreben. Das Gegenteil wäre eine Utopie einer geschlossenen oder beendeten Zukunft: alles bleibt wie es ist!
Die offene Zukunft,
also die prinzipielle Offenheit zu immer neuen Lebensentwürfen
zu jedem historischen Zeitpunkt,
ist eine Zukunft für die wir uns entscheiden müssen
und die wir anstreben müssen,
wenn wir sie wollen,
deshalb
und weil sie nicht Gegenwart ist,
ist die offene Zukunft eine Utopie.
Versuchen wir den Entwurf einer offenen Zukunft noch etwas näher zu bestimmen.
Wissen und Wirklichkeit sind durch den handelnden Menschen miteinander verbunden: Durch sein Handeln und die daraus resusltierenden Wirkungen erwirbt er Wissen über die Wirklichkeit. Diese Verbindung von Handeln, Wissen und Wirklichkeit ist nur durch eine Lebensform möglich, die in ihren Lebensentwürfen auf eine offene Zukunft zielt, da es erst für künftige Handlungen möglich ist, sich an Wissen zu orientieren, welches durch Handeln erzielt werden wird. Jeder Wissenszuwachs zeigt uns neue mögliche Handlungen und neue beobachtbare Konsequenzen auf. Dadurch wird einerseits ein Teil des bisherigen Handelns als falsch erkannt, andererseits werden ganz neue Handlungsentwürfe, d.h. ganz neue Bestimmungen der Zukunft, möglich. Wir lernen an der Erfahrung für zukünftig mögliche Lebensformen.
Die uns bekannte Welt ist durch bewußt kontrollierte Handlungen in Richtung auf eine gewollte Zukunft veränderbar. Nicht immer, aber oft genug. Das ist eine für jeden Menschen täglich erfahrbare Tatsache, die vielleicht deshalb oft etwas vernachlässigt wird, weil sie so selbstverständlich ist. Durch jeden bewußt gesetzen und verwirklichten Zweck verändern wir die Welt. Daraus folgt, daß wir unsere Wirklichkeit in wesentlichen Bereichen gemeinsam erzeugen. Kultur, die für Menschen als Menschen wesentliche Wirklichkeit, ist etwas, was Menschen allererst herstellen müssen und tatsächlich herstellten - und wenn wir sie herstellen, sind wir dafür auch verantwortlich. Die Verantwortung liegt in der Wahl eines Zukunftsentwurfs aus mehreren Alternativen und darin, was wir tun um diese Zukunft zu realisieren.
Ein so gewählter Entwurf wird weder vollkommen bestimmt noch vollkommen unbestimmt sein. Einerseits wissen wir nicht genug, andererseits aber doch einiges. Einen solchen Entwurf eines künftigen Seins nennen wir unterbestimmt. Das ist es, was mit offener Zukunft gemeint ist:
eine Zukunft, die in wesentlichen Aspekten festgelegt und
in wesentlichen Aspekten nicht festgelegt ist -
aber keinen Aspekt festlegt,
der ihre weitere Offenheit einschränken würde.
Welche Bedingungen sind Voraussetzung einer Utopie der offenen Zukunft?
  1. Offenheit: Entwürfe müssen kontrolliert so gewählt werden, daß auch in Zukunft freie Entscheidungen über künftige Handlungen möglich sind.
  2. Erkennen: Bedingung 1. ist nur zu erfüllen, wenn es dem Menschen gelingt zu erkennen, unter welchen Bedingungen er so handelt, daß er möglicherweise Bedingung 1. erfüllen könnte.
  3. Vorhersage: Bedingung 2. ist nur zu erfüllen, wenn es dem Menschen gelingt in entscheidenden Fragen Wissen (Wirklichkeit) von Meinung (Unwirklichkeit) zu unterscheiden. Das ist immer dann möglich, wenn er Erfahrungen macht, die ihm ausreichend genaue Vorhersagen über Handlungsfolgen erlauben.
  4. Verständigung: Bedingung 3. ist, weil es hier wesentlich um psychologisches und soziales Wissen geht, nur zu erfüllen, wenn die Menschen verständigungsorientiert und gemeinsam handeln, forschen und erschaffen.
Die Utopie einer offenen Zukunft ist also nur realisierbar durch Erwerb von Wissen, welches ausreichend genaue Vorhersagen über die Konsequenzen von Handlungen macht oder solche abzuleiten erlaubt - und dieses Wissen können wir nur durch gemeinsames verständigungsorientiertes Handeln erwerben.
Das sich daraus ergebende Programm ist:
  • Bewahrung der Freiheit
  • Intensivierung verständigungsorientierten Handelns
  • Gemeinsames Erschaffen der Zukunft.
(Michael D. Eschner)

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